Landnahme in der Mitte Berlins

Wie ein Wirtschaftskrimi: Die kapitalgetriebene Verwertung der Grundstücke am Berliner Hauptbahnhof

Wer den Berliner Hauptbahnhof in nördliche Richtung verlässt, blickt auf die Glasfassaden von Hochhäusern. Schnell erkennt man, dass dort Menschen mit geringen Einkommen höchstens als prekär Beschäftigte zu finden sind. Obwohl in der Mitte Berlins auf einer Fläche von über 40 Hektar hochpreisige Büros und Wohnhäuser entstanden sind, gab es dort kaum Proteste der in Berlin doch ziemlich aktiven Recht-auf-Stadt-Bewegung. „Bemerkenswert an dieser mitten in der Stadt gelegenen Baustelle, deren Fläche doppelt so groß ist wie der Potsdamer Platz, scheint die …

… dröhnende öffentliche Lautlosigkeit zu sein“, schreiben Alexis Hyman Wolff, Achim Lengerer und Yves Mettler in der Einleitung zur aktuellen Ausgabe der Berliner Hefte zur Geschichte und Gegenwart der Stadt.

Wirtschaftsliberaler Hype

Unter dem Titel „Am Rande von EuropaCity“ beschäftigt sich die Publikation mit der Landnahme des Kapitals in der Mitte Berlins. Gleich in der Einleitung wird auf den politischen Hintergrund verwiesen, der das möglich machte: die in den 1990er Jahren in Europa verbreitete wirtschaftsliberale Privatisierungslogik. „In deutschen Städten wurden mit der Privatisierung der Deutschen Bahn viele defunktionalisierte Industrie- und Bahnflächen der Verwertung zugeführt. Die größtenteils privatwirtschaftlich bestimmte Stadtentwicklung verschärft die soziale Krise dieser innerstädtischen Bereiche“, schreiben Wolff, Lengerer und Mettler.

Im folgenden Aufsatz geht Yves Mettler besonders auf den wirtschaftsliberalen Hype im Berlin jener Jahre ein. „2006 verwandelte sich Berlin von einer historischen Hauptstadt, von einem Geheimtipp in eine globale Hauptstadt: einen Knotenpunkt der globalen Ökonomie, Kultur und Politik und damit auch der globalen Investoren“, schreibt er.

Im Dezember 2007 erwarb die CA Immo die lukrativen Grundstücke in der Nähe des Hauptbahnhofs im Bieterverfahren. Bis 2011 wurde das Immobilienunternehmen in Deutschland noch unter dem Namen Vivico geführt. Seine erklärte Aufgabe bestand Mettler zufolge darin, „die Flächen in ausgearbeitete Entwicklungsprojekte zu verpacken, um höhere Gewinne zu erzielen“. So kamen Projekte wie der „Boulevard Heidestraße“ zustande.

Weiter gegen Mensch und Natur 

Wie ein Wirtschaftskrimi liest sich der Bericht über die kapitalgerechte Vermarktung des Areals. Bezahlbare Wohnungen sind dort kaum zu finden. „Die Europacity befindet sich heute in den Händen einer kleinen Gruppe von internationalen Immobiliengesellschaften“, so Mettlers bitteres Fazit.

Die Texte sind trotzdem notwendig, weil die Landnahme des Kapitals gegen Mensch und Natur in Berlin weitergeht. So soll am Gleisdreieck ein Viertel entstehen, das der Europacity ähnelt (Rabe Ralf April 2021, S. 15). Dort gibt es noch Proteste von AnwohnerInnen. Vielleicht kann die Streitschrift dazu beitragen, dass sie erfolgreich sind.

Peter Nowak