Detlef Lehnert / Christina Morina (Hg.) 2020: Friedrich Engels und die Sozialdemokratie. Werke und Wirkungen eines Europäers. Metropol Verlag, Berlin. ISBN: 978-3-86331-554-2. 335 Seiten. 24,00 Euro.

Der sichere Pfad des Reformismus

Auch wenn der Sammelband versucht, Friedrich Engels für die Sozialdemokratie zu vereinnahmen, lohnt sich die Lektüre.

.

Schon lange wollen sozialdemokratische Theoretiker*innen Friedrich Engels zu ihrem geistigen Ahnherrn machen, der im Gegensatz zum vorgeblich utopischen und radikalen Karl Marx auf den sicheren Pfaden des Reformismus geblieben ist. Dafür werden bestimmte Texte herangezogen, die Engels nach dem Tod von Marx verfasst hat. Dort prognostizierte er einen …

… evolutionären Übergang zum Sozialismus in bestimmten Ländern mit längerer parlamentarischer Tradition wie beispielsweise den USA oder Großbritannien. Wie weit die sozialdemokratische Vereinnahmung von Engels geht, zeigte eine Konferenz im November 2021, die unter dem Titel „Friedrich Engels und die Arbeitsfrage“ im Wuppertaler Jobcenter stattfand. Alex Struwe und Finn von Erp nannten diese Konferenz in der Wochenzeitung Jungle World

„Ein Lehrstück über das, was man sozialdemokratische Ideologie nennen kann. Ihr erster Grundsatz lautet, dass die Klassengesellschaft überwunden sei. […] Wenn zwischen Ungleichheit und Ökonomie kein Zusammenhang mehr besteht, dann wird die soziale Frage zu einer der möglichst effektiven Verwaltung.“

Die gar nicht satirisch gemeinte Konferenzparole „Engels, Denker, Macher, Wuppertaler“ zeigt, dass es hier um ein beliebiges Nebeneinander geht, aber nicht um eine politische Kontroverse. 

Engels als Vordenker der EU?

Teil dieser sozialdemokratischen Engels-Vereinnahmung ist auch der im Metropol-Verlag von Detlef Lehnert und Christina Morina herausgegebene Sammelband „Friedrich Engels und die Sozialdemokratie“. Der Untertitel „Werke und Wirkungen eines Europäers“ ist ein Beispiel für eine bemüht wirkende Aktualisierung. Morina und Lehnert ziehen eine Linie vom Heidelberger Programm der SPD von 1925, in dem die Schaffung einer europäischen Wirtschaftseinheit für die Bildung der Vereinigten Staaten von Europa gefordert wurde, zur EU; ohne zu kontextualisieren, dass die Formel von den Vereinten Sozialistischen Staaten von Europa auch von Trotzki oder den Bolschewiki verwendet wurde. 

Wenn Lehnert und Morina ihren umfangreichen Einführungsaufsatz mit einem Zitat von Willi Brandt einleiten, in dem er 1979 zum 150. Geburtstag von Engels bekundet, diesem gegenüber „positiv voreingenommen“ (S. 9) zu sein, muss man schon befürchten, dass hier SPD-Propaganda statt Wissenschaft betrieben wird. Zumal darin auch noch der ehemalige SPD-Politiker Johannes Rau mehrmals zitiert wird, der in seiner Karriere sicherlich nicht als großer Theoretiker hervorgetreten ist. Zudem wird in der Einleitung positiv der US-Historiker Vernon L. Lidtke zitiert, der auf dieser Konferenz sagte: „Was der junge Engels über das Proletariat schrieb, war unmittelbar und lebendig, voll von Fleiß und Blut. Was der junge Marx schrieb, war Theorie und abstraktes Denken“ (S. 14). Da ist wieder die Unterteilung in einen realistischen Engels, der sich gut für Reformkonzepte anbietet und einen utopischen Marx, mit dessen Revolutionskonzepten man keinen Staat machen kann, auch wenn es später viele versuchten und damit scheiterten. 

In den Schlussbetrachtungen ihres Einleitungstextes lassen Morina und Lehnert ihre begründete kritische Distanz zu staatssozialistischen Konzepten gegenüber sozialdemokratischen Praxismodellen vermissen. 

„Und tatsächlich entwickelten Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten in der Praxis mehr Geschick in der wohlorganisiert-routinierten ‚Verwaltung der Sachen‘ als in der ‚Zerschlagung‘ von Herrschaftsorganen oder der ‚Musealisierung‘ feudal- und obrigkeitsstaatlicher Staatlichkeit“ (S. 43).

Das liest sich doch eher wie eine Rechtfertigung dafür, dass die sozialdemokratische Regierung den kapitalistischen Staat verwaltete. Dass die Sozialdemokratie an der Macht den kapitalistischen Staat nicht nur verwaltete, sondern auch mit aller Gewalt gegen linke Räterevolutionär*innen und streikende Arbeiter*innen verteidigen ließ, indem sie die rechten Freikorps bewaffnete, wie nach der Novemberrevolution 1918 in Deutschland, wird dann großzügig übersehen. Wenn Lehnert und Morina Engels zum geistigen Vorgänger von Willy Brandt und dessen Motto „Links und frei“ (S. 46) machen wollen, werden die Bedenken, eine SPD-Geschichte zu schreiben, nicht ausgeräumt. 

Doch trotz dieser Kritik sind die 13 Aufsätze des Buches größtenteils lesenswert. Sie sind in die drei Kapitel „Ursprünge, Grundlagen und Analysen“, „Kooperation und praktische Praxiskontexte“ und „Theoriefragen, Fortschreibungen und Rezeptionslinien“ aufgeteilt. Dass es sich überwiegend nicht um ein plattes Nachbeten von sozialdemokratischer Programmatik handelt, liegt daran, dass einige Autor*innen als kritische Linke positiv aufgefallen sind. Dazu gehört der in Leipzig lehrende Historiker Jan Gerber, der durch ideologiekritische Texte und Beiträge zur Antisemitismusforschung bekannt geworden ist. In seinen Buchbeitrag weist er alle Versuche zurück, zwischen Marx und Engels zu trennen und entweder den einen oder den anderen für spätere Fehlentwicklungen verantwortlich zu machen. Der „wissenschaftliche Sozialismus“, als den Marx und Engels die gemeinsame Theorie gelegentlich bezeichneten, ging „aus einer großen Symbiose des Denkens der beiden Freunde hervor“ (S. 70), betont Gerber. Überzeugend weist er nach, dass erst durch Engels Beschreibungen des Alltags in der Textilstadt Manchester das Proletariat im Marx’schen Denken zur Industriearbeiterschaft wurde. Gerber widerspricht sich aber selbst, wenn er die Hoffnungen auf eine gesellschaftsverändernde Rolle der Arbeiter*innenschaft bei Marx und Engels nach dem Scheitern der Revolution von 1848 schwinden sieht, um dann einige Absätze später aus Texten des späten Engels zu zitieren, der sich schon wegen der großen Zahl der Proletarier*innen Hoffnungen auf ihre schnelle und unblutige Machtübernahme macht. 

Schon Engels wollte Wehretat zustimmen

Der Historiker Peter Steinbach beschäftigt sich mit einigen Schriften von Engels nach dem Scheitern der bürgerlichen Revolution von 1848 und der Herrschaft Bismarcks. Auch er bemüht sich redlich, Engels zum Vorläufer der BRD und ihrer Verfassung zu machen: „Er hatte die Ebenen im Blick, die Ernst-Wolfgang Böckenförde (sozialdemokratischer Verfassungsrechtler, Anm. P.N.) viel später unterschied, als er die nationale, die konstitutionelle und die soziale Frage zur Verfassungsfrage bündelte.“ (S. 104) 

Der Historiker Peter Brandt zerpflückt in seinen Aufsatz „Friedrich Engels und die internationale Politik“ manche Illusionen über die angeblich so antimilitaristische Politik der SPD vor 1914. „‚Es geht um unsere nationale Existenz und auch für uns um die Behauptung der Position und der Zukunftschancen, die wir uns erkämpft haben‘“ (S. 125), zitiert Brandt Engels aus einem Briefwechsel mit dem SPD-Vorsitzenden August Bebel aus dem Jahr 1891. Engels äußert in dieser Korrespondenz die Befürchtung, dass Deutschland bei möglichen Gebietsverlusten an seine Kriegsgegner „die ihm zukommende Rolle in Europa“ (ebd.) nicht mehr spielen könne und es dann einen Revanchekrieg vorbereiten müsse. „Engels erwog 1891 im Schriftwechsel mit Bebel sogar die Möglichkeit ‚eines vorgebrachten Kriegsvorwands‘“ (ebd.). „‚Und mehr noch: Es könne sich die ziemlich fatale Lage ergeben, bei Kriegsgefahr den Heeresetat nicht einfach ablehnen zu können‘“ (S. 136), bereite Engels schon 1891 die Bewilligung der Kriegskredite argumentativ vor. Peter Brandt, Autor unter anderem bei der rechten Wochenzeitung Junge Freiheit und der längst eingegangenen nationalrevolutionären Publikation Wir selbst, sieht diese nationalen Töne bei Engels positiv. Es ist bezeichnend, dass Brandt trotz seiner fehlenden Abgrenzung nach rechts, in einem Buch, das in der Reihe „Historische Demokratieforschung“ herausgegeben wurde, veröffentlichen kann. Man kann aber aus Brandts Aufsatz wichtige Informationen für eine antimilitaristische und antinationale Kritik an der SPD schon vor 1914 finden.

Erinnerung an Moses Hess

Das Buch endet mit einem interessanten Aufsatz von Mario Keßler vom Leibnitz-Institut für Zeithistorische Forschung in Potsdam. Er befasst sich mit dem Verhältnis zwischen Engels und Moses Hess, der zu den frühsozialistischen Denkern gehört und im Zionismus gewürdigt wurde. Nach der ersten Begegnung bei einem Besuch in der Redaktion der Rheinischen Zeitung in Köln im November 1842 klassifizierte Engels Hess als „der erste Kommunist in der Partei“ (S. 317). Während die Begegnung mit Karl Marx eher kühl verlief. Erst 1846 führten unterschiedliche Sozialismusvorstellungen zu Spannungen zwischen Marx und Engels einerseits und Hess, so dass sich deren Wege trennten. Auch später distanzierte sich allerdings Hess nicht vom Bund der Kommunisten und stand bei den Auseinandersetzungen zwischen den Bakunin-Anhänger*innen in der 1. Internationale auf Seiten von Marx und Engels. Dabei verweist Keßler auf antinationale Aspekte im Denken von Hess: 

„Im Gegensatz zu Marx und Engels sah Hess den deutsch-französischen Krieg 1870/71 als reinen Aggressionskrieg Preußens. Nach dessen Sieg warnte er, dieser hässliche Raubvogel, den man in einen kaiserlichen Adler verwandelt hat“, sei das Symbol einer „Rassenherrschaft, die alle Volksfreiheit und nationale Unabhängigkeit töten und Europa um mindestens ein Jahrhundert zurückversetzen würde, wenn die europäischen Völker sich nicht verbinden, um ein für alle Mal einer Nation ein Ende zu machen, die in ihrer Altersschwäche so bösartig ist“ (S. 322).

So lernen wir am Schluss des Buches noch eine Stimme kennen, die schon 1871 eine linke Kritik an Deutschlands Rolle in Europa übte; eine Rolle, die Engels mit einer Zustimmung zur Wehrvorlage verteidigen wollte. Peter Nowak