Es muss uns darum gehen, einen neuen Geist des Antikapitalismus zu finden, der allerdings in konkreten Kämpfen entsteht. In den transnationalen Kämpfen der Gorillas-Rider*innen oder der Berliner Krankenhausbewegung könnten wir ihm vielleicht nahekommen.

Der neue Geist des Kapitalismus und die Identitätspolitik

Wie muss eine zeitgenössische Kapitalismuskritik aussehen, und welche Rolle spielen dabei Themen wie Individualität und Subjektivität? Einen wichtigen Impuls für die Debatte gab ein Buch von Luc Boltanski und Ève Chiapello, aber Peter Nowak fordert in seinem Artikel für die Graswurzelrevolution eine neue Theorie und Praxis des Antikapitalismus ein. (GWR-Red.)

Wie hältst duʼs mit der Identitätspolitik? Diese Frage droht nicht nur die Linkspartei zu spalten. Auch große Teile der außerparlamentarischen Linken zerstreiten sich an der Frage. Für einen Überblick über die Debatte ist der Blog des Publizisten Sebastian Friedrich zur „Neuen Klassenpolitik“ (1) zu empfehlen. Hier sind zahlreiche Beiträge der deutschsprachigen Debatte verlinkt. Doch auch hier fehlen Verweise auf ein Buch, das in den letzten 20 Jahren erst in Frankreich, dann auch in Deutschland viel Diskussionsstoff bot. Die Sozialwissenschaftler*innen Luc Boltanski und Ève Chiapello analysieren in dem voluminösen Werk „Der neue Geist des Kapitalismus“ (2) den …

… Wandel der Ideologie des Kapitalismus. Im Sinne der Regulationstheorie unterteilen die Autor*innen die Geschichte des Kapitalismus in drei Phasen: Während im ausgehenden 19. Jahrhundert die Person des Unternehmers im Mittelpunkt stand, bezeichnen Boltanski und Chiapello die zweite, meist fordistisch genannte Phase von 1930 bis 1960 als die Ära der durchbürokratisierten Industrieunternehmen.

Künstler*innen- versus Sozialkritik

Sie wurde abgelöst von der aktuellen Phase des Digitalkapitalismus. Seine Ideologie, so der Befund des Duos, hat Teile der Kritik am fordistischen Kapitalismus aufgenommen. Hier stellen sie die Künstler*innenkritik der Sozialkritik gegenüber. Letztere rekurriert auf die historische Arbeiter*innengewerkschaft, indem Anarchosyndikalist*innen, Anarchist*innen und die verschiedenen Strömungen des Kommunismus die Ausbeutung der Arbeiter*innen in den Mittelpunkt ihrer Kritik stellten. Die Künstler*innenkritik hingegen moniert, dass der Kapitalismus die Individualität und Subjektivität der Individuen unterdrücke. Analytisch präziser scheint mir aber, von der Kritik des Kleinbürger*innentums zu reden. Diese Künstler*innenkritik hat bei Boltanski und Chiapello viele Überschneidungen zu dem, was heute Identitätspolitik genannt wird. Überzeugend zeigen die Autor*innen auf, wie große Teile dieser Kritik vom modernen Kapitalismus übernommen werden.

Die in der Künstler*innenkritik betonten Bedürfnisse nach Authentizität und Freiheit werden in Eigenschaften wie „Autonomie, Spontaneität, Mobilität, Disponibilität, Kreativität, Flexibilität“ für den modernen Kapitalismus nutzbar gemacht. „Die Offenheit gegenüber Anderem und Neuem, die visionäre Gabe, das Gespür für Unterschiede, die Rücksichtnahme auf die je eigene Geschichte und die Akzeptanz der verschiedenen Erfahrungen“ (S. 143 f) werden als einige Items des modernen Kapitalismus benannt. Dann wird verständlich, warum heute in den kapitalistischen Manager*innenschulungen so viel von Empathie, Individualismus, Eigeninitiative die Rede ist. „Die Betonung des Aufeinander-Zugehens authentischer menschlicher Beziehungen (im Unterschied zu einem bürokratischen Formalismus) bildet in der Welt der Produktionsorganisation eine Antwort auf die Stimmen, die die Entfremdung durch die Arbeit und die Automatisierung der menschlichen Beziehungen kritisiert hatten“ (S. 144). In den folgenden Kapiteln untersucht das Duo, wie eine neue Haltung zum Geld, eine stärkere Beachtung der Umweltproblematik und eine veränderte Einstellung zur Arbeit Teil der neuen kapitalistischen Ideologie werden.

Auf der Suche nach einen neuen Geist des Antikapitalismus

Nicht Gegenstand des Buches ist die Frage, wie eine linke Bewegung auf der Höhe der Zeit auf den neuen Geist des Kapitalismus reagieren soll. Es würde sich lohnen, die Debatte zu beginnen. Dabei wäre auch anzuerkennen, dass eine Linke, die noch an Kapitalismusvorstellungen der fordistischen Ära festhält, im neuen Geist des Kapitalismus nicht gut agieren kann. Die linke Bewegung müsste anerkennen, dass es kein Zurück zu den heute verklärten Jahren des fordistischen Kapitalismus geben kann und wird. Ebenso fatal wäre es aber, den neuen Geist des Kapitalismus und seine Werte als Erfolg linker Politik auszugeben. Dann schwimmt man im Linksliberalismus mit. Es muss uns darum gehen, einen neuen Geist des Antikapitalismus zu finden, der allerdings in konkreten Kämpfen entsteht. In den transnationalen Kämpfen der Gorillas-Rider*innen oder der Berliner Krankenhausbewegung könnten wir ihm vielleicht nahekommen.

Peter Nowak

Anmerkungen:

(1) https://www.sebastian-friedrich.net/neue-klassenpolitik/

(2) Luc Boltanski / Ève Chiapello: Der neue Geist des Kapitalismus. Halem Verlag, Köln 2006, 736 Seiten, 29,00 Euro, ISBN 978-3-7445-1624-2. Aus diesem Buch sind auch die folgenden Zitate.

Erstveröffentlichungsort: