Redaktion Corona-Monitor (Hg.): Corona und Gesellschaft. Soziale Kämpfe in der Pandemie. Mandelbaum-Verlag, 280 S., br., 18 €.

Und nie vergessen

Der vorliegende Band ist eine Mischung aus wissenschaftlichen und aktivistischen Beiträgen. Daran mitgewirkt haben verschiedene emanzipatorische Zusammenschlüsse von Wissenschaftler*innen, darunter die Assoziation für Kritische Gesellschaftsforschung, das Institut für Protest- und Bewegungsforschung und das Netzwerk Kritische Bewegungsforschung.

Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik war die Verachtung der Armen so salonfähig wie in der aktuellen Pandemie«, schreibt Christian Baron in der Wochenzeitung »Freitag«. Doch wie passt ein solcher Befund damit zusammen, dass wohl selten in der Geschichte der Bundesrepublik – auch von Politiker*innen aller Parteien – so oft das Wort Solidarität verwendet wurde wie in Pandemiezeiten? Mit dieser Frage beschäftigt sich der kürzlich im Mandelbaum-Verlag erschienene Sammelband …

… »Corona und Gesellschaft«. Herausgegeben wurde er von einem Kreis von Sozialwissenschaftler*innen, die seit Beginn des Lockdowns im März 2020 die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen beobachteten und auf www.coronamonitor.noblogs.org dokumentierten. Der vorliegende Band ist eine Mischung aus wissenschaftlichen und aktivistischen Beiträgen. Daran mitgewirkt haben verschiedene emanzipatorische Zusammenschlüsse von Wissenschaftler*innen, darunter die Assoziation für Kritische Gesellschaftsforschung, das Institut für Protest- und Bewegungsforschung und das Netzwerk Kritische Bewegungsforschung.

Die 16 Aufsätze sind überwiegend auch für wissenschaftliche Laien verständlich verfasst und regen zu Diskussionen an. In der Einleitung beanstanden die Herausgeber*innen, dass Solidarität meist so verstanden wurde, die Einzelnen in die Pflicht zu nehmen – und nicht die Gesellschaft. Die Folge: Unsolidarisch sei, wer seine Maske falsch trägt, aber nicht, wer Gesundheitssysteme kaputtspart.

Im ersten Kapitel werden die Umbrüche in der Pandemie mit Bezug zur Klimakrise untersucht, im nächsten geht es um Arbeit. Stefanie Hürtgen beschäftigt sich mit der Aufwertung der Pflege- und Sorgearbeit und kommt zu dem Fazit: »So wie der Kapitalismus auf Carearbeit angewiesen ist, verzehrt und zerstört er gleichzeitig seine eigene Grundlagen.« In einem eigenen Kapitel werden die Kämpfe um Migration und das Grenz- regime in Pandemiezeiten behandelt. Dort stellt der Sozialwissenschaftler Nikolai Huke seine Studie über Konflikte in Geflüchteten- Einrichtungen unter Corona vor. Peter Birke und Louise Bäckermann zeigen am Beispiel von Göttingen und Berlin, wie 2020 Gebäude, in denen überwiegend einkommensarme Menschen lebten, als Corona- Hotspots isoliert wurden, und untersuchen die sehr unterschiedliche gesellschaftliche Reaktion in beiden Städten.

Mit den rechtsoffenen Protesten gegen die Corona-Maßnahmen befassen sich zwei weitere Aufsätze: Steven Hummel und Paul Zschocke gehen auf die Entwicklung der maßnahmenkritischen Proteste in Leipzig ein und zeigen, wie dort in der zweiten Phase immer mehr rechte Akteur*innen auftraten. Diese beriefen sich auf die Entwicklungen in Leipzig im Herbst 1989, sicher nicht zu Unrecht. Denn auch damals ging die von Rechten aus Westdeutschland unterstützte Nationalisierung und Faschisierung der Proteste der DDR-Opposition von Leipzig aus.

Im letzten Kapitel, unter der Überschrift »Solidarität in pandemischen Zeiten«, befasst sich der Sozialwissenschaftler Leon Roser Reichle mit verschiedenen Aktionen von nachbarschaftlicher Solidarität im Leipziger Osten zu Beginn des Lockdowns. Er unterscheidet drei Arten von Solidarität: als moralische Verpflichtung ohne gesellschaftskritische Komponente, als politische Praxis, oft in enger Kooperation mit der offiziellen Politik, und als Teil einer Selbstorganisierung von unten, die die Gesellschaft verändern soll. Vor allem linke Stadtgruppen setzten auf die dritte Form. Doch selbst in linken Ini- tiativen finden sich die unterschiedlichen Formen von Solidarität oft unvermittelt nebeneinander. Es lohnt sich also, genauer hinzuschauen, wenn in Pandemiezeiten so viel von Solidarität geredet wird. Peter Nowak

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