Kommentar: Sollen wir nur noch darüber diskutieren, welche Meinung die "offene Gesellschaft" noch aushalten kann?

Droht ein „Digitaler Faschismus“?

Ziemlich am Ende des Buches schreiben die Autoren über den Facebook-Chef: "Zuckerberg verkörpert lediglich ein strukturelles Phänomen, das die Digitalisierung im Kontext einer kapitalistischen Ökonomie geschaffen hat". Dieser Satz hätte am Anfang des Buchs stehen sollen und den Inhalt strukturieren. Dann wäre es ein Buch mit gesellschaftskritischem Ansatz.

In den Medien wird immer wieder die Frage diskutiert, welchen Anteil die sozialen Medien an der Verstärkung der politisch rechten Lager in vielen Ländern haben. Die Sozialwissenschaftler Maik Fielitz und Holger Marcks haben kürzlich im Dudenverlag ein Buch vorgelegt, das schon auf den ersten Blick deutlich macht, dass es ihnen ….

…. nicht um Fragen, sondern um Antworten geht. „Digitaler Faschismus“ [1] lautet der Titel und der Untertitel „Die sozialen Medien als Verstärker des Rechtsextremismus“ verstärkt die starke These noch.

„In den sozialen Medien greift eine Kultur des Hasses und der Unwahrheit um sich. Ihr Gift wirkt längst in die Gesellschaft hinein“, wird auf der Rückseite des Buches noch mal zusammengefasst, was auf 250 Seite mit keiner Zeile in Frage gestellt wird. Gleich im ersten Kapitel wird dann der britische Komiker Sacha Baron Cohen mit einer Äußerung vor der Anti-Defamation League [2] zitiert: „Hätte es Facebook in den 1930er Jahren gegeben, hätte es Hitler für seine Lösung der Judenfrage werben lassen.“

Nun betonen die Autoren, dass sie Cohen hier nicht als Komiker, sondern als Zeithistoriker zitiert haben. Sie begründen das so: „Hält man sich aber die – noch im Juni 2020 bekräftigte – Position von Facebook-Chef Mark Zuckerberg vor Augen, dass soziale Medien ’nicht die Schiedsrichter der Wahrheit‘ seien, sich also aus dem politischen Wettstreit heraushalten sollten, dann kommt man nicht umhin festzustellen: Der Komiker hat Recht.“

Der Mythos von der „offenen Gesellschaft“

Gleich im Anschluss fassen sie in wenigen Sätzen zusammen, was sich argumentativ durch das ganze Buch zieht: „Während das Internet zur Erweiterung noch in den 1990er Jahren als Instrument zur Erweiterung der Meinungsfreiheit empfunden wurde, gilt es heute als Hort von Hass und Hetze, der offene Gesellschaften auf eine Belastungsprobe stellt.“

Tatsächlich wird das Narrativ von der offenen Gesellschaft, die vom „Internetfaschismus“ bedroht wird, im Buch immer wieder angeführt und kein einziges Mal kritisch hinterfragt. Dabei hätte es viele Ansätze dazu gegeben. Warum wird nicht erwähnt, dass das Internet als Ort eines offenen, möglichst herrschaftsfreien Diskurses bereits vor über 20 Jahren von Staatsapparaten der von Fielitz und Marcks so vielzitierten offenen Gesellschaft massiv angegriffen wurde?

Ich will hier nur auf die Repressionsschläge gegen die linke Online-Plattform Indymedia hinweisen, die mit dem Sturm auf die Diaz-Schule während der G8-Gipfelproteste in Genua im Juli 2001 einen Höhepunkt gefunden hatte. In dieser Schule befand sich das Pressezentrum von Indymedia. Viele der Onlinebloggerinnen und Blogger wurden damals festgenommen und teilweise misshandelt. Es gab und gibt viele weitere Angriffe gegen linke und abhängige Internetaktivisten. Ich will auch auf das im Buch mit keiner Zeile erwähnte Abschaltung von Indymedia-Linksunten hinweisen.

Auch die Sperrung von anarchistischen Seiten wie Crimethink [3] wird nicht erwähnt. Es wird nicht registriert, dass Facebook rechte, militaristische und antifaschistische Seiten [4] wegen angeblicher Gewaltverherrlichung sperrt.

Es ist sicher nicht verwunderlich, dass die Autoren darauf nicht eingehen, wäre doch dadurch das Narrativ einer vom digitalen Faschismus bedrohten offenen Gesellschaft in Frage gestellt worden. Beim Sturm auf das Indymedia-Pressezentrum im Juli 2001 waren Polizisten dabei, die mit Sprüchen und Gesängen ihre Sympathie für den Mussolini-Faschismus kundtaten und die Gefangenen misshandelten.

Hier zeigte sich einmal mehr, dass die Gegenüberstellung „offene Gesellschaft versus Faschismus“ hinterfragt werden muss. Braucht die sogenannte offene Gesellschaft nicht immer wieder auch rechte und faschistische Kräfte, um wie in Genua 2001 gegen oppositionelle Kräfte vorzugehen? Kommt nicht der Faschismus eher aus den Staatsapparaten als aus dem Internet? Das sind Fragen, die Marcks und Fielitz nicht einmal zu stellen wagen.

Gesellschaftliche Widersprüche werden ausgeblendet

Im Buch wird alles, was dem linksliberalen Zeitgeist widerspricht, vom Brexit über den AfD-Aufstieg und natürlich auch die Wahl von Trump als Konsequenz aus über das Internet verbreitete Fake News erklärt. Wäre Trump im November 2020 im Amt bestätigt worden, hätten wir sicherlich eine Menge Texte lesen können, die dafür wiederum das Internet verantwortlich gemacht hätten.

Die Abwahl vom Trump hingegen wird kaum mit dem Internet in Verbindung gebracht. Dabei haben sich auch die Black-Live-Matter-Demonstranten über die sozialen Medien vernetzt. Es fällt auf, dass für den knappen Vorsprung von Biden sehr diskutierbare Gründe in den unterschiedlichen US-Bundesstaaten benannt werden. Genauso hätte man für die Wahl von Trump vor vier Jahren solche innenpolitischen Gründe benennen können.

Die Taz-Kolumnistin Bettina Gaus hatte schon Monate vor der Trump-Wahl nach einer längeren US-Reise jenseits der Weltmetropolen eine Wette abgeschlossen, dass Trump damals gewinnt. Sie hat dabei eben nicht ins Internet geschaut, sondern die abgehängten, deindustrialisierten Zonen der USA besucht. Dort lagen die gesellschaftlichen Ursachen für den Trump-Erfolg 2016.

Auch die Ursachen für den Brexit sollten man eher in den abgehängten Regionen Englands als im Internet suchen. Das gilt für fast alle im Buch angesprochenen Fragen. Es sind gesellschaftliche Widersprüche des Kapitalismus, die vom Internet nicht erfunden wurden. Allerdings ist den Autoren recht zu geben, wenn sie konstatieren, dass das Internet diese Widersprüche verstärken kann.

Internet als Verstärker gesellschaftlicher Widersprüche

Hier kann man dann tatsächlich diskutieren, wie das Internet rechte und irrationale Strömungen anfeuert. Fielitz und Marcks untersuchen in ihrem Buch im Detail verschiedene Methoden, die dafür sorgen. Dazu gehört die Technik des dramatischen Erzählens, mit denen sich in den sozialen Medien Menschen gegenseitig aufputschen, beispielsweise gegen Geflüchtete.

Dazu gehört das „dogpilling“. Das sind gezielte Kampagnen, die Politiker, die sich gegen rechts positionieren, ebenso treffen können wie feministische Publizisten oder Menschen, die sich mit Zivilcourage für Geflüchtete einsetzen. Die Beschreibungen dieser Methoden sind sehr informativ. Doch auch hier bleibt eine Leerstelle, die auch sonst oft anzutreffen ist, wenn das Internet für die Übel der Welt verantwortlich gemacht wird. Es wird nicht erwähnt, dass solche Methoden schon lange vor dem Internet beispielsweise durch Boulevardmedien angewandt wurden.

Dogpilling der Springerpresse

Man denke nur an die Kampagnen des Springerkonzerns gegen die APO nach 1968 oder die sogenannte Sympathisantenhetze in den 1970er Jahren. Damals wurden Schriftsteller, Journalisten und Wissenschaftler, die sich kritisch zur Gesellschaft der Bundesrepublik äußerten, in die Nähe zu bewaffneten Gruppen wie der Rote Armee Fraktion gerückt [5].

Ein Opfer dieses Dogpillings im Vor-Internetzeitalter war beispielsweise der Schriftsteller Heinrich Böll. Der Film „Die Verlorene Ehre der Katharina Blum“ [6] thematisierte diese Praxis. Es ist erstaunlich, dass es im Buch von Maik Fielitz und Holger Marcks keinen Hinweis darauf gibt. Dann könnte man besser einordnen, ob und wo solche Methoden im Internetzeitalter eine neue Qualität bekommen haben.

Mehrmals wird von den Autoren der Brexit als Ergebnis einer Fake-News-Kampagne via Internet bezeichnet. Die oben genannten gesellschaftlichen Widersprüche, die durch das Internet sicher verstärkt werden, bleiben unausgesprochen. Auch hier wäre es interessant gewesen, ähnliche Kampagnen im Vorinternet-Zeitalter zu untersuchen.

Die Publizistin Daniela Dahn widmet sich in ihrem mit den Psychologen Rainer Mausfeld veröffentlichten Buch „Tamtam und Tabu“ [7] der Frage, wie es zu erklären ist, dass noch Ende 1989 nur 5 % der DDR-Bürger den kapitalistischen Weg gehen wollten und im März 1990 die Parteien, „die diesen Weg propagieren“, bei den Wahlen siegten. Dahn und Mausfeld erklären diesen Meinungsumschwung mit der Verbreitung von Fake News in Bild und Spiegel und gezielter Panikmache.

Im Verlauf der Ereignisse von 1989/90 gelang es, die Stimmung eines Großteils der DDR-Bevölkerung in wenigen Wochen in die vom Westen gewünschte Richtung zu lenken. Diese Monate bieten also ein paradigmatisches Studienfeld zu den sozialtechnologischen Mitteln, mit denen Einstellungen und Verhalten einer ganzen Bevölkerung auf den Kopf gestellt wurden. Es geht in diesem Band folglich um die Rolle von Medien und deren Techniken der Affekt- und Meinungsmanipulation – Techniken, die sich heute gern hinter so harmlosen Begriff en wie „Perception Management“ oder „Soft Power“ verbergen.

Daniela Dahn und Rainer Mausfeld im Vorwort von „Tamtam und Tabu“

Auch bei diesen von beiden diagnostizieren Stimmungsumschwung in der DDR spielten natürlich gesellschaftliche Widersprüche eine Rolle, die von der erwähnten Pressekampagne dann verstärkt wurden. Auch hier wäre es falsch, die mediale Kampagne und gar die Manipulation zur alleinigen Ursache des Brexit im Internetzeitalter oder für den Wahlausgang in der DDR vor 30 Jahren zu erklären. Aber eine mediale Verstärkung von gesellschaftlichen Widersprüchen ist eben wesentlich älter als das Internet.

Ziemlich am Ende des Buches schreiben die Autoren über den Facebook-Chef: „Zuckerberg verkörpert lediglich ein strukturelles Phänomen, das die Digitalisierung im Kontext einer kapitalistischen Ökonomie geschaffen hat“. Dieser Satz hätte am Anfang des Buchs stehen sollen und den Inhalt strukturieren. Dann wäre es ein Buch mit gesellschaftskritischem Ansatz. So reiht es sich ein in die Diskussion über eine Frage, die eine Deutschlandfunk-Sendung so auf dem Punkt gebracht hat: „Extreme Meinungen auf dem Sender: aushalten oder abdrehen“ [8].

Genau so diskutieren jetzt auch Linke, welche Meinungen wir im Internet aushalten oder abschalten sollen und sehen das als einen Beitrag zur Rettung der Demokratie? Peter Nowak