Wu Ming: 54

Das Jahr 1954: Die McCarthy-Ära neigt sich ihrem Ende entgegen. Der Kalte Krieg steuert auf einen neuen Höhepunkt zu. Dem AutorInnenkollektiv «Wu Ming» ist mit dem Roman «54» ein grosser Wurf gelungen, ein faszinierendes Zeitgemälde voll überraschender Wendungen, in dem Geschichte neu entdeckt und neu erfunden wird.

Vom Tellerwäscher zum Hollywood-Star, der Schauspieler Cary Grant hat diesen Mythos gelebt. Weil er aus ärmlichen Verhältnissen kam, war Grant der Held der italienischen Arbeiterkneipen in den ersten Nachkriegsjahren. Diese Welt lässt das Kollektiv «Wu Ming» lebendig werden. Hinter diesem Namen verbergen sich künstlerisch und literarisch tätige AktivistInnen der ausserparlamentarischen italienischen Linken. 1994 trat das Kollektiv unter dem Label «Luther Blissett» auf und nutzte das damals noch neue Internet für die Kommunikationsguerilla.

Mit dem Roman «Q» verabschiedete sich die KünstlerInnengruppe «Luther Blissett». Wenig später konstituierte sich das Kollektiv «Wu Ming», was aus dem chinesischen übersetzt «Ohne Namen» heisst. Die Praxis linker KünstlerInnen, ihre Namen hinter einem Kollektivbegriff zu verbergen, ist alt. Schon in der frühen Sowjetunion wollten KünstlerInnen völlig in einem Kollektiv aufgehen und lehnten die Nennung der eigenen Namen als bürgerlich ab. Diese Praxis wurde während den gesellschaftlichen Aufbrüchen von 1968 wieder aufgegriffen. In Frankreich etwa wollten bekannte FilmemacherInnen wie Chris Marker zeitweise nicht mehr unter ihren Namen, sondern nur noch als Kollektiv «Vertow» Filme drehen. «Luther Blissett» dürfte allerdings auch vom zapatistischen Aufstand beeinflusst worden sein. Damals verbarg Subcommandante Marcos sein Gesicht hinter einer Skimütze und beschwor das Kollektiv statt den Personenkult. All diese Bezüge dürften dem Kollektiv «Wu Ming» bekannt sein, das mit «54» einen hochkomplexen Kriminalroman mit vielen realen und historischen Bezügen verfasst hat.

Linker, aber kein politisch korrekter Krimi

Die häufig gestellte Frage, ob es einen spannenden linken Kriminalroman überhaupt geben kann, beantworten die AutorInnen mit einem klaren Ja. Es gelingt ihnen in «54» eine Spannung aufzubauen und bis zum Schluss zu halten. Einige Episoden bieten Stoff für einen Thriller. Schiessereien mit vielen Toten und einem Überlebenden gibt es dort ebenso wie viele derbe Witze, denn «Wu Ming» hat zwar einen linken, aber keinen politisch korrekten Krimi geschrieben, schliesslich spielt die Handlung auch nicht in einem sozialen Zentrum der Gegenwart, das Buch führt uns vielmehr ins Jahr 1954 nach Bologna und dort in die Bar Aurora, den Treffpunkt der italienischen KommunistInnen mit oder ohne Parteibüchlein. Ort und Jahr sind bewusst gewählt. Stalin ist tot, aber die Geheimrede, auf der sein Nachfolger Chruschtschow mit dem Stalinismus abrechnete und die kommunistische Weltbewegung nachhaltig erschütterte, war noch nicht gehalten. In Guatemala sorgte das Militär dafür, dass das Land mit Hilfe der CIA wieder zur Filiale der «United Fruit Company» wird, wie bereits seit Jahrzehnten. Der demokratisch gewählte Präsident Arbenz, der kein Kommunist war, aber linke GewerkschafterInnen in die Regierung holte, wurde blutig gestürzt.

Doch die BesucherInnen der roten Bar, die für viele auch eine verlängerte Wohnküche war, interessierte Weltpolitik nur sehr eingeschränkt und komplizierte theoretische Debatten fanden kein Interesse. Stalin war für die meisten irgendwie noch ein guter Mann und die USA galten als Verbündete der FaschistInnen, die dafür gesorgt hatten, dass in Italien nach Ende des Mussolini-Regimes die starke PartisanInnenbewegung entwaffnet und in die Opposition gezwungen wurde. Man tröstete sich damit, dass die kommunistische Bewegung wenigstens nicht in den Untergrund oder ins Exil musste, wie etwa in Griechenland. Geteilte Meinungen hatte man in der Aurora-Bar über Tito, der schliesslich von Stalin aus der kommunistischen Bewegung ausgeschlossen worden war. War er nun ein Verbündeter der Imperialisten, wie besonders Starrköpfige die Propaganda aus Moskau nachbeteten? Warum aber blieb der Vater des Barmanns Robespierre, einer der zentralen Helden von «54», in Jugoslawien, wo er schnell zwischen alle Fronten geriet? Er hatte im Partisanenkampf mit titoistischen GenossInnen kooperiert, die er nicht auf Knopfdruck zu FeindInnen erklärte und mit denen er den Sozialismus in Jugoslawien aufbauen wollte. Doch auch dort wollte er sich das kritische Denken nicht verbieten lassen und wurde zur verfolgten Persona Non Grata, der in einer alten verfallenen Hütte Zuflucht suchen musste. In dieser Situation besuchte ihn sein Sohn Robespierre auf abenteuerliche Weise. Dieser Reise und seine spektakulären Begleitumstände, wozu auch gehörte, dass Robespierre Cary Grant, der ebenfalls in einer geheimen Mission in Jugoslawien weilte, das Leben rettete, machen neben vielen Verwicklungen und Nebensträngen den Grossteil der Handlung des Buches aus.

Kommunistisches Milieu des Nachkriegsjahrzehntes

Das ist spannend erzählt, was schliesslich einen guten Krimi ausmacht. Das besondere von «54» aber ist der Einblick ins Milieu italienischer KommunistInnen der Nachkriegsjahre, das es heute so nicht mehr gibt. Gelegentlich träumte man in der Aurora-Bar noch davon, die versteckten Waffen aus den Tagen des Partisanenkampfes doch noch aus dem Versteck hervorzuholen und auch in Italien eine Revolution zu beginnen. Schliesslich trägt die Bar die Morgenröte im Namen, und damit war nicht nur die Tageszeit gemeint, in der die letzten BesucherInnen den Heimweg antreten mussten. Wenn in dem Buch in mehreren Absätzen beschrieben wird, wie das Stammpublikum der Bar über die Frage stritt, ob nun ein Fernsehgerät angeschafft werden sollte und der Parteisekretär, auf dem auch bei dieser Frage viele schauten, diese Frage zum individuelles Problem erklärte, in das sich die Partei nicht einmischte, dann führt das Buch mitten hinein in das Leben italienischer Militanter. Zwischen den Kapiteln gibt es immer wieder Seiten, auf denen die Schlagzeilen über italienische und weltpolitische Ereignisse im Jahre 1954 aufgeführt sind. Die von der Polizei aufgelöste Gewerkschaftsdemo in Bologna steht neben den US-Putsch in Guatemala. Und ganz zum Schluss kommt noch ein junger Rechtsanwalts ins Spiel, der gerade einen Aufstand in seinen Land angeführt und verloren hatte und nach Mexiko geflohen war. Der Mann schüttelte den alten italienischen Partisanen die Hand und stellte sich als Castro Ruz vor.

Der Verlag Assoziation A hat angekündigt, weitere Bücher des «Wu Ming»-Kollektivs ins Deutsche übersetzen zu lassen. Nach «54» zu urteilen, wird es ein hochpolitisches Lesevergnügen.

Wu-Ming: 54. Aus dem Italienischen von Klaus-Peter Arnold übersetzt, erschienen beim Verlag Assoziation A, Berlin. 528 Seiten. 24,80 Euro.

Peter Nowak

Erstveröffentlichungsort:
Dieser Artikel erschien zuerst Schweizer vorwärts vom November 2015.