Maoistische Anklänge und Harmonie

Von Fabrikarbeitersuiziden über »Bossnapping« bis hin zur Situation von Sexarbeiterinnen – in einem neuen Sammelband untersuchen Wissenschaftler und Aktivisten die aktuelle Lage der Arbeiterklasse in China.
»Sie setzten den Direktor auf die Ladefläche eins Pritschenwagens und zwangen ihn, die schmerzhafte und erniedrigende Flugzeug-Haltung einzunehmen – vorgebeugt und mit den Armen zur Seite ausgestreckt.« Diese Beschreibung eines »Bossnapping« bei einem Streik von Seidenwebern in der chinesischen Provinz Sichuan verdanken wir dem Hongkonger Sozialwissenschaftler Chris King-Chi Chan. Der Bericht findet sich in einem neuen Sammelband zur Situation der Arbeiterklasse in China.

 Vor zwei Jahren war im gleichen Verlag ein Buch über die chinesischen Wanderarbeiterinnen erschienen, die aus ihren Dörfern in die Weltmarktfabriken zum Arbeiten kommen. In dem neuen Band wurde das Blickfeld erweitert. Neun Wissenschaftler und ein sozialpolitischer Zusammenhang analysieren die Situation der unterschiedlichen Sektoren der chinesischen Arbeiterklasse. So widmet sich US-Anthropologin Zhan Tiantian chinesischen Sexarbeiterinnen, die offiziell als Hostessen bezeichnet werden. Sie zeigt auf, dass die regierungsoffizielle Anti-Prostitutionskampagne ihre Arbeitsbedingungen verschlechtert. Über Formen des Widerstands gibt es in dieser Branche indes wenig zu berichten.

Die unterschiedlichsten Formen des Widerstands, von individuellen Verzweiflungstaten bis zu kollektiver Gegenwehr, werden im Buch vorgestellt. Für internationale Aufmerksamkeit sorgte ein Streik beim Autokonzern Honda im Mai und Juni 2010. Die Hintergründe der Arbeitsniederlegungen werden detailliert untersucht und betont, dass die Arbeitsniederlegungen ohne jegliche gewerkschaftliche Unterstützung von den Arbeitern selbst organisiert wurden. Beim Autokonzern Foxconn hingegen lenkten mehrere Selbstmorde von Beschäftigten den Blick auf die schlechten Arbeitsbedingungen.

Bei ihren Protesten benutzten die Beschäftigten oft Losungen aus der maoistischen Tradition. »Die Arbeiter sind die Herren des Staates. Nieder mit der neu entstandenen Bourgeoisie. Ja, zum Sozialismus. Nein, zum Kapitalismus«, lauteten die Parolen auf Transparenten, mit denen Arbeiter aus der Eisen- und Stahlindustrie in der Provinz Liaoning auf die Straße gegangen sind. Mehrere Autoren berichten über maoistische Bezüge auch bei anderen Kämpfen. Die in Hongkong lehrende Sozialwissenschaftlerin Pun Ngai zeigt in einem kurzen historischen Abriss auf, dass bis Ende der 70er Jahre der Klassenkampf in der offiziellen chinesischen Politik eine große Rolle spielte. Erst in den 80er Jahren sei auch in China offiziell Karl Marx durch Max Weber ersetzt worden. Ngai betont, dass ein aktueller Klassenbegriff sinnvoller- weise nur als Waffe von unten in den Fabriken und Arbeiterwohnheimen neu begründet werden kann. Dafür liefert das Buch viele Beispiele.

Mehrere Autoren setzen sich in dem Buch kritisch mit unterschiedlichen Integrationsversuchen der Arbeiterkämpfe auseinander. Dazu gehört für sie auch der veränderte Diskurs der chinesischen Regierung, die für ihr Konzept einer harmonischen Gesellschaft Gewerkschaften als Sozialpartner akzeptiert. Dazu gehören auch die neu eingerichteten und von den Beschäftigten häufig genutzten Schlichtungsverfahren bei Problemen am Arbeitsplatz. Kritisch wird auch der Versuch bewertet, aus kämpferischen Arbeitern Bürger mit Rechten zu machen. Genauso kritisch müssen auch die falschen Freunde der chinesischen Arbeiter in den westlichen Ländern eingeschätzt werden, die die berechtigten Kämpfe der chinesischen Beschäftigten gleich zu einem Kampf gegen das chinesische Gesellschaftssystem hochstilisieren wollen.

Pun Ngai, Ching Kwan Le, u.a.: Aufbruch der zweiten Generation, Wanderarbeiter, Gender und Klassenzusammensetzung in China. Berlin/Hamburg 2010. Verlag Assoziation A, 294 Seiten, 18 Euro.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/190665.maoistische-anklaenge-und-harmonie.html

Peter Nowak


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