Popjournalist Jens Balzer stellt sich Diskussion: Er beschrieb Reaktionen vieler Linker auf den Hamas-Angriff als moralischen Bankrott. Wie kam es dazu? Ein Kommentar.

Führt Wokeness zu Antisemitismus?

Jens Balzer stellte seine kleine Streitschrift am Mittwochabend im Veranstaltungssaal der taz in Berlin zur Diskussion und fragte, warum eine Szene, der es so sehr um Empathie und Achtsamkeit geht, ausgerechnet mit jüdischen Menschen, die im Staat Israel einen Schutzraum sahen, nach dem 7. Oktober keine oder wenig Empathie zeigten.

Die Wokeness hat nicht mehr viele Befürworter. In der letzten Zeit ist eine ganze Reihe von Büchern erschienen, die daran sogar die Krise der gesellschaftlichen Linken festmachen. Am bekanntesten ist da sicherlich Sahra Wagenknechts Bestseller „Die Selbstgerechten“ – inklusive „Gegenprogramm für Gemeinsinn und Zusammenhalt“. Wenn beim Versuch einer Umsetzung aber eine Bewegung irgendwo zwischen…

… rechter SPD, CDU und AfD herauskommt, ist das wenig attraktiv für Menschen, die eigentlich die linke Bewegung vor zu viel Wokeness verteidigen wollten.

Das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) ist nun bestimmt nicht woke – aber was ist an ihm noch links? Die Frage muss man sich schon stellen, wenn führende BSW-Politiker immer wieder betonten, die Kategorien links und rechts spielten keine Rolle mehr.

Dem würde Jens Balzer, der sich als freier Journalist im Bereich von Pop-Kultur einen Namen gemacht hat, keineswegs zustimmen. In seinem aktuell viel diskutierten Buch „After Woke“ nimmt er Abschied vom Wokismus, will aber grundlegende Elemente woker Theorie und Praxis bewahren.

Zäsur 7. Oktober: Entfremdung von der woken Szene

Für ihn war der Angriff von Hamas und ihrer Verbündeten am 7. Oktober 2023 auf Israel eine Zäsur – auch für den Blick auf die Szene, der er sich bisher zugehörig gefühlt hat. In der Verlagsankündigung des Buches wurde dies so zusammengefasst:

Angesichts mancher Reaktionen auf das von unfassbarer Grausamkeit gekennzeichnete Massaker der islamofaschistischen Terrorgruppe Hamas am 7. Oktober 2023 in Israel stellt sich vielerorts die Frage: Ist es an der Zeit, sich von jeder Art von „Wokeness“ konsequent zu verabschieden? Oder gilt es nicht vielmehr, wie Jens Balzer mit kenntnisreichem Blick auf die Geschichte dieses umkämpften Begriffs darlegt, sich auf die ursprünglichen Impulse der postkolonialen und queerfeministischen Theorien zu besinnen: auf das kritische Bewusstsein für das grundsätzlich Werdende, Hybride, Mannigfaltige, Ambivalente, das aller Formierung von Identität vorausgeht?Verlag Matthes & Seitz

Wokeness ohne Empathie für Juden, die Israel als Schutzraum sehen

An jenem 7. Oktober waren die meisten jüdischen Menschen nach der Shoah getötet worden. Es ist frappierend, wie schnell dieser Angriff in großen Teilen der Linken, die sofort auf die Straße gegangen sind, um gegen die harte israelische Reaktion zu protestieren, vergessen wurde.

Bei aller berechtigten Kritik am Vorgehen der israelischen Armee in Gaza wurde schnell ausgeblendet, was am 7. Oktober in Israel geschehen ist. Dies taten auch Menschen und Bewegungen, die den USA und Israel alle Verbrechen vergangener Jahrzehnte und Jahrhunderte vorrechnen.

Jens Balzer stellte seine kleine Streitschrift am Mittwochabend im Veranstaltungssaal der taz in Berlin zur Diskussion und fragte, warum eine Szene, der es so sehr um Empathie und Achtsamkeit geht, ausgerechnet mit jüdischen Menschen, die im Staat Israel einen Schutzraum sahen, nach dem 7. Oktober keine oder wenig Empathie zeigten.

Das erklärte Ziel der islamistischen Angreifer

Der Einschub ist wichtig und kam bei der Diskussion vielleicht etwas zu kurz: Es gibt Jüdinnen und Juden, die dem Staat Israel ablehnend oder gleichgültig gegenüberstehen. Sie sind auch in Deutschland oft aktiver Teil der propalästinensischen Bewegung.

Ein Großteil der Jüdinnen und Juden, die Israel als Schutzraum sehen, hat auch starke Kritik an der aktuellen israelischen Regierung – aber sie sehen mit Recht, dass der Angriff vom 7. Oktober Israel ans Ganzes getroffen hat, was auch das erklärte Ziel der Angreifer war.

Balzers These in dem Buch After Woke lautet, dass diese fehlende Empathie eine Folge von postkolonialistischen und queerfeministischen Theorien ist, die auch im Bereich der Popkultur und der Clubszene einen großen Einfluss habe. Das ist der Bereich, in dem sich Balzer auskennt und das auch das Thema seines Buches.

Woke und hedonistisch: Ist die Club- und Popszene postkolonial?

Balzer führt die erbitterten Auseinandersetzungen um die Israel-Boykott-Kampagne BDS an, die zu einer Cancel-Culture gegen Bands führt, die auch schon mal in Israel aufgetreten sind. Clubs, die sich nicht vorschreiben lassen, wer bei ihnen auftritt, werden auch schon mal mit antisemitischen Symbolen und Schmierereien markiert wie der Club About Blank in Berlin.

Dass Balzer dagegen Einspruch erhebt, ist sehr begrüßenswert. Die Frage ist allerdings, ob die Club- und Popszene tatsächlich so sehr von postkolonialen und queerfeministischen Theorien beeinflusst ist, wie Balzer annimmt. Da wäre vielleicht manche kritischere Nachfrage sinnvoll gewesen, vor allem nach Belegen für den Einfluss dieser Theorien in dieser Szene. Der Journalist Jan Feddersen, der das Gespräch mit Balzer führte, stimmte im Wesentlichen mit dessen Thesen überein. Aus dem Publikum gab es allerdings auch kritische Nachfragen.

Woke Irrungen als Antwort auf Versagen alter linker Theorie?

Da ging es aber eher darum, Queerfeminismus und Postkolonialismus vor zu viel Kritik zu verteidigen. Diesen Theoriesträngen wurde von Diskutantinnen und Diskutanten zugutegehalten, dass sie eine Reaktion auf ein Versagen alter linker Theorie seien, die angeblich nur einen Hauptwiderspruch kennen würden und Rassismus beispielsweise vernachlässigt hätten.

Hier leistete Balzer wichtige Aufklärungsarbeit, indem er auf Texte der sogenannten alten Linken hinwies, die Rassismus nicht vergessen hatten. Der Autor erinnerte auch daran, dass die Schwarze Bürgerrechtsbewegung in den USA in den 1960er-Jahren eng mit oft jüdischen Linken kooperiert hatte.

Man müsste da noch ergänzen: Diese Zusammenarbeit reichte bis in die 1930er-Jahre zurück, als die damals zahlenmäßig nicht starke, aber durchaus einflussreiche Kommunistische Partei der USA sehr wohl wichtige Arbeit leistete, in dem sie Klassenkampf und Antirassismus verband.

Dass die alte Linke immer am Denken in Haupt- und Nebenwidersprüchen festhielt, stimmt so nicht. Eher wurde durch die postkolonialen Theorien der Klassenkampf ganz beerdigt und ein Identitätsdenken befördert, das Balzer und Feddersen kritisieren.

Der Blut-und-Boden-Aspekt der Identitätspolitik

Zu Recht kritisierte Balzer auch eine Linke, die im strikten Gegensatz zu Karl Marx statt des Kapitalismus die Globalisierung anprangerte. Sehr überzeugend war auch Balzers Kritik an der postkolonialen Sehnsucht nach dem Indigenen, dem Ursprünglichen.

Hier könnte man auch die angeblich linken Bewegungen anführen, die es in den Ländern des globalen Südens verteidigen, wenn irgendwelche angeblich Indigene bestimmte Regionen für heilig erklären und verbieten wollen, dass dort Bodenschätze erschlossen werden oder kontrollieren wollen, wer die Gegend überhaupt betreten darf.

Gegen ein solches identitäres Kontrollregime, das nicht sympathischer wird, weil es mit dem Label „Indigene“ geschmückt wird, sollte die Forderung stehen, dass über die Nutzung oder Nichtnutzung von Gütern und Bodenschätzen Räte aller Bewohnerinnen und Bewohner ohne religiöse oder ethische Einengung entscheiden sollten.

Free Gaza from Hamas müsste linker Grundkonsens sein

Balzers Kritik hat also Potenzial auch über die Clubszene hinaus, auf die er sich im Buch vorrangig bezogen hat. Im Verlagstext könnten die Adjektive fiktiv, fragil, fluide etc. abschrecken, die ja schon Kennzeichen der kritisierten Theorien sind. Dabei sollte man bei aller Ideologiekritik auch die Realitäten in der Welt nicht vergessen. Auf den Nahostkonflikt bezogen muss man feststellen, dass der antisemitische Angriff vom 7. Oktober 2023 genauso real sind, wie das Leid vieler Menschen im Gaza.

Vielleicht wäre da auch zu fragen, warum bei vielen Linken die Rolle der Hamas ausgeklammert wird, denn sie hat mit ihrem Angriff am 7. Oktober den aktuellen Krieg in Gaza ausgelöst und auch bewusst sehr viele Tote aus der dortigen Zivilbevölkerung einkalkuliert. Zudem ist sie für die Unterdrückung großer Teile der Bevölkerung dort verantwortlich.

Daher müsste eigentlich „Free Gaza from Hamas“ genau so ein linker Minimalkonsens sein wie der Wunsch, dass das islamistische Regime im Iran schnell verschwindet. Es unterdrückt große Teile der eigenen Bevölkerung und fördert nach außen den Kampf gegen Israel. Liegt es wirklich nur an postkolonialen Theorien, dass solche Basics in der gesellschaftlichen Linken nicht Konsens sind?

Die Rechtsentwicklung in Israel nicht verschweigen

Diese klare Frontstellung gegen die reaktionären Kräfte in der Region, die Hamas und der Iran, bedeutet nun keinesfalls, keine Kritik an der rechten israelischen Regierung zu üben, die mittlerweile auch für einen Teil der Rechten in aller Welt zum Vorbild geworden ist.

Wie stark auch in Teilen der israelischen Gesellschaft rechte Denkweisen stärker werden, die nicht nur Gruppen wie die Hamas, sondern die Palästinenser insgesamt zu Feinden erklären, beschrieb der liberale Schriftsteller Navid Kermani bereits in dem 2013 erschienenen Buch „Ausnahmezustand – Reisen in eine beunruhigte Welt“.

Dort beschreibt Kermani seine Beunruhigung, als er, der keineswegs ein Gegner Israels ist, 2005 von einem israelischen Soldaten bei der Einreise nach Gaza gefragt wurde, ob er Tierarzt ist.

„Und ich glaube, im Nachhinein kann ich sagen, wann meine Wahrnehmung endgültig in die Einseitigkeit gekippt ist, nämlich am Checkpoint von Gaza“, schreibt Navid Kermani und beklagt, dass einen Teil der israelischen Bevölkerung die Palästinenser schon vor fast 20 Jahren so wenig interessierten, dass sie sie hinter hohen Mauern verschwinden lassen wollen. Andere haben sie schon in der Sprache dehumanisiert.

Kooperation statt Boykott

Es sind solche Entwicklungen, die den Reaktionären wie der Hamas entgegenkommen. Mit der Israel-Boykott-Kampagne werden solche identitären Positionen auch noch in Bereichen zementiert, die sonst einen Austausch fördern könnten, etwa im Kulturbereich. Dagegen sollte Kooperation statt Boykott stehen.

Menschen in Israel und Palästina, die diese Kooperation auch in schwierigen Zeiten noch aufrechterhalten, sollten daher gefördert werden, auch in Deutschland. Daher ist es fatal, wenn beispielsweise der Organisator des „Zugs der Liebe“ in Berlin in einem Interview gegen jeden Antisemitismus Stellung nimmt, ihm aber zu der Lage der Menschen im Gaza nur zwei nichtssagende Sätze einfallen.

Wenn man schon mit einem Motto zwischen Christentum und Esoterik an die Öffentlichkeit geht, sollte man dann nicht selbst in identitäres Denken verfallen. Vor allem sollte man nicht den Eindruck erwecken, es ginge um Kampf gegen Antisemitismus, wenn es nur um die deutsche Staatsräson geht.

Peter Nowak