Herbert Obenland, Wolfgang Hien, Peter Birke: »Das andere 1968. Von der Lehrlingsbewegung zu den Auseinandersetzungen am Spey- er-Kolleg 1969-1972«, Verlag Die Buchmacherei, Berlin 2022. ISBN: 978-3-9823317-37, 252 Seiten, 15 Euro.

Flaschenpost aus dem proletarischen 1968

›Klassenkampf‹ für selbstbestimmte Bildung am Speyer-Kolleg - das Buch gibt einen hervorragenden Überblick über eine Zeit, als über Gesellschaftsfragen nicht im Theater und Kulturbetrieb, sondern in den Fabriken und den Schulen gestritten wurde. Zudem erinnert es an Publikationen und Kämpfe von linken Arbeiter:innen, über die unbedingt weiter geforscht werden sollte, damit das proletarische 1968 nicht in Vergessenheit gerät.

Berlin, Frankfurt, Tübingen ‒ mit diesen Orten wird die 1968er Bewegung verbunden. Kaum jemand wird ausgerechnet Speyer mit dem Aufbruch vor mehr als 50 Jahren in Verbindung bringen. Dabei hatte dieser auch dort Spuren hinterlassen, wie in dem kürzlich in der Buchmacherei erschienenen Buch »Das andere 1968« beschrieben wird. Der Untertitel »Von der Lehrlingsbewegung zu den Auseinandersetzungen am Speyer-Kolleg 1969-72« deutet an, dass Peter Birke mit seinen Interviewpartnern Wolfgang Hien und Herbert Obenland einen gleich in mehrfacher Hinsicht anderen Blick auf 1968 wirft. Nicht um Theoriedebatten in einer Universitätsstadt geht es dabei, sondern um …

… den Kampf um Bildung auch für Kinder aus Arbeiter:innen-Familien in einer Stadt, die von der nahen Chemieindustrie geprägt war. Gleich am Anfang des Buches bringt Herbert Obenland diese Unterschiede prägnant auf den Punkt: »Das Besondere an dieser Geschichte ist, dass es dort innerhalb einer relativ kurzen Zeit zu einer sehr, sehr starken Politisierung in einer Erwachsenenbildungseinrichtung [dem Speyer-Kolleg, Anm. d. Red.] gekommen ist. Sie hat weit über die Einrichtung hinausgegriffen, und die ganze Stadtbevölkerung einer mittelgroßen Stadt ‒ ich glaube, Speyer hatte da- mals 40.000 Einwohner – mit einbezogen« (S. 18).

Gegen das bürgerliche Bildungsprivileg

In dem Buch thematisieren Hien und Obenland einen wichtigen Inhalt der 1968-Bewegung, der heute oft zu kurz kommt: den Kampf gegen das bürgerliche Bildungsprivileg. Beide Autoren kommen aus Haushalten, in denen ein Abitur gesellschaftlich nicht vorgesehen war, sondern eher ein Leben in der Fabrik. Hien und Obenland aber verweigerten sich, wie viele aus ihrer Generation, diesem scheinbaren Schicksal. Dabei kam ihnen entgegen, dass der Kapitalismus mehr gut ausgebildete Beschäftigte brauchte. Mitte der 1960er Jahren warnten auch kapitalfreundliche Politiker vor der deutschen Bildungsmisere. Einrichtungen des zweiten Bildungswegs wie das Speyer-Kolleg sollten Abhilfe schaffen. Hien und Obenland beschreiben, wie sie sich dieser Zurichtung an die Erfordernisse des Kapitalismus in den ideologischen Staatsapparaten verweigerten und Bildung als Mittel der gesellschaftlichen Emanzipation be- griffen. »Es kamen dort Leute zusammen, die hatten ja schon eine Berufsausbildung, das war ja die Voraussetzung dafür, und in der Regel auch schon Arbeitserfahrung. Ich hatte beispiels- weise ein dreiviertel Jahr in der BASF gearbeitet. […] Und nun sollten wir uns wieder an Schultische setzen und die Hefte auspacken und mit einer Perspektive wie ein Vierzehnjähriger oder ein Fünfzehnjähriger auf das schauen, was um uns herum und vor allem, was ganz vorne geschieht, und was man von uns will. Das war schon provozierend«, beschreibt Obenland die Zustände, die ihn und viele seiner Mitkollegiat:innen zu Protest und Widerstand trieben. Dabei mussten sie in Widerspruch zur Schulleitung und zu Politikern geraten, die Tech- niker:innen, aber keinesfalls Gesellschaftskritiker:innen ausbilden wollten. Die Geschichte des Konflikts am Speyer-Kolleg beschreiben Hien und Obenland plastisch und kurzweilig, dezent geleitet von Peter Birke. Es ist gerade der Vorzug des Buches, dass Birke als Inter- viewer kaum sichtbar ist, weil die beiden Protagonisten das Gespräch souverän führen und sich selten in zu kleinteilige Details verzetteln.

Sehr anschaulich berichten Hien und Obenland auch, wie sie sich bereits als Auszubildende bei der BASF politisierten. Sie waren Teil einer bundesweiten Lehrlingsbewegung, über die heute selten berichtet wird. Erinnert sei da an die bahnbrechende Studie »Lehrzeit – keine Leerzeit«, in der der Historiker David Templin die Lehrlingsbewegung in Hamburg in den Jahren 1968 – 1972 aufgearbeitet hat. Für die meisten anderen Regionen steht eine solche his- torische Auseinandersetzung noch aus. Hien und Obenland leisten im ersten Teil des Buches einen Beitrag zur Erforschung der Lehrlingsbewegung in Südwestdeutschland.

Von der Kollegiaten-Mitverwaltung zur Studierendenvertretung

Ihre dort gemachten Erfahrungen waren auch die Grundlage für die Reformbewegung am Speyer-Kolleg. Die meisten der Protagonist:innen hatten einen linksgewerkschaftlichen Hin- tergrund, der sie motivierte, für eine Selbstverwaltung an den Arbeitsstellen und auch in den Bildungseinrichtungen. Mit der Zwischenüberschrift »Von der Kollegiaten-Mitverwaltung zur Studierendenvertretung« wird dieser Anspruch präzise ausgedrückt. Sie wollten auch darüber entscheiden, welche Lehrenden am Kolleg unterrichten und welche Referent:innen sie auf ihre Veranstaltungen einladen wollten. An dieser Frage eskalierte der Streit, als der Schulleiter einem von der Studierendenvertretung eingeladenen Psychologen Hausverbot erteilte, das er und die Kollegiat:innen aber souverän ignorierten. Hier wird auch deutlich, wie ausgeprägt die Zivilcourage unter den Kollegiat:innen war, die nicht bereit waren, sich einem für sie unverständlichen Verbot zu beugen. Der Höhepunkt der Auseinandersetzung am Speyer-Kolleg war die Diffamierung der Selbstverwaltung als linksextremistische Unterwanderung – ein Tenor, an dem der damalige CDU-Vorsitzende von Rheinland-Pfalz Helmut Kohl sowie andere konservative Politiker:innen und Medien mitwirkten. »Es war praktisch nicht mehr die Rede von Kollegiaten, die eine Reform wollten, sondern der Haupttenor war: Es sind Untergrundkämpfer im Kolleg, die sich dort eingenistet haben. Auf Kosten der Steuerzahler« (S. 182), bringt Obenland die Kampagne auf den Punkt, mit der die Konservativen den gesellschaftlichen Aufbruch in Speyer in die Schranken weisen wollten. Doch die Bildungsreformer:innen beka- men auch Unterstützung aus Teilen der SPD und vor allem aus den Gewerkschaften. »Es gab Solidaritätserklärungen u.a. von den Jungsozialist:innen, der DGB-Jugend, den Vertrauens- leuten der ehemaligen IG Druck, den Vertrauensleuten der IG-Metall bei VFW Fokker, dem DGB-Vorsitzenden« (S. 185), beschreibt Hien die betriebliche Unterstützung für den Kampf der Kolleg-Reformer:innen. Die Gewerkschafter hatten erkannt, dass es hier um den Kampf gegen das bürgerliche Bildungsprivileg und für die Demokratisierung der Betriebe, aber auch der Bildungseinrichtungen ging. Die Kooperation ist auch deshalb zustande gekommen, weil viele Kollegiat:innen bereits in ihrer Ausbildungszeit linke Betriebsarbeit gemacht haben. Ein Kapitel widmet sich dem von einer Sozialistischen Betriebsgruppe (SBG) herausgegebenen Betriebsreport (S. 103ff), der 1970 im Umfeld des Republikanischen Clubs Speyer entstanden war und für einige Jahre ein Sprachrohr für linke Betriebspolitik wurde. Dort wurde auch immer wieder über besonders krasse Ausbeutungsverhältnisse in den Betrieben informiert. So hatte der Betriebsreport aufgedeckt, dass die Beschäftigten auf einer Schiffswerft am Rhein keine Toiletten hatten. »Daraus habe ich dann einen vierseitigen Artikel gemacht, mit der Forderung von menschenwürdigen Arbeitsbedingungen und auch Klos« (S. 108), erinnert sich Hien.

Für die Erforschung des proletarischen 1968

Auch wenn die Kämpfe um Reformen am Speyer-Kolleg von den Konservativen ausgebremst wurden und von einem Erfolg der Linken nicht die Rede sein kann, ziehen Hien und Oberland doch ein positives Fazit ihres Engagements. Obwohl sich ihre politischen und beruflichen Wege zwischenzeitlich auseinanderentwickelt haben, gaben beide ihr Engagement für eine Welt ohne Ausbeutung und Unterdrückung nicht auf. Die Kämpfe in der Lehrlingsbewegung und am Speyer-Kolleg waren für sie auch ein Lernprozess. Hien gehörte als Arbeits- und Gesundheitswissenschaftler zu den Mitbegründer:innen einer Arbeiter:innen-Gesundheitsbewegung in Deutschland.

Das Buch gibt einen hervorragenden Überblick über eine Zeit, als über Gesellschaftsfragen nicht im Theater und Kulturbetrieb, sondern in den Fabriken und den Schulen gestritten wurde. Zudem erinnert es an Publikationen und Kämpfe von linken Arbeiter:innen, über die unbedingt weiter geforscht werden sollte, damit das proletarische 1968 nicht in Vergessenheit gerät.

* Peter Nowak lebt als freier Journalist in Berlin.

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