Die jetzt auch? Diese Frage stellt sich sofort, wenn man den Titel des knapp 100-seitigen Readers liest, der kürzlich in einschlägigen linken Buchläden gegen eine Spende vertrieben wurde. „Die IL läuft Gefahr, Geschichte geworden zu sein“, lautet er. Mit dem Kürzel ist die Interventionistische Linke gemeint, die sich als größeres Bündnis innerhalb der außerparlamentarischen Linken begreift.An der Interventionistischen Linken haben sich im außerparlamentarischen linken Spektrum viele gerieben. Die Kritikpunkte waren zahlreich und reichten beispielsweise von Kampagnenpolitik bis zum Vorwurf, die IL mutiere zum außerparlamentarischen Arm der Linkspartei, die bei der NRW-Landtagswahl am Sonntag nur noch 2,1 Prozent erreichte. Doch auch viele Kritiker der IL würden es bedauern, wenn dieses Bündnis der postautonomen Linken …
… schon nach wenigen Jahren Geschichte würde. Schließlich nahm der Gründungsprozess einige Jahre in Anspruch.
Die ersten Diskussionen um eine verbindlichere Organisierung begann in diesen Kreisen um 2000 herum. Damals stieß die Politik der autonomen Antifa-Bewegung an ihre Grenzen. Andererseits hatte die globalisierungskritische Berwegung durch die Massenproteste gegen das WTO-Treffen in Seattle Hoffnung auf einen neuen globalen linken Aufbruch gemacht.
Nach den Aktionstagen gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm 2007, der von vielen der Akteuren als Erfolg gesehen wurde, nahm der Organisationsprozess der IL Fahrt auf. Doch es dauerte noch bis 2014, bis sich IL als handlungsfähiger Zusammenschluss aufgebaut hatte. Vor allen im Berlin, wo es vier Gründungsgruppen der IL gab, dauerte es bis 2015, bis die Transformation in eine einheitliche Organisation abgeschlossen war.
In den folgenden letzten Jahren war die IL an verschiedenen linken Bündnissen beteiligt, unter anderem an dem Anti-AKW-Bündnis Castor schottern, der Berliner Kampagne Deutsche Wohnen und Co. enteignen, der antimilitaristischen Kampagne Rheinmetall entwaffnen und dem Klimabündnis Ende Gelände.
Ein Kürzel, das nicht alle kennen können
Über manche dieser Arbeitsschwerpunkte hört man viel, doch um die IL ist es in letzter Zeit ruhiger geworden. Das liegt sicherlich auch an der Pandemie, schließlich ist ein Lockdown keine gute Zeit für Bewegungslinke. Doch viele der Aktivisten sahen in der Pandemie nur die Organisationsprobleme besonders deutlich hervortreten. Sie sprachen von einer Krise der IL und hatten vom 2. bis zum 4. Juli 2021 zu einem Kongress nach Berlin eingeladen.
Nun könnte man sich fragen: Was sollte Menschen, die nie viel mit der IL zu tun hatten, ein Reader über die Ergebnisse einer Tagung über die Krise dieser Organisation interessieren, die auch schon wieder fast ein Jahr her ist. Zumal die Dokumentation ihr Verhaftetsein in der eigenen Szene schon im Titel ausdrückt, wo das Kürzel IL gebraucht wird, ohne den Organisationsnamen anfangs auszuschreiben. Das ist typische Fehler von Menschen, die irrtümlich glauben, ihre eigene politische Organisation müsse allen bekannt sein. Aber die IL ist nicht die SPD – in mancher Hinsicht zum Glück, aber das Kürzel ist eben nicht allen bekannt.
Fehlende Klassenperspektive kaum Thema
Ein weiteres Manko der Beiträge liegt darin, dass die fehlende Klassenperspektive, die die IL seit ihrer Gründung begleitete, nicht kritisch diskutiert wird. Betriebsarbeit oder auch Organisierung von Erwerbslosen spielte in der Geschichte der IL nie eine große Rolle. Dafür setzte man auf Kampagnen wie Blockupy gegen den Neubau der Europäischen Zentralbank (EZB) in Frankfurt am Main, der zum Anlass genommen wurde, gegen die neoliberale Politik insgesamt zu protestieren.
Am Rande kam es dort auch zur Verbindung mit damals aktuellen Arbeitskämpfen. Doch das waren Ausnahmen. Die EZB und die Blockaden waren zentral. Als dann die EZB eröffnet war, sollten die Proteste 2016 unter dem Motto „Gegen Rassismus und Sozialabbau“ nach Berlin exportiert werden – und scheiterten. Es wurde klar, dass das Symbol EZB fehlte und die ganz normale Ausbeutung im kapitalistischen Alltag oder die Sanktionsmaschinerie im Jobcenter nicht ausreichten, um die Proteste am Leben zu halten. Hier nicht weiter nachgeforscht zu haben, ist eine Schwachstelle der IL-Kritiker.
Die Probleme der Linken mit dem kapitalkonformen Ich
Zu den besten Texten in der Broschüre gehören die, die sich eben nicht in IL-interne Querelen verbeißen, sondern die objektiven Bedingungen in den Blick nehmen, die es heute linken Gruppen und auch der Linkspartei schwer machen. Darüber machte sich Barbara Imholz in einen Beitrag kluge Gedanken, der in der Tageszeitung junge Welt vorab gedruckt wurde.
Imholz geht in zehn Thesen darauf ein, wie der Digitalkapitalismus auf die Subjekte wirkt – und welche Rückwirkungen dies wiederum auf linke Politik hat. Gleich zu Beginn benennt sie als Problem, dass das neoliberale Credo keine Gesellschaft, sondern nur noch Individuen kennt. Geschichte wird für das Erkennen heutiger Probleme für überflüssig erklärt.
Sichtbar wird dies auch bei der Diskussion um den Ukraine-Konflikt bis in die Linkspartei: Menschen, die darauf verweisen, dass der Kapitalismus immer wieder zu Kriegen führt, werden dort mitunter zu Putin-Verstehern erklärt. Der russische Einmarsch in die Ukraine wird so als singuläres Ereignis einer verbrecherischen Politik erklärt, statt in einen gesellschaftlichen Kontext gesetzt zu werden.
Zudem benennt Imholz eine Moralisierung der Politik. Dadurch wird aber eine politische Differenz in einer konkreten Frage, beispielsweise beim Umgang mit sexuellen Minderheiten, zu einem moralischen Problem und führt auch viel schneller zu Streit und Trennung. Denn politische Fragen bei nicht antagonistischen Widersprüchen können auch in einer Organisation und sogar in einer Partei nebeneinander stehen.
Man kann versuchen, Mehrheiten für die eigene Positionen zu finden. Doch wenn die Differenzen zu moralischen Grundsatzfragen erhoben werden, ist es viel schwieriger, diese Differenzen auszuhalten. Eine Organisation kann eher unterschiedliche politische Standpunkte als eine unterschiedliche Moral aushalten. Besonders bei der „Metoo“-Diskussion in der Linkspartei wird das auch wieder sichtbar. Imholz geht zudem kritisch mit angeblich freiheitlichen Erziehungsmethoden, die aber letztlich vor vor allem Ausdruck des Neoliberalismus sind, ins Gericht:
Progressiv daher kommt die Idee des selbstbestimmten Kindes, dem man nichts vorschreiben möchte und zu dessen freier Entwicklung so wenig Vorgaben wie möglich gemacht werden. Perfide und schwer zu durchschauen sind allerdings die Rahmensetzungen und die ideologischen Vorgaben einer solchen Erziehung. Prämissen werden verschwiegen. Schon Herbert Marcuse hatte mit dem Begriff der repressiven Toleranz auf dieses Phänomen aufmerksam gemacht. Das Kind hat zum Beispiel die Möglichkeit zu wählen, in welcher Gruppe es spielen möchte; nein, es muss wählen. Einmal die Wahl getroffen, liegt es dann in seiner Verantwortung, in dieser Gruppe zu bleiben.
Barbara Imholz / „Kapitalkonformes Ich“ in junge Welt, 29. März 2022
Die Autorin findet dann diese Form der neoliberalen Subjektivierung auch in der Praxis linker Gruppen wieder:
In Teilen der Linken finden wir dies durchaus gut gemeint wieder als Zwang zur Pluralisierung und sogenannten Wahlmöglichkeiten. Es scheint wichtig zu sein, dass es keine Vorgaben gibt, keine Linie, keine Inputs, Vorträge; je mehr Möglichkeiten der Wahl und selbstbestimmten Gestaltung, desto „hochwertiger“ das Angebot.
Barbara Imholz, ebenda
In ihrer letzten These geht die Autorin auf eine Theoriefeindlichkeit ein, die sie auch in diese neue Subjektbildung des kapitalkonformen einordnet:
Das neoliberale Subjekt lerne, dass Formate, Methoden und äußere Gestaltung eine hohe Qualifikation darstellen. In linken Kreisen zeige sich dies durch schnelle Ermüdung durch inhaltliche Beiträge, denen, wenn sie nicht eingebettet sind in moderative Formen, kein Wert zugebilligt wird. Die Reduktion in Schule und Universität auf „Schmalspurinhalte“ führe dazu, dass Theorielosigkeit oder Theoriefeindlichkeit überhandgewinnen.
Die Vervollkommnung des Ich und nicht der Gesellschaft
An Imholz Thesen schließt sich in der Broschüre ein Beitrag einer Julia an, die sich der „neoliberalen Subjektivierung als Problem der Linken“ widmet. Sie kritisiert, dass auch linke Politik als Vervollkommnung des eigenen Verhaltens“ gesehen wird. Es geht eher darum ein besserer Mensch zu werden, als für eine bessere Gesellschaft zu kämpfen.
Die Autorin benennt die Folgen für Linke so:
Ressentiment und Moral scheinen tatsächlich in der bundesdeutschen Linken gegenwärtig oft ein stärkerer Antrieb zu dienen, als die Wut auf die Verhältnisse (…) Man ist traurig und betroffen von der Tatsache, dass andere oder die Erde schlecht behandelt werden, aber kaum noch wütend, dass uns in dieser neoliberal-kapitalistischen Gesellschaft unser aller Leben geraubt werden, um sie zu verwalten und zu verwerten“.
Julia in „Die IL läuft Gefahr, Geschichte zu werden“
Diesen Befund kann man bei den Diskussionen um den Klimawandel, aber auch beim Ukraine-Krieg sowie bei der Metoo-Debatte in der Linkspartei erleben. Daher haben diese Debattenbeiträge einen politischen Mehrwert über den Kosmos der IL hinaus. Sie könnten eine Anregung sein, wieder mehr die objektiven Probleme zu diskutieren, die der linken Politik, ob in kleinen Organisationen, Gewerkschaften oder Parteien immer wieder Grenzen setzen.
Wenn diese objektiven Grenzen nicht benannt werden, wird die Ursache für Erfolglosigkeit linker Politik dann oft in Mitkämpfern oder in Strömungen gesehen, die angeblich mit ihrem Handeln den politischen Erfolg verhindern. Solche Debatten sind dann besonders zerstörerisch und sorgen noch mehr dafür, dass sich Erfolg sicher nicht einstellt. (Peter Nowak)