Mark Richter, Levke Asyr, Ada Amhang, Scott Nikolas Nappaloa (Hg.): SPuren der Arbeit, GeSchichten Von Job und Widerstand, Verlag die Buchmachereii, September 2021, 260 Seiten

Klassen- und Identitätspolitik

Vor allem Operaist*innen betonten in verschiedenen Ländern immer die Bedeutung der Berichte direkt aus der Arbeitswelt. Der Sammelband «Spuren der Arbeit, Geschichten von Jobs und Widerstand» dokumentiert Verzweiflung und Solidarität im Betriebsalltag.

«Greif zur Feder Kumpel» lautete vor fast hundert Jahren der Kampfruf der Arbeiterschriftsteller*innen, die berichten wollten, was sie an ihren Arbeitsplätzen erlebten. «Hau in die Tasten, Kollegin» könnte die zeitgemässe Parole lauten. Es geht eben nicht darum, dass solidarische Sozialwissenschaftler*innen über die Zustände im Job berichten, sondern die Menschen, die dort tagtäglich arbeiten. Die Online-Publikation «Recomposition» war eine Plattform in operaistischer Tradition, betrieben von Mitgliedern der in den USA und Kanada aktiven Basisgewerkschaft Industrial Workers of the World (IWW ). Jetzt wurden zahlreiche Texte im Verlag Buchmacherei in deutscher Sprache herausgegeben. Scott Nikolas Nappalos beschreibt die Vorgeschichte der Plattform in den Organizingwelle nach 1999. Die Gründe lagen auch in dem Aufbruch nach der Battle of Seattle bekannt gewordenen Mobilisierung gegen die Welthandelsorganisation in der traditionell linksliberalen Stadt im Herbst 1999. Schon in der Widmung machen die Herausgeber*innen deutlich, dass sie von der Trennung in …

… Klassen- versus Identitätspolitik nichts halten. Gewidmet haben sie das Buch allen Kolleg*innen, «die in ihrer Praxis Feminismus, Antirassismus und Klassenkampf verbinden». Das ist ganz im Sinne der 23 Autor*innen, viele mit Alias-Namen, die über ihren Arbeitsalltag schreiben. Sie schufteten in der Fastfoodbranche, verdingten sich als LKW-Fahrer*innen, Postangestellte, arbeiteten im Pflegebereich, im Bioladen oder in der Bäckerei. Das Buch ist in die drei grossen Kapitel «Widerstand», «Zeit», «Schlaf und Träume» aufgeteilt. Am Schluss diskutieren die Herausgeber*innen des Buches mit dem ehemaligen Redaktionskollektiv von Recomposition.

Kleine Siege und Teewasser

Im Kapitel «Widerstand» liest man nicht über die grossen Streiks des fordistischen Zeitalters, als Arbeiter*innen gemeinsam die Fabrik verliessen. Heute sind es die kleinen Siege, wenn sich einige Kolleg*innen weigern, den Chef zu duzen. Oder wie im Text unter dem Autor*innennamen anonym zu lesen ist, die Arbeiter*innen sich weigern, ihre in der Pause gekauften Pralinen mit ihren Chef*innen zu teilen. «Aus einer Atmosphäre der Atomisierung und Unterwerfung wurde ein Gefühl von Vertrauen und Selbstachtung». Mark Richter beschreibt auch einen solchen kleinen Sieg im Arbeitsalltag eines Sozialarbeiters, dessen Büro unangekündigt von seinen Chef*innen für eine Arbeitssitzung okkupiert wurde. Auch der Wasserkocher und die Kaffeema- schine waren ihnen damit entzogen. Richter und seine Kollegin beschlossen, die Sitzung zu unterbre- chen, um die Geräte aus dem Raum zu holen. Richter schreibt sehr ehrlich, dass die scheinbar kleine Szene Mut und Entschlossenheit erforderte. «Tatsächlich hatte ein neuer Tag für uns begonnen. Wir gingen als gut funktionierendes Team rein und gingen als Klassenkämpfer*innen raus», lautet das Fazit von Richter. Es hört sich nur auf den ersten Blick etwas pathetisch an. Hat doch Bertolt Brecht in seinem Ge- dicht «Lob des Revolutionärs» dessen Aufgaben sobeschrieben. «Er organisiert seinen Kampf um den Lohngroschen, um das Teewasser.»

Kapitalismus zerstört Träume

Besonders eindrucksvoll ist die Klage über durch die entfremdete Lohnarbeit vergeudete Lebenszeit, über die man im Kapitel «Schlaf und Träume» liest. So schreibt Besherelle et la Lutte, wie schwer es ihr fällt, morgens um fünf Uhr aufzustehen, um in eine winzige Bäckerei zu fahren, wo sie Muffins produzieren muss.Pablo Barbanegra beschreibt die permanente Schlaflosigkeit eines Lehrers, der sich im Unterricht bemüht, die Leidenschaft der Schüler*innen zu fördern und daher viel Vorbereitungszeit braucht. Sein Beitrag endet mit dem Hinweis auf eine Statistik, die besagt, dass fünfzig Prozent der Lehrer*innen in den ersten fünf Jahren den Beruf aufgeben. In Personenverzeichnis erfährt man, dass auch Scott Nikolas Nappalos eine Pause vom Lehrerberuf macht. Es gibt in dem Buch viele Texte, die von Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung geprägt sind und kein Hauch von Solidarität zu spüren ist. So schreibt «Der Unsichtbare» einen Essay über einen pakistanischen Journalisten, der sich für Menschenrechte in seinem Land einsetzte, dafür verfolgt wurde und in Kanada Asyl beantragte. Doch weil die konservative Regierung unter Stephan Harper mit einer Anti-Asyl-Rhetorik Wahlen gewinnen wollte, wurde der alte Journalist plötzlich zur Gefahr und sollte ausgewiesen werden.

Unterdrückungsverhältnisse

Der Beitrag von Grace Parker unter dem Titel «Wie die Rotkehlchen zum Frühling gehören» lässt die Leser*innen ratlos zurück. Die Autorin schreibt über ihre Arbeit «als Kassiererin in einem hippies- ken Lebensmittelladen». Dorthin kamen auch ge- legentlich Obdachlose, die dort wohl «Oogles» ge- nannt werden. «Sie kommen gerne in meinen Laden. Sie sehen den Ort wohl als gute Möglichkeit zum Schnorren. Ein scheinbar progressiver Ort mit radikalen Wurzeln und ein Haufen reicher Leute mit einer Menge bürgerlicher Schuldgefühle.» Dass die Kassiererin in dem Laden Mitglied der IWW ist und für diese Gewerkschaft auch als Organizerin arbeitet, dürfte ja für Oogles von Vorteil sein, könnte man denken. Denn schliesslich waren die historischen Wooblies als Gewerkschaft der Wanderarbeiter*innen, der sogenannten Hobos bekannt, die damals auch vom Bürgertum beschimpft, verfolgt und aus den Städten gejagt wurden. Doch bei der IWW-Organizerin Parker gibt es keinerlei Verständnis für die modernen Hobos. Parker kritisiert ihre Bosse, weil sie Hausverbote gegen die Oogles nicht konsequent genug durchsetzten. Dass ein Obdachloser mit Hausverbot den Laden betreten konnte, sieht Parker als Angriff auf sich, die für die strikte Einhaltung der Hausverbote des Ma- nagements plädiert. «Um des ‹Kundenservice› (und damit des Profits) willen haben meine Chef*innen meine Fähigkeit geopfert, mich diesem Mann gegen- über mächtig zu fühlen», so das Fazit von Parker. Bei diesem Mann handelt es sich um einen Obdachlosen, der mal eine Toilette benutzt oder um was zu Essen bettelt. Diese Geschichte zeigt auch, wie schnell man sich in den unterschiedlichen Unterdrückungsverhältnissen verheddern kann.

Gesprächsstoff

Es wäre zu hoffen, dass solche Geschichten auch Diskussionen unter den Leser*innen von Recomposition ausgelöst hat. Durch die Veröffentlichung der Diskussionen in deutscher Sprache haben wir die Möglichkeit, auch hierzulande darüber zu diskutieren. Dabei haben wir es mit einem mittlerweile historischen Projekt zu tun. Der Blog Recomposition wurde eingestellt. Einige der Verantwortlichen haben mit dem Blog https://organizing.work einen Ersatz geschaffen. Peter Nowak

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