In einer Ausgabe der Zeitschrift Cilip wird die Frage gestellt, ob es wirklich nur positiv zu bewerten ist, dass heute Sexualbeziehungen verstärkt zum Feld von Kontrakten und Justiz werden

Sexualität und Strafe im modernen Kapitalismus

Auch die immer weitere Verrechtlichung aller Lebenssphären passt zu diesem neuen Geist des Kapitalismus, wie auch die Neoliberalisierung des Sexuellen. Beides wird in den Cilip-Beiträgen gut beschrieben. Die Herausforderung einer linken Praxis bestünde darin, bei den berechtigten Kritik am woken Neoliberalismus nicht patriarchale Herrschaftsmuster zu verteidigen und gar einen antifeministischen Backlash mit zu befördern.

Der Schauspieler Chris Noth war nach seiner Rolle in der Serie Sex and the City gut im Filmgeschäft verankert. Auch seine Einnahmen aus Werbeverträgen waren beträchtlich. Doch in den letzten Wochen wurden viele seiner Werbeverträge gekündigt, Schauspielkollegen distanzieren sich von ihm, und Rollen bekommt er auch keine mehr. Der Grund sind Aussagen von drei …

… Frauen, die North des sexuellen Missbrauchs im Lauf der letzten Jahrzehnte beschuldigen. Prozesse wird es deshalb voraussichtlich nicht geben. Es gibt auch keine juristischen Ermittlungen, teilweise sind die vorgeworfenen Taten verjährt.

Hinter den bürgerlichen Rechtsstaat zurück?

Doch Konsequenzen bekommt Noth trotzdem zu spüren. Denn an Stelle des Rechtsstaats tritt die Gesellschaft. Aber ist das fair? Gilt denn nicht die Unschuldsvermutung – also, dass jemand so lange als unschuldig gilt, bis ein rechtskräftiges Urteil vorliegt? Muss Noth denn keinen Raum bekommen, sich gegen die schwerwiegenden Vorwürfe verteidigen zu können? 

Carolina Schwarz

Diese berechtigten Fragen stellt Carolina Schwarz in der taz. Allerdings will sie sie letztlich nicht beantworten. Sie erklärt vielmehr, dass diese Fragen immer wieder auftauchen, „wenn mutmaßlich Betroffene sexueller Gewalt mit ihren Erfahrungen an die Öffentlichkeit gehen“. In der Formulierung steckt schon ein Problem. Schwarz schreibt von mutmaßlich Betroffenen und lässt dann die Distanz vermissen, wenn sie sie „mit ihren Erfahrungen“ an die Öffentlichkeit gehen lässt.

Da fehlt ein distanzierendes Adjektiv, denn mutmaßlich Betroffene können nur mit ihren mutmaßlichen Erfahrungen an die Öffentlichkeit gehen. Von einem Standpunkt des bürgerlichen Rechts müssten die von Carolina Schwarz gestellten Fragen bejaht werden. Natürlich muss der Beschuldigte die Möglichkeit haben, sich gegen die Vorwürfe zu verteidigen, so wie alle Menschen, die irgendwelcher Taten beschuldigt werden.

Würde man das verneinen, wäre es ein Rückfall hinter die Errungenschaften des bürgerlichen Rechtsstaats, dass Beschuldigte sich verteidigen können müssen und dass die Personen, die die Beschuldigungen aussprechen, auch offen und nicht anonym auftreten. Und doch gibt es nicht nur in der linksliberalen woken Öffentlichkeit, sondern auch in großen Teilen der neuen Linken heftige Diskussionen über den Umgang mit solchen Beschuldigungen, wenn sie Fragen der Sexualität betreffen.

Erst vor einigen Monaten wurde in der Initiative Deutsche Wohnen und Co. enteignen in Berlin über den Umgang mit einer solchen Beschuldigung gestritten. Kritik gab es, weil der Beschuldigte das Bündnis verlassen sollte, ohne Gelegenheit zu einer Verteidigung zu bekommen.

Nun ist es eine Sache, wie ein Bündnis, das sich zu einem ganz anderen Zweck zusammengefunden hat, auf solche nicht kalkulierbaren Vorwürfe reagiert. Wenn in einem solchen Fall aber nicht versucht wird, die Vorwürfe aufzuklären, könnte dies tatsächlich bedeuten, dass auch hier hinter die Prinzipien des bürgerlichen Rechtsstaats zurückgegangen wird. Die Staatsanwaltschaft hat nach Angaben des Betroffenen inzwischen die Ermittlungen gegen ihn eingestellt.

Elisabeth Voss hat die Widersprüche auf ihrem Blog im Freitag sowie bei Telepolis gut benannt. Sie geht auf den Doppelcharakter der Definitionsmacht der Person ein, die den Vorwurf von sexueller Gewalt erhebt – in den meisten, aber nicht in allen Fällen ist dies eine Frau.

Einerseits ist es ein Schutz für sie, dass ihr in dem Umfeld, in dem sie lebt und arbeitet, bedingungslos geglaubt wird. Dieses Konzept ist auch ein Ergebnis feministischer Kämpfe, die bewusst das bürgerliche Rechtsverständnis verlassen haben, dem vorgeworfen wurde, blind für patriarchale Gewalt zu sein. Voss bringt die Problematik gut auf den Punkt:

Allerdings ist es wichtig, zwischen der subjektiven Wahrnehmung der Betroffenen und der Feststellung objektiver Tatsachen zu unterscheiden. Selbstverständlich kann die anzuerkennende Wahrheit der Betroffenen nicht gleichsetzt werden mit der objektiven Wahrheit – die oft ohnehin nur sehr schwer oder gar nicht herauszufinden ist, denn dass es in solchen Situationen sehr konträre Wahrnehmungen der Beteiligten geben kann, liegt auf der Hand. Insofern ist es ebenso falsch, davon auszugehen, dass der Beschuldigte aufgrund der Vorwürfe automatisch ein Täter sei, wie es falsch ist, anzunehmen, die Frau hätte gelogen.“ 

Elisabeth Voss

Die Neoliberalisierung des Sexuellen

Es ist kein Zufall, dass solche Debatten vor allem aufkommen, wenn es um angebliche oder tatsächliche sexuelle Verfehlungen geht. Diesem Thema widmet sich die Ausgabe 126 der Zeitschrift Cilip, die den Untertitel „Bürgerrechte und Polizei“ trägt. Die staats- und machtkritische Impetus der Gründerjahre in den späten 1970er-Jahre wird auch in diesen Themenheft deutlich.

So betont die Publizistin Jenny Künkel in ihrem einführenden Aufsatz, dass Cilip „die Engführung der Perspektive auf Polizei und Strafe“ als Lösung vermeiden“ will. Die Kriminologin Daniela Klimke und der Soziologe Rüdiger Lautmann äußern sich in ihren Beiträgen über die „Neoliberalisierung des Sexuellen“ kritisch zu den zunehmenden Skandalisierung sexueller Gewalt in den öffentlichen Medien.

Sie warnen vor einer uferlosen Ausweitung des Begriffs der sexuellen Gewalt und sprechen auch von Moralpaniken. Sie zeichnen die Debatte der letzten 40 Jahre nach. Noch in den 1970er-Jahren habe das kindliche Opfer sexueller Gewalt im Zentrum vor allem konservativer und nicht selten religiöser Kritik an der sexuellen Liberalisierungstendenzen der Gesellschaft gestanden.

Bald verlagerte sich die Debatte auf immer neue erwachsene Opfergruppen. Zum Teil betonen auch Betroffene im Nachhinein, dass sie die Situation, als sie aktuell war, keineswegs als sexuelle Unterdrückung empfunden hätten.

Das macht deutlich, dass ein veränderter Diskurs auch dafür sorgt, dass Menschen Situationen im Nachhinein als sexuelle Gewalt oder Gewaltigkeit erlebten, die sie vorher als gleichberechtigte Beziehung betrachteten – womöglich, weil sie sie aufgrund ihres Selbstbildes oder aufgrund von Erwartungshaltungen Dritter so betrachten wollten.

Nun geht es nicht darum, den Betroffenen diesen nachträgliche Betrachtung abzusprechen, sie gar der Lüge zu bezichtigten. Nur kann das auch für die Zeit gelten, als die betroffenen Personen die Beziehungen noch positiv einschätzten. Hier zeigt sich, wie recht Elisabeth Voss mit ihrer Einschätzung hat, dass eine objektive Wahrheit bei diesen Fragen oft nicht gibt.

Doch die Konflikte um die Bewertung von sexuellen Beziehungen können natürlich nicht getrennt von gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen betrachtet werden. Hier setzen die Beiträge des Cilip-Heftes an, wenn einige der Autorinnen und Autoren von der Neoliberalisierung des Sexuellen sprechen.

Wenn die Lust zum Vertragsverhältnis wird

Daniela Klimke und Rüdiger Lautmann kritisieren einen ausufernden Gewaltbegriff:

Lieferte zunächst ein physisch-materieller Gewaltbegriff im Sinne der Verletzungsmacht und -offenheit von Heinrich Popitz den Maßstab für die strafrechtliche Regulation des Sexuellen, erweiterte die Frauen- und Geschlechterforschung den klassischen Gewaltbegriff, weil er die geschlechtlich unterschiedliche Wahrnehmung der Gewalt übersehe. Maßgeblich wurde nunmehr Johan Galtungs Konzept der strukturellen Gewalt, das die psychisch-materielle Verankerung verlässt. 

Der Gewaltbegriff wurde um eine symbolische Dimension der sozialen Ordnung erweitert und tendiert nunmehr dazu, subjektiviert und damit uferlos zu werden. Statt der manifesten Kennzeichen, die sich an der Verletzung der Körper festmachen, wird damit das individuelle Erleben und Bewerten entscheidend. 

Daniela Klimke, Rüdiger Lautmann, Cilip 126/2021

Beide Autoren sprechen kritisch von der „Verkontraktualisierung der Lust“ und meinen damit, dass jede sexuelle Annäherung an eine andere Person heute zu einem Vertragsverhältnis wird. Verpönt sei alles, was vorher noch Konsens war, etwa „das forsche Vorpreschen und zurückweisen“, das Werben um das andere Geschlecht, das je nach Temperament immer unterschiedlich war.

Beide Autoren sehen hier nicht nur einen Fortschritt gegen einen mutmaßlich sexistischen Umgang und sehen bei diesen jetzt verpönten Annäherungsversuchen die Frau auch nicht immer als Opfer.

Vielmehr hatte sie dabei eine wichtige Rolle und konnte die Art und Dauer dieser Versuche durchaus mitbestimmen oder auch abbrechen. Davon unterschieden sind natürlich die vielen sexuellen Angriffe auf Frauen, wenn die Männer deren Willen brachen oder einfach ignorierten. Der heutige Gewaltbegriff macht da oft zu wenig Unterschiede.

Lautmann und Klimke sprechen auch die Kehrseite der Dominanz des Sexuellen an, die sie in der Ausblendung anderer Gewaltverhältnisse sehen: „Die strukturellen Benachteiligungen in der Lohnungleichheit, der Unterrepräsentanz von Frauen in Führungspositionen, den Karrierechancen, dem mangelnden Mut zu Unternehmensgründungen bis hin zu mikrosoziologischen Befunden der alltäglichen Arbeitsteilung in Beruf und Familie (…) lassen sich nicht auf sexuelle Gewalt und nicht einmal auf einen strukturellen Sexismus reduzieren.“

So kann man konstatieren, dass immer neue Opfergruppen entdeckt werden, für die es Instanzen der Betreuung und Beratung bedarf. Denn Opfer sind ja vulnerable Gruppen, wie es heute heißt, die geschützt werden müssen. Gleichzeitig haben es Frauen, die auf die vielfältigen Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnisse, die sich nicht aus Sexismus ableiten lassen, umso schwerer, sich Gehör zu verschaffen.

Die Texte der Cilip-Ausgabe regen an, darüber nachzudenken, wie die geschilderte Neoliberalisierung des Sexuellen mit dem neuen Geist des Kapitalismus zusammenhängt, den die französischen Soziologen Luc Boltanski und Eve Chiapello in ihren gleichnamigen vielzitierten Standardwerk vor über 20 Jahren untersucht haben.

Dort analysieren sie, wie der neue Geist des digitalen Kapitalismus viele von den Autoren als Künstlerkritik bezeichneten Forderungen der 1968er-Bewegung aufgegriffen und integriert hat. Daraus ist als neues Modell des woken Neoliberalismus entstanden, der alle Normen in Frage stellt, nur nicht die, der kapitalistischen Ausbeutung und Mehrwertproduktion.

Auch die immer weitere Verrechtlichung aller Lebenssphären passt zu diesem neuen Geist des Kapitalismus, wie auch die Neoliberalisierung des Sexuellen. Beides wird in den Cilip-Beiträgen gut beschrieben. Die Herausforderung einer linken Praxis bestünde darin, bei den berechtigten Kritik am woken Neoliberalismus nicht patriarchale Herrschaftsmuster zu verteidigen und gar einen antifeministischen Backlash mit zu befördern.

Es gilt vielmehr, an die vielfältigen feministischen Konzepte anzuknüpfen, die mit dem Patriarchat auch den Kapitalismus theoretisch und praktisch infrage stellten. Die Namen der Protagonistinnen und Protagonisten ist lang, mit Alexandra Kollontai und Frigga Haug sollen nur zwei von sehr vielen genannt werden. (Peter Nowak)