Noam Chomsky: Über Anarchismus. Beiträge aus vier Jahrzehnten. Ausgewählt, übersetzt und kommentiert v. Rainer Barbey. Verlag Graswurzelrevolution, 246 S., br., 17,90 €.

Revolutionär, ohne Illusionen

Noam Chomsky benennt politische Grundsätze, die wohl auch die meisten Sozialist*innen und Kommunist*innen heute unterschreiben können. Interessant für Leser hierzulande dürfte sein, dass er sich in mehreren Texten als ein großer Verehrer des Universalgelehrten Wilhelm von Humboldt erweist, den er als Vorbild eines engagierten Intellektuellen interpretiert.

Der US-amerikanische Linguist Noam Chomsky gehört zu den einflussreichsten linken Intellektuellen. Er hat in seinem langen Leben immer wieder kritisch über innenpolitische Themen in seinem Land geurteilt. Bekannt sind auch seine streitbaren Interventionen zur Nahostpolitik, ebenso seine Unterstützung der kurdischen Nationalbewegung. Weniger wohl, dass er sich seit Jahrzehnten als Anarchist bezeichnet. »Als ich zwölf Jahre alt war, habe ich angefangen, in New Yorker Antiquariate zu gehen. Viele von ihnen wurden von Anarchisten betrieben, die aus Spanien stammten. Deshalb erschien es mir damals ganz natürlich, Anarchist zu sein«, erklärt Chomsky. Jetzt hat der Verlag Graswurzelrevolution, der sich der Geschichte der libertären Bewegung widmet, Beiträge von Chomsky …

… zum Anarchismus aus vier Jahrzehnten in einem Buch zusammengestellt
»Man muss Chomskys Ideen zur industriellen Gesellschaftsorganisation, seinen Glauben an die emanzipatorischen Kräfte der Technik und seine reformistische Haltung zur staatlichen Autorität nicht teilen, die Auseinandersetzung mit seinen kritischen, von großer analytischer Schärfe zeugenden Einsichten lohnt allemal«, stimmt Herausgeber Rainer Barbey die Leser*innen auf die Lektüre der sieben sehr unterschiedlichen Texte ein.
Das Buch beginnt mit einem Interview, das der Journalist Peter Jay 1976 mit Chomsky für einen Londoner Sender unter der Überschrift »Warum sind Sie ein Anarchist?« führte. Darin hob der Befragte den fließenden Übergang seiner Version des Anarchismus zu den Spielarten des Marxismus etwa von Rosa Luxemburg und dem Rätekommunismus des Niederländers Anton Pannekoek hervor, der sich auch zu einer von Arbeiterräten geleiteten Planwirtschaft bekannte.
Beim zweiten Text handelt es sich um Aufzeichnungen, die Chomsky bei Seminaren mit Aktivist*innengruppen in den Jahren 1989 bis 1996 erstellt hat. Dort verteidigte er seinen anarchistischen Reformismus, der ihn dazu brachte, in US-Wahlkämpfen für die Kandidat*innen der Demokratischen Partei einzutreten, ohne sich Illusionen über diese prokapitalistische Partei zu machen. »Einige Leute mögen das Reformismus nennen – aber das ist abwertend formuliert. Reformen können ziemlich revolutionär sein, wenn sie in eine bestimmte Richtung führen«, beharrte Chomsky.
Der Vordenker einer neuen, gerechteren Gesellschaft riet seinen Genoss*innen, die Strukturen des Wohlfahrtsstaates gegen die wirtschaftsliberalen Sozialstaatszertrümmerer*innen à la Margaret Thatcher zu verteidigen, der britischen Premierministerin und sogenannten Eisernen Lady. »Der anarchistischen Weltsicht ungeachtet, glaube ich daher, dass bestimmte Komponenten des Staatswesens, die beispielsweise sicherstellen, dass Kinder zu essen haben, verteidigt werden müssen – und zwar äußert vehement«, stellt Chomsky klar.
Ebenfalls wieder abgedruckt im Buch sind Chomskys »Anmerkungen zum Anarchismus«, die er 1973 als Vorwort für ein von Daniel Guérin, einem französischen Anarchisten, herausgegebenes Buch über anarchistische Praxis schrieb. Dort befasste er sich mit den wechselhaften Kontakten zwischen Marxist*innen und Anarchist*innen.
Der umfangreichste Text in dem hier anzuzeigenden Buch ist ein mit »Sprache und Freiheit« überschriebener Aufsatz, in dem sich Chomsky mit der Entwicklung der Sprache in der menschlichen Gesellschaft befasst.
Der Band schließt mit einem »Ziele und Visionen« überschriebenen Kapitel, in dem sich Chomsky 1996 sehr detailliert mit der Geschichte der Spanischen Revolution der Jahre 1936 bis 1939 auseinandersetzte und dabei vor allem die starke anarchosyndikalistische Bewegung in den Fokus rückte. »Ich glaube, in der heutigen Welt sollte es das Ziel eines engagierten Anarchisten sein, einige staatliche Institutionen gegen die auf sie gerichteten Angriffe zu verteidigen und dabei schließlich zu versuchen, sie einer sinnvollen Beteiligung der Öffentlichkeit zu erschließen – und sie letztendlich in einer weitaus freieren Gesellschaft abzubauen, wenn die entsprechenden Bedingungen dafür geschaffen wurden.«
Noam Chomsky benennt politische Grundsätze, die wohl auch die meisten Sozialist*innen und Kommunist*innen heute unterschreiben können. Interessant für Leser hierzulande dürfte sein, dass er sich in mehreren Texten als ein großer Verehrer des Universalgelehrten Wilhelm von Humboldt erweist, den er als Vorbild eines engagierten Intellektuellen interpretiert.

Erstveröffentlichungsort: