Ohne Begriffe keine Eingriffe

 
 Erinnerung an einen linken Intellektuellen – von Peter Nowak

Christian Riechers: »Die Niederlage in der Niederlage. Texte zu Arbeiterbewegung, Klassenkampf, Faschismus«, herausgegeben, eingeleitet und kommentiert von Felix Klopotek, Münster 2010, ISBN: 978-3-89771-453-3, 576 Seiten, 28 Euro

 Immer wieder entdecken Linke den Charme von Extremismus- und Totalitarismustheorien, um die Irrwege linker Theorie und Praxis zu erklären. Dabei wird ignoriert, dass es häufig Dissidenten der Arbeiterbewegung und der Linken waren, die den Stalinismus und andere linke Irrwege schon früh mit analytischer Schärfe kritisierten, ohne auf die rostigen Requisiten aus dem Fundus der Totalitarismustheorie zurückzugreifen. Der Münsteraner Unrast-Verlag will mit seiner Reihe »Dissidenten der Arbeiterbewegung« einige dieser heute weitgehend vergessenen linken Theoretiker und Aktivisten einer größeren Öffentlichkeit zugänglich machen.
Gleich mit dem ersten Band hat der Verlag einen Glücksgriff getan. Der Kölner Publizist Felix Klopotek hat den Nachlass des 1973 mit 57 Jahren verstorbenen Hannoveraner Politologen Christian Riechers herausgegeben. Bis zu seiner schweren Krankheit lehrte und forschte Riechers an der Universität Hannover und engagierte sich dort besonders in der Erforschung der lokalen Arbeiterbewegung. Doch daneben beschäftigte er sich seit Mitte der 60er-Jahre vor allem mit jenen Linken bzw. Kommunisten Italiens, die in den ersten Jahren der 1919 gegründeten Kommunistischen Internationale (der sog. Dritten Internationale,kurz Komintern) eine zentrale Rolle spielten, aber aus der ›nominalsozialistischen‹ Geschichtsschreibung ausgeblendet wurden oder als verfemt galten. Zu nennen ist dabei in erster Linie der erste Vorsitzende der KPI, Amadeo Bordiga. Als Riechers in den 60er-Jahren seine Studien zur Geschichte der italienischen Kommunisten aufnahm, war Bordiga weitgehend vergessen. Riechers wollte in Italien eigentlich über Antonio Gramsci forschen. Dieser war damals in den Teilen der Linken, die kritisch zum Nominalsozialismus  standen, das große historische Vorbild, hatte er doch schon früh Fehlentwicklungen in der Sowjetunion kritisiert. Gramscis Hegemonietheorie schien zudem für die akademische Linke der 60er- und 70er-Jahre der Schlüssel zur Veränderung der Gesellschaft. Dass Gramsci an den Folgen der faschistischen Haft verstorben war, erhöhte sein Ansehen bei ihnen. Doch Riechers, der auf den Spuren von Gramsci nach Italien gegangen war, wurde zu dessen schärfstem Kritiker. Er traf in Italien noch mit Angehörigen der ersten Generation der italienischen Kommunisten zusammen, unter anderem mit Amadeo Bordiga. In den folgenden Jahren sollten ihn die Auseinandersetzungen der frühen italienischen kommunistischen Bewegung nicht mehr loslassen – wie sich in dem nun vorliegenden Band zeigt.
Der Band enthält zum einen Texte, die verstreut in wissenschaftlichen Zeitschriften und anderen Publikationen veröffentlicht sind, zum anderen aber auch bislang unveröffentlichte Manuskripte, die Klopotek durch Recherchen im bis dahin ungesichteten Nachlass des Autors bergen konnte.
Riechers beginnt mit seiner programmatischen Schrift »Arbeiterklasse und Faschismus« (S. 52) und endet mit dem nicht mehr vollendeten, nur handschriftlich erhaltenden und hier jetzt veröffentlichten Aufsatz »Amadeo Bordiga: Unperson, Abweichler, Altmarxist« (S. 546ff.). Darin kritisiert Riechers u.a. eine bestimmte Art der auch in der Linken populären »Renegatenliteratur«. So schreibt er über Bordiga: »Als historischer Materialist … konnte er, der 1926 den gefürchteten Stalin aus der Reserve lockte und zu Eingeständnissen eigener menschlicher Schwächen zwang, auch ›keinem Gott, der keiner war‹, abschwören.« Er nimmt damit Bezug auf den Titel einer von Arthur Köstler herausgegebenen Abrechnungsschrift ehemaliger Kommunisten, die – anders als Bordiga – tatsächlich an Stalin geglaubt hatten.
Riechers Texten merkt man die Sympathie für das Lebenswerk von Bordiga an, trotzdem bleibt er auch ihm gegenüber kritisch. Vor allem zu Bordigas politischen Epigonen, die sich in verschiedenen kleinen Gruppen und Zirkeln organisieren (in Deutschland gibt eine der Gruppen seit Jahren die Publikation Weltrevolution heraus), bleibt er auf Distanz. Klopotek weist in seiner Einleitung darauf hin, dass Riechers niemals Mitglied eines bordigistischen Zirkels gewesen sei, vielmehr misstrauisch von »echten« Bordigsten beäugt wurde, als er Ende der sechziger Jahre eine kommentierte Übersetzung und Werkausgabe plante (S. 26). In zahlreichen der in dem Buch dokumentierten Aufsätze, Vorträge und Rezensionen kritisiert Riechers Antonio Gramsci als maßlos überschätzten Theoretiker, weil »die Figur Gramscis zu einem Ursprungsmythos der italienischen Kommunistischen Partei geworden ist, deren Konturen lange Zeit in der Geschichte verschwammen«. (S. 134). In dem hier erstmals schriftlich veröffentlichten Rundfunkbeitrag: »Gramsci – eine nicht notwendige Legende« (S. 170) wirft er ihm auch vor, die italienische KP Mitte der 20er Jahre auf die Linie der Komintern gebracht zu haben. Trotzdem bezeugt Riechers Respekt vor Gramscis Lebensweg: »Die größte Tragik Gramscis lag darin, dass er in den beiden Lebensabschnitten, in denen sich sein Denken entwickelte und dann seinen Abschluss fand, er dies völlig auf sich allein gestellt tat.« (S. 140ff.).
 
    Vorarbeiten zur Fabrik und Arbeitswelt

 Neben der Riechers Leben begleitenden Auseinandersetzung mit der italienischen Linken findet sich in dem Buch ein Aufsatz über eine Begegnung mit dem Linkssozialisten Willy Huhn, einem sowohl von ›Nominalsozialisten‹ als auch von der Sozialdemokratie weitgehend ignorierten Dissidenten der deutschen Arbeiterbewegung. Äußerst aufschlussreich sind auch die meist kurzen persönlichen Notizen, mit denen Riechers auf aktuelle Ereignisse im Wissenschaftsbetrieb eingeht. Dort setzt er sich auch ironisch mit linken Kollegen auseinander, die sich allmählich in verbeamtete Marx-Exegeten verwandeln. »Sie starren gebannt auf die Gazetten, die sie anspringern und anfazen, und sehen voraus, dass ihre Öffentlichkeit begrenzt, ja eliminiert werden soll, wie diese Gazetten das fordern«. (S. 174) In einem Kurztext macht sich Riechers über »die Sprache der ozialwissenschaftlichen Intelligenz« lustig:
»ohne begriffe keine eingriffe, ohne begreifen kein eingreifen. aber dann bitte begriffene und keine abgegriffenen. und vor allem nicht beim verwenden der abgegriffenen, ungriffig gewordenen begriffe noch die miese haltung des akademischen näselns«. (S. 172; Kleinschreibung i.O.). In den letzten Jahren widmete sich Riechers verstärkt der Erforschung der Regionalgeschichte im Raum Hannover und plante eine längere wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Veränderungen im Fabriksystem. Zahlreiche Notizen dazu sind in dem Buch dokumentiert, aber auch Riechers Schwierigkeiten mit dem Thema. Leider ist Riechers wegen seines frühen und plötzlichen Tods nicht mehr dazu gekommen, das Thema weiterzubearbeiten. Allein die erhaltenen Vorarbeiten machen deutlich, was uns da entgangen ist.

So schreibt er 1986 in den »Thesen zum industriellen  Konstitutionalismus«: »[D]ie konflikte von lohnarbeit und kapital in den fabriken können auch durch staatliches dazwischentreten geschlichtet werden, der staat bleibt aber so lange draußen, bis er gerufen wird. clearingstelle bleibt auf der seite der lohnarbeit der betriebsrat, der wegen seiner gesetzlich orgeschriebenen ‚friedenspflicht’ als vorgeschobene position der am sozialen frieden interessierten zu sehen ist, obwohl diesem instrument in einigen fällen auch die militante vertretung der arbeiterforderungen gegen die kapitalseite zugekommen ist. der betriebsrat ist nicht deswegen reaktionär, weil die gesetzlichen bestimmungen seine funktionen beschränken, sondern – wenn er reaktionär sein sollte – weil sich die reaktionären betriebsräte daran halten, überhaupt nicht darüber hinaus wollen.« (S. 432)

In den Notizen häufen sich die Klagen über die zunehmende Marginalisierung marxistischer Lehre und Forschung an den Hochschulen ab Ende der 70er Jahre. Gelegentlich äußert Riechers – im Zuge der Terrorismushysterie der 70er Jahre – auch seinen Widerwillen gegen eine Verteufelung von linken Vorstellungen. Insgesamt fällt allerdings auf, wie sparsam Riechers die aktuellen politischen Themen seiner Zeit kommentiert. Die den linken Wissenschaftsbetrieb in jenen Jahren stark tangierende Praxis der Berufsverbote bleibt ebenso ausgeblendet wie die Entlassung des linken Sozialpsychologen Peter Brückner, der sich nicht vom Nachdruck des Buback-Aufrufs distanzieren wollte.

Diese Leerstelle ist besonders verwunderlich, weil Brückner ebenfalls in Hannover lehrte und dort eine starke Solidaritätsbewegung existierte. Ob es Desinteresse oder die Vorsicht eines linken Intellektuellen waren, die Riechers hier schweigen ließen? Das Buch regt zu vielen Fragen an. Mit der Herausgabe dieses Bandes haben sich Felix Klopotek und der Unrast-Verlag in doppelter Hinsicht Verdienste erworben. Sie haben nicht nur einen linken Intellektuellen wieder entdeckt, der – obwohl noch nicht zwei Jahrzehnte tot –weitgehend vergessen war. Mit den Texten wird ein Fundus linker Theorie präsentiert, an die wir auch heute noch kritisch anknüpfen können.

 erschienen im express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, Nr. 7/2010 

Im Internet:
www.express-afp.info, www.labournet.de/express

 

  Peter Nowak


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