Nahost-Konflikt: Israel ist nicht allein schuld

Wer erwartet, dass in dem Buch auch die Fehler und Versäumnisse der israelischen Seite angesprochen werden, wird enttäuscht. Wer aber etwas von den Enttäuschungen liberaler und linker Israelis über Positionen der Palästinenser*innen erfahren will, sollte diese Publikation unbedingt lesen. Es hebt sich positiv von manchen linken Texten ab, für die Israel im Nahost-Konflikt der allein schuldige Part ist.

Anfang Juli gab es einen Einsatz der israelischen Armee gegen ein palästinensisches Flüchtlingscamp in Dschenin in der Westbank, das in der Vergangenheit immer wieder Ort von Auseinandersetzungen zwischen militanten Palästinenser*innen und der israelischen Armee war. Man mag sich fragen, warum es 2023 überhaupt noch immer palästinensische Flüchtlingscamps auf einem Territorium gibt, auf dem nach UN-Beschlüssen längst ein palästinensischer Staat an der Seite Israels entstanden sein sollte. Ein kürzlich erschienenes Buch versucht einige Antworten zu bieten. Der Untertitel »Wie die westliche Nachsicht für den palästinensischen Traum den Frieden behindert hat« lässt bereits vermuten, dass hier eine Position von …

… israelischer Seite vorgetragen wird. Allerdings handelt es sich bei den Herausgeber*innen, dem Journalisten Adi Schwartz und der sozialdemokratischen Politikerin Einat Wilf, um zwei liberale Israelis, die sich über viele Jahre für eine Zwei-Staaten-Lösung eingesetzt haben. Gerade das macht das Buch so lesenswert. Denn die Autor*innen teilen mit vielen progressiven Israelis die Enttäuschung, dass nach dem Abkommen von Oslo vor nunmehr exakt 30 Jahren keine größeren Anstrengungen unternommen wurden, um endlich zu einer friedlichen Koexistenz zwischen dem israelischen und einem palästinischen Staat zu gelangen. Für Schwartz und Wilf ist der Grund hierfür die Flüchtlingsfrage.

Die Vereinten Nationen schätzen die Zahl der Palästinenser*innen, die zwischen 1947 und 1949 das Mandatsgebiet Palästina verlassen haben, auf 500 000 bis 900 000. Ein Drittel blieb innerhalb der Grenzen des Mandatsgebiets Palästina beziehungsweise dann Israels, entweder im von Jordanien besetzten Westjordanland oder im von Ägypten besetzten Gazastreifen. Ein Drittel der Palästinenser*innen siedelte sich in den arabischen Nachbarländern Libanon, Syrien, Transjordanien und Ägypten an. Ein weiteres Drittel ging nach Europa oder in die USA. Heute beanspruchen all jene Palästinenser*innen den Status von Flüchtlingen, darunter jene von Dschenin im Westjordanland.

Schwartz und Wilf beschreiben sehr präzise, wie es im Zuge der Gräuel des Krieges, bei dem die arabischen Nachbarländer den jungen jüdischen Staat vernichten wollten, zu Vertreibungen von Teilen der palästinensischen Bevölkerung gekommen ist. Sie betonen jedoch, dass es keinen lange vorbereiteten Plan dafür gegeben hat, wie von arabischer Seite immer wieder behauptet wird. Allerdings hätten die israelischen Politiker*innen selbst kein Interesse gezeigt, die teils extrem feindselige palästinensische Bevölkerung wieder in ihren ursprünglichen Häusern anzusiedeln. Deren Beharren auf die Rückkehr wird bis heute durch die Schlüssel symbolisiert, die viele Familien von ihrem Ende der 40er Jahre verlassenen Haus aufbewahrt haben und über Generationen weitergeben. Für Wilf und Schwartz ein Zeichen dafür, dass sich viele Palästinenser*innen bis heute nicht mit der Existenz des Staates Israel abgefunden haben.

Schwatz und Wilf verweisen darauf, dass es für Israel keine rechtliche und völkerrechtliche Verpflichtung gebe, die Flüchtlinge in ihre alten Städte zurückkehren zu lassen. Sie erinnern an die Flucht und Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus ost- und südosteuropäischen Staaten nach 1945. Noch bis in die frühen 70er Jahre hätten die oft sehr rechtslastigen Verbände der deutschen Flüchtlinge und Vertriebenen vehement an einer sogenannten Heimkehr festgehalten und alle jene Menschen diffamiert, die daran zweifelten. Erst im Zuge der Entspannungspolitik zwischen Ost und West verloren deren Verbände an Macht und Einfluss. Zudem seien die Flüchtlinge in deutschen Städten frühzeitig integriert worden, was revanchistischen Forderungen den Boden entzogen habe. Ähnliche Integrationsbemühungen seien in Nahost jedoch von palästinensischer Seite immer wieder als Verrat zurückgewiesen und stattdessen die Frage der Rückkehr emotional aufgeladen worden. Wer erwartet, dass in dem Buch auch die Fehler und Versäumnisse der israelischen Seite angesprochen werden, wird enttäuscht. Wer aber etwas von den Enttäuschungen liberaler und linker Israelis über Positionen der Palästinenser*innen erfahren will, sollte diese Publikation unbedingt lesen. Es hebt sich positiv von manchen linken Texten ab, für die Israel im Nahost-Konflikt der allein schuldige Part ist. Peter Nowak