der Freitag: Herr Kunze, Sie beschäftigen sich schon lange mit dem Thema Autobahnbau im Nationalsozialismus. Wie kommt man denn darauf? …
… Conrad Kunze: Ich bin seit Jahren Teil der Klimagerechtigkeitsbewegung und habe mich in Halle, wo ich lange gewohnt habe, gegen den Bau der A 143 engagiert. Dabei habe ich die enormen Aggressionen der Autobahnbefürworter mitbekommen, bevor es überhaupt zu einem argumentativen Austausch gekommen ist. Diese Reaktionen waren für mich ein Indiz, dass bei den Verteidigern des Automobils etwas Vorpolitisches dabei ist, dem man mit politökonomischen Argumenten allein nicht beikommen kann.
Was hat das mit dem NS zu tun?
Na ja, ich bin bei meinen Recherchen auf die Psychoanalytikerin Gudrun Brockhaus gestoßen, die zur Sozialpsychologie im Nationalsozialismus geforscht hat. Ihr Buch Schauder und Idylle: Faschismus als Erlebnisangebot war für meine Forschung zur Geschichte der Autobahnen sehr wichtig.
Man hätte denken können, der NS forcierte den Autobahnbau, um sich populistisch bei den Massen anzubiedern. Aber wie passt das mit Ihrer These zusammen, dass noch 1933 der Autobahnbau bei den breiten Massen unbeliebt war?
Die kollektive Erinnerung hat da die Anfangsjahre verdrängt. In den Jahren 1933 bis 1936 wurde die Autobahn in großen Teilen der Bevölkerung, vor allem in der Arbeiterschaft, mit Arbeitszwang und Hungerlöhnen in Zusammenhang gebracht. Im Volksmund wurde die Autobahn auch „Hunger- und Elendsbahn“ genannt. Erst danach wurde die NS-Propaganda auch in größeren Teilen der Bevölkerung übernommen.
Also haben die Nazis die Autobahnen in Deutschland erst richtig populär gemacht?
Es war das erklärte Ziel der Nazis, das Auto zu popularisieren. Hitler wollte dem Auto seinen Klassencharakter nehmen. Es galt bis dahin als Elitenprojekt, das nur von Reichen genutzt wurde. Mit dem Begriff Volkswagen sollte da gegengesteuert werden. Das war erfolgreich in der Nachkriegszeit, weil da erst das NS-Programm vom „Auto für Alle“ umgesetzt wurde.
Woher kommt diese Autobegeisterung der Nazis? Hat das etwas damit zu tun, dass die fossile Industrie pro-Hitler war?
Ja. Dafür gibt es viele Beispiele: Der IG-Farben-Konzern hat Hitler früh unterstützt. Der Konzernvorstand Heinrich Bütefisch hat vor der entscheidenden Sommerwahl 1932 mit Vertrauten von Hitler konferiert. Bütefisch hat im Nürnberger Kriegsverbrecher-Prozess ausgesagt, Hitler habe bei dem Treffen neben dem forcierten Autobahnbau die Förderung von synthetischen Benzin in Deutschland versprochen. Schon 1926 gab es Anfänge dieser Produktion, die aber keinen Erfolg brachten. Nach der Zusage Hitlers erklärte auch Bosch, dieser Hitler sei vernünftiger, als er gedacht habe.
Sie gehen auch auf die philosophischen Hintergründe der Autobahnbegeisterung der Nazis ein, indem Sie den Futurismus in den Blick nehmen. Welche Verbindung sehen Sie da? Die Nazis bezogen sich in ihren Schriften meines Wissens nicht direkt auf den Futurismus. Aber die Klammer ist der extreme Nationalismus und ein forcierter Männlichkeitskult, der mit einer Abwertung der Frauen verbunden ist. Bekannte Exponenten des Futurismus haben den italienischen Faschismus unterstützt. Giovanni Pappini etwa verband in seinen Texten extremen Nationalismus mit Metaphern aus der Autowelt:“Das Blut ist das Schmieröl der Räder dieser Maschine, die von der Vergangenheit bis in die Zukunft fliegt. Damit übertraf er noch den Gründer des Futurismus Filippo Tommasso Marinetti, der als Mussolin-Anhänger mehrere Jahre im Zentralkomitee der Faschistischen Partei saß. In der massenmedialen Werbung für die Autobahn sind zahlreiche futuristische Elemente enthalten. Keine Bewegung hat das Auto vor den Nazis so sehr abgefeiert wie die Futuristen.
Sie gehen auch auf einen Arbeiterwiderstand beim Autobahnbau während des NS ein. Können Sie einige Beispiele nennen?
Es gab bis 1935 Streiks gegen die Hungerlöhne und die schlechten Arbeitsbedingungen. Der britische Guardian berichtete über einen solchen Streik auf den Autobahn im Jahr 1935. Die Nazis sprachen von „offener Meuterei“ und versuchten die Arbeitskämpfe durch die Verhaftung angeblicher Rädelsführer zu unterdrücken, während ein Teil der sozialen Forderungen der Streikenden erfüllt wurde.
Gab es damals schon eine linke Kritik am Automobilismus. Oder ist das ein modernes Phänomen?
Da fällt mir der Schriftsteller Ilja Ehrenburg ein: Der hat in seinem Roman Das Leben der Autos 1930 eine engagierte und noch immer lesenswerte Polemik der Autogesellschaft geleistet. Dabei verweist er auf die miserablen Arbeitsbedingungen der Kautschuk-Arbeiter im globalen Süden.
Welche Rolle spielte die Zwangsarbeit beim Autobahnbau?
KZ-Häftlinge wurden für den Autobahnbau zwangsverpflichtet. Nach 1939 mussten jüdische und dann auch polnische und sowjetische Zwangsarbeiter für die Autobahn schuften. Innerhalb der Geschichte der NS-Zwangsarbeit ist es sicher ein kleinerer Teil. Wenn man wenn aber auf den Autobahnbau im NS blickt, spielt die Zwangsarbeit durchaus eine Rolle. Die Firmen, die Zwangsarbeiter beim Autobahnbau beschäftigten, sind bei der Diskussion über Entschädigung kaum erwähnt worden. Es wäre an der Zeit, dass an den Autobahnabschnitten, die von Zwangsarbeitern gebaut wurden, mit Gedenktafeln erinnert wird.
Haben Sie das Buch auch verfasst, um die Klimagerechtigkeitsbewegung antifaschistisch zu grundieren?
Lena Fiedler hat aus unserem Interview für die Berliner Zeitung diesen Satz für den Untertitel ausgewählt: „Das Tempolimit ist ein Beitrag zur Entnazifizierung“. Bei Twitter war das für einige Aufregung gut. Aber es stimmt: Jeder weitere Meter Autobahn in Deutschland ist quasi eine Fortsetzung von Hitlers erster Spatenstich im September 1933. Mit einem Stop weiterer Autobahnbauten könnten wir das Hitlersche Projekt endlich beenden.Das Gespräch führte Peter Nowak
https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/autobahn-historiker-findet-autobahn-projekte-nationalistisch