Der Arbeit auf der Spur - Peter Nowak über dekomponierte "Arbeiter-Literatur"

Widerständigkeiten im Neoliberalismus

Mark Richter, Levke Asyr, Ada Amhang, Scott Nikolas Nappalos (Hg.) Spuren der Arbeit, Geschichten von Jobs und Widerstand, Verlag Die Buchmacherei, September 2021, 260 Seiten, ISBN 978-3-9823317-1-3, 14 Euro

„Greif zur Feder Kumpel“ lautete vor fast hundert Jahren der Kampfruf der Arbeiterschriftsteller*innen, die berichten wollten, was sie an ihren Arbeitsplätzen erlebten. In der DDR wurde diese Bewegung mit dem Bitterfelder Weg verstaatlicht. In der BRD gab es in den 1970er Jahren mit den Werkkreis Literatur der Arbeitswelt und ähnlichen Projekten erneut den Versuch, Berichte aus der Arbeitswelt zu veröffentlichen.Vor allem Operaist*innen haben in verschiedenen Ländern immer die Bedeutung solcher Berichte betont Es geht eben nicht darum, dass solidarische Sozialwissenschaftler*innen über die Zustände im Job berichten, sondern die Menschen, die dort tagtäglich arbeiten, selbst schreiben. Davon scheint heute kaum etwas übrig geblieben. Doch der Eindruck täuscht. Mark Richter, Levke Asyl, Ada Anhang und Scott Nikolas Nappas haben mit ihrem Buch „Spuren der Arbeit, Geschichten von Jobs und Widerstand“ eine Sammlung von …

… solchen Geschichten aus den USA vorgelegt. In diesem jüngst auf Deutsch erschienenen Buch liest man nicht über die großen Streiks des fordistischen Zeitalters, als Arbeiter*innen gemeinsam die Fabrik verließen.Beschrieben werden vielmehr die kleinen Siege, wenn sich einige Kolleg*innen weigern, den Chef zu duzen oder sich weigern, ihre in der Pause gekauften Pralinen mit ihren Chef*innen zu teilen. dass sie von der Trennung in Klassen- versus Identitätspolitik nichts halten. Gewidmet haben sie das Buch allen Kolleg*innen, die in ihrer Praxis Feminismus, Antirassismus und Klassenkampf verbinden“. Das ist ganz im Sinne der 23 Autor*innen, viele mit Alias-Namen, die über ihren Arbeitsalltag schreiben. Sie schufteten in der Fastfoodbranche, verdingten sich als LKW-Fahrer*innen, Postangestellte, arbeiteten im Pflegebereich, im Bioladen oder in der Bäckerei. Das Buch ist in die drei großen Kapiteln Widerstand, Zeit, Schlaf und Träume aufgeteilt. Beschrieben werden kleine und große Auseinandersetzungen im betrieblichen Alltag. Zum Beispiel, die vom Sozialarbeiter, dessen Büro unangkündigt von seinen Chef*innen für eine Arbeitssitzung okkupiert wurde. Auch der Wasserkocherund die Kaffeemaschine waren ihm und seiner Kollegin damit erzogen. Erzählt wird im Text, wie sie beschließen, die Sitzung zu unterbrechen, um die Geräte aus dem Raum zu holen. An dieser kleinen Szene beschreibt der Autor, welchen Mut und welche Entschlossenheit es manchmal selbst im Kleinen benötigt.

Eindrucksvoll ist auch die Klage über durch die entfremdete Lohnarbeit vergeudete Lebenszeit über die man im Kapitel „Schlaf und Träume“ liest. So schreibt Besherelle et la Lutte, wie schwer es ihr fällt, morgens um 5 Uhr aufzustehen, um in eine winzige Bäckerei zu fahren, wo sie Muffins produzieren muss. „Wenn ich nachts im Bett liege, kann ich nicht sagen, wo ich aufwachen werde. Das Einzige, was ich sicher weiß, ist, dass ich, wenn ich es tue, wieder die gleiche entfremdete Beziehung zur Arbeit haben werde, weil sie immer da ist“ (S. 199). Auch Scott Nikolas Nappalos beschreibt wie ihn seine Lohnarbeit als Krankenpfleger bis in die Träume hinein verfolgte. „Ich hatte schon Wochen, in denen sich jeder Traum um die Arbeit drehte. Das ist das Problem im Kapitalismus: nicht nur den Schaden, den er den Arbeiter*innen und Patient*innen zufügt, sondern dass seine Hölle verweilt, in unsere Träume eindringt und sie entwürdigt“ (S. 195). Auch die permanente Müdigkeit wird beklagt. So schildert „Der Unsichtbare“ den Horror, wenn frühmorgens der Wecker einen neuen Arbeitstag ankündigt. Pablo Barbanegra beschreibt die permanente Schaflosigkeit eines Lehrers, der der sich im Unterricht bemüht, die Leidenschaft der Schüler*innen zu fördern und daher viel Vorbereitungszeit braucht. Sein Beitrag endet mit dem Hinweis auf eine Statistik, die besagt, dass 50 Prozent der Lehrer*innen in den ersten fünf Jahren den Beruf aufgeben. Es gibt in dem Buch viele Texte, die von Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung geprägt sind, aber ebenso Porträts von gewonnenen Vertrauen, zurückgewiesener Unterwerfung und errungener Selbstachtung. Einige der Geschichten zeigen auch, wie schnell man sich in den unterschiedlichen Unterdrückungsverhältnissen verheddern kann.  Eine Kassiererin in einem hippiesken Lebensmittelladen selbst Mitglied der IWW (Industrial Workers of the World) wird selbst zur Akteurin von Ausgrenzung gegenüber Obdachlosen, die diesen Laden belagern. Sie ertappt sich selber, wie ihr die Maßnahmen ihres Arbeitgebers zu deren Vertreibung als unzureichend erschienen und sie selbst ihre Position im Management nutzt, um härtere Schritte einzufordern und umzusetzen. Von Solidarität fühle jede Spur. Einblicke in eine Arbeitswelt, die wohl auch in gewerkschaftlichen Strukturen viele Fragen und Diskussionen ausgelöst haben werden. Durch die Veröffentlichung der Diskussionen in deutscher Sprache haben wir die Möglichkeit, auch hierzulande darüber zu diskutieren. Schlussendlich diskutieren die Herausgeber*innen des Buches mit dem ehemaligen Redaktionskollektiv von Recomposition, einem Blog, der aus den Reihen der nordamerikanischen IWW, auf dem das vorliegende Buch basiert. Die spannenden Beiträge des Buches gehen auf dieses Projekt zurück. Scott Nikolas Napalms geht im Buch auf die Vorgeschichte ein. Ausgelöst vom Battle of Seattle und der danach stattfindenden Mobilisierung gegen die Welthandelsorganisation WTO, gab es 1999 und nachfolgend eine Organisationswelle, in deren Zuge Rekomposition entstanden ist.

Der Blog wurde mittlerweile eingestellt. Einige der Verantwortlichen haben mit einem Blog Ersatz geschaffen Alles in allem eine wirklich eindrückliche und lesenswerte Zusammenstellung.

Peter Nowak 

Die IWW organisiert eine Veranstaltungsreihe zu dem Buch. Die Termine finden sich unter https://www.wobblies.org/spuren

Erstveröffentlichungsort:
https://www.labournet.de/express/