Helge Döhring 2018: Organisierter Anarchismus in Deutschland 1919 bis 1933. Die Föderation kommunistischer Anarchisten Deutschlands (FKAD). edition av, Bodenburg. ISBN: 978-3-86841-192-8. 350 Seiten. 20,00 Euro.

Anarchist*innen auf Sinnsuche

Welche Auswirkungen ideologische Einkapselung haben kann, zeigt sich an der Geschichte der anarchistischen Bewegung in der Weimarer Republik.

„Wenn einst eine kommende Geschichtsschreibung unserer Bewegung diese Zeit beurteilen wird, dann wird sie nur mit liebevoller Achtung von denen sprechen, die trotz bewußter Entstellung, Verleumdung und verhehlten heimtückischen Absichten alledem standgehalten haben, den Glauben an unsere ideale Sache nicht verloren und den Kampf mutvoll weitergeführt haben, ihn auch weiterhin im Dienst des kommunistischen Anarchismus unerschrocken und unnachgiebig führen werden.“

Diese pathetischen Worte richtete der österreichische Anarchist Karl Knauer am 28. März 1929 in einem Grußwort des Föderationskomitees Wien an den Föderationskongress, der in Kassel tagte. Dabei handelte es sich um eine Konferenz der …

… Föderation kommunistischer Anarchisten Deutschland (FKAD), der größten anarchistischen Organisation der Weimarer Republik. Knauers Hoffnung erfüllte sich nicht. Statt einer liebevollen Betrachtung geriet das Wirken der Anarchist*innen weitgehend in Vergessenheit. Die Worte von Knauer finden sich auf Seite 148 des von Helge Döhring im Verlag Edition AV herausgegebenen Bandes „Anarchisten auf Sinnsuche“. Es ist der zweite Teil einer Trilogie, mit der Döhring die Geschichte der anarchistischen Bewegung in der Weimarer Republik dem Vergessen entreisst. „Organisierter Anarchismus in Deutschland 1919 bis 1933“ lautet der Titel des ersten Bands, im dritten Band „Die Anarchistische Vereinigung“ wird aus historischen Dokumenten die Geschichte der anarchistischen Bewegung von 1923-1933 ausgebreitet. Mit den drei Bänden, die insgesamt fast 800 Seiten umfassen, widmet sich Döhring der anarchistischen und anarchosyndikalistischen Bewegung der Weimarer Republik. 

Döhring gehörte 2007 zu den Mitbegründer*innen des Instituts für Syndikalismusforschung. Der konkrete Anlass zur Gründung war der Versuch akademischer Anarchismusforscher*innen, Aktivist*innen der Freien Arbeiterinnen- und Arbeiterunion (FAU) wegen sogenannter Urheberrechtsverletzungen juristisch zu belangen. Sie wollten verhindern, dass in FAU-Broschüren Auszüge aus historischen Arbeiten zu lesen sind. 

„Daraufhin sagten wir entschieden: Nicht mit uns, wir forschen und publizieren jetzt selbst! Wir sind eng verbunden mit Teilen der heutigen anarchosyndikalistischen Bewegung und deren Mitglieder müssen beim Rückgriff auf unsere Materialien nicht befürchten, vor Gericht gezogen zu werden“, 

beschrieb Döhring in einem Interview in der jungle world 38/2015 die Haltung der Gründer*innen des Instituts für Syndikalismusforschung, das in Kooperation mit Historiker*innen und Publizist*innen steht. 

Parteilichkeit mit wissenschaftlichen Methoden

In jenem Interview hinterfragt Döhring auch den Begriff der wissenschaftlichen Neutralität. Wie alle anderen Forschungsinstitute sei auch das Institut für Syndikalismusforschung parteiisch und agiere mit wissenschaftlichen Methoden. Er grenzt sich damit von einer Geschichtsschreibung ab, die aus politischen Gründen Fakten weglässt oder manipuliert. 

„Eine größtmögliche Unvoreingenommenheit und Offenheit, auch politisch unbequemen Ergebnissen gegenüber, ist gerade für Bewegungshistoriker bedeutend, wenn sie keine rein apologetischen Abhandlungen fabrizieren wollen. Wissenschaft ist in erster Linie Selbsterkenntnis und scheut nicht die kritische Rückkopplung an die aktuelle basisgewerkschaftliche Ausrichtung.“ 

Diesem Anspruch an eine Parteilichkeit mit wissenschaftlichen Methoden wird Döhring in der Trilogie über die anarchistische Bewegung in der Weimarer Republik gerecht. Seine Sympathie für die anarchosyndikalistische Bewegung ist klar erkennbar und drückt sich auch in mancher überflüssigen Polemik gegen Gruppen und Personen aus, die keine Anarchist*innen sind. So wird etwa die Gefangenenhilfsorganisation Rote Hilfe als „eine Vorfeldorganisation der KPD und Moskauer Führung“ (S. 12) klassifiziert. Solche polemisch verkürzten Wertungen bestimmen allerdings nicht den Charakter des Buches. Dort liest man eine gründliche Auseinandersetzung mit den politischen Fehlern der anarchistischen Bewegung, die die von Karl Knauer zitierte Forderung nach der Achtung vor der Arbeit der anarchistischen Bewegung nicht ausschließt. 

Langer Prozess der Selbstzerstörung 

Döhring bezeichnet die Entwicklung der anarchistischen Bewegung in der Weimarer Republik als einen „langen Prozess der Selbstzerstörung durch ideologische Einkapselung“ (S. 12). Dafür macht er vor allem die in der deutschsprachigen anarchistischen Bewegung jener Jahre einflussreichen Brüder Richard und Rudolf Oestreich verantwortlich. In enger Kooperation mit dem Wiener Anarchisten Rudolf Großmann, der unter dem Pseudonym Pierre Ramus bekannt wurde, sahen sie immer mehr ihren Hauptgegner in der syndikalistischen Strömung des Anarchismus, fast könnte man sogar vom Hauptfeind sprechen. Dabei wurde der Syndikalismus von Pierre Ramus zunächst als Transmissionsriemen für die anarchistische Bewegung gesehen. So erklärte er auf einem Kongress 1921: 

„Der Anarchismus ist der Schöpfer und Erhalter des Syndikalismus, und daher kann sich der Syndikalismus auch nicht selbst genügen, er würde dadurch seinen Niedergang besiegeln […]. Wir Anarchisten haben die Aufgabe, die syndikalistische Bewegung im Sinne der anarchistischen Idee vorwärtszutreiben.“ (S. 47f.)

Da gibt es durchaus Parallelen zu Lenins Kritik am reinen tradeunionistischen Bewusstsein. Während bei ihm die Kommunistische Partei den Gewerkschaften das revolutionäre Bewusstsein beibringen soll, ist es für Ramus und viele seiner Anhänger*innen die anarchistische Bewegung, die die Inhalte in die Gewerkschaften tragen soll. Da aber die meisten Syndikalist*innen ihre Bewegung nicht einfach als ein Gefäß betrachteten, das mit anarchistischer Ideologie gefüllt werden muss, wurden sie von der FKAD zunehmend bekämpft. Bald galten führende Syndikalist*innen als reformistisch, später sogar als konterrevolutionär. Sogar bürgerliche Gerichte wurden von Rudolf Oestreich bemüht, weil er sich von den syndikalistisch orientierten Rudolf Rocker und Helmut Rüdiger beleidigt sah. Erich Mühsam verfasste in der Zeitschrift Fanalüber die „Gerichtsanarchisten“ eine Glosse, die Döhring zustimmend zitiert. 

Früher Antisemitismusstreit in der anarchistischen Bewegung

Dass es bei diesen Auseinandersetzungen nicht nur um einen Kampf zwischen Personen in der anarchistischen und syndikalistischen Bewegung geht, zeigt der Antisemitismusstreit, den ein antisemitisches Pamphlet unter dem Titel „Der jüdische Nimbus“ auslöste, das im Freien Arbeiter, der Publikation der FKAD, veröffentlicht wurde. Verfasser war der heute teilweise unkritisch als früher Ökoanarchist verklärte Paul Robien. Repliken von Rudolf Rocker und Viktor Fraenkl wurden mit der Begründung abgelehnt, „sie seien zu persönlich und unsachlich gehalten“ (S. 104). Dem jüdischen Anwalt Fraenkl, der der anarchistischen Bewegung viele Jahre juristisch zur Seite stand, wurde so die Möglichkeit genommen, auf den antisemitischen Text zu reagieren. Je mehr sich die anarchistische Bewegung sektiererisch abkapselte, desto weniger Einfluss hatten sie auf die realen gesellschaftlichen Prozesse jener Jahre. So wird auf dem letzten dokumentierten FKAD-Kongress 1931 der Aufstieg des Nationalsozialismus thematisiert. Es wird sogar die Frage gestellt, ob jetzt eine Einheitsfront nötig ist. Doch weder wird klar, welche politischen Kräfte diese bilden sollten, noch wie sie zustande kommen soll. Sie waren zu dieser Zeit schon zu sehr marginalisiert, um noch einen größeren gesellschaftlichen Einfluss außerhalb des eigenen engen Zirkels zu erlangen. Daher blieben die auf dem Kongress geäußerten Bekundungen, Kapitalismus und Faschismus international zu bekämpfen, Rhetorik, die nicht mehr in praktische Politik umgesetzt werden konnte. Besonders tragisch ist es, dass es der FKAD an länderübergreifenden Solidaritätsstrukturen mangelte, um ihre Genoss*innen vor der Verfolgung durch den NS zu schützen und wenn möglich außer Landes zu bringen. 

Berthold Cahn ein vergessener anarchistischer Organisator 

Das wird am Schicksal von Berthold Cahn deutlich, eines besonders aktiven Anarchisten, der im Personenindex des Buches auf fast 50 Textverweise kommt. Cahn war schon seit 1900 ein unermüdlicher Organisator der FKAD und seiner Vorgängerorganisationen. Während des Ersten Weltkriegs war er wegen seiner antimilitärischen Positionen 21 Monate inhaftiert. Zwischen 1919 und 1933 organisierte er Veranstaltungsreisen durch die Republik und organisierte unter anderem mit Rudolf Rocker und Augustin Souchy Protestveranstaltungen gegen die Verfolgung von Anarchist*innen in der Sowjetunion und gegen die Hinrichtung von Sacco und Vanzetti in den USA. Trotz seiner exponierten Stellung in der anarchistischen Bewegung und seiner Bekanntschaft mit Anarchist*innen in vielen Ländern gab es keine Versuche, Cahn nach dem Machtantritt der Nazis aus Deutschland ins Exil bringen. Sein Schicksal im NS blieb viele Jahrzehnte ungeklärt und er wurde weitgehend vergessen. Auch in anarchistischen Publikationen wurde bis vor wenigen Jahren fälschlicherweise behauptet, er sei während der Reichspogromnacht am 9. November 1938 ermordet wurden. Erst durch neuere Forschungen der Gustav-Landauer-Initiative, in der sich jüngere Anarchist*innen mit akademischen Hintergrund der eigenen Geschichte widmen, wurde das Schicksal von Cahn im NS erforscht und in der Broschüre „Berthold Cahn – ein Leben für den Anarchismus“ veröffentlicht. Demnach wurden Cahn und sein Mitbewohner und anarchistischer Genosse Fritz Scherer im Dezember 1933 in Berlin verhaftet. Im Mai 1934 wurde Cahn wegen Vorbereitung zum Hochverrat zu 18 Monaten Gefängnis verurteilt, die er in Berlin-Plötzensee absitzen musste. Danach hatte sich lange Zeit jede Spur zu ihm verloren. Die Oral-Historiker*innen der Gustav-Landauer-Initiative fanden im Totenbuch des KZ Sachsenhausen den Hinweis, dass Cahn zu den 500 Berliner Juden und Jüdinnen gehörte, die nach dem Brandanschlag der antifaschistischen Gruppe Baum auf die NS-Propagandaausstellung „Das Sowjetparadies“ am 27. Mai 1942 in das KZ Sachsenhausen gebracht und am 28. und 29. Mai zusammen mit 98 KZ-Häftlingen erschossen wurden. Cahn war zu diesem Zeitpunkt 71 Jahre alt. Im September 2018 wurde vor dem Wohnhaus von Cahn in Berlin-Mitte ein Stolperstein mit seinen korrekten Lebensdaten verlegt. Es bleibt die offene Frage, warum es für einen der aktivsten Anarchisten im deutschsprachigen Raum keine Solidaritätsbewegung gegeben hat, die ihm das Exil ermöglicht hätte und warum er auch nach dem Ende des NS so lange vergessen blieb. Hier wird einmal mehr deutlich, wie wichtig eine Geschichtsschreibung auch über die anarchistische Bewegung in Deutschland ist. Helge Döhring hat mit der Trilogie Maßstäbe gesetzt. Es ist zu hoffen, dass weitere Bücher über die Geschichte der anarchistischen Bewegung beispielsweise im NS folgen werden. 

Diskussion um Lifestylelinke im Anarchismus

In einigen Abschnitten geht Döhring auch kritisch auf den aktuellen Zustand der anarchistischen Bewegung in Deutschland ein. Wenn er dort „Genussfeindlichkeit, Weltfremdheit, Selbstzentriertheit, Nischendiskussion, Rigorismus, Wetteifern um politische Korrektheiten, Ausgrenzung, ein gezierter Verhaltenskodex, Verbotskultur und Mitläufertum“ (S. 25) moniert, klingt er fast wie eine Sarah Wagenknecht der libertären Linken, der vor einer Lifestylelinken warnt, die er „soziologisch auf den vorherrschenden studentischen Einfluss und die Dominanz eines konkurrenzlos scheinenden Neoanarchismus“ (ebd.) zurückführt. Dabei zeigt doch die von Döhring gut dokumentierte Geschichte, dass die anarchistische Bewegung in der Weimarer Republik bestimmt nicht an zu viel Feminismus oder marxistischen Theoriefragmenten gelitten hat. Vielmehr sollte die „Geschichte persönlicher Niederlagen und des politischen Opportunismus“ (S. 17), die die FKAD mit anderen linken Bewegungen, nicht zuletzt der KPD, teilt, doch eher eine Aufforderung sein, sich theoretisch und praktisch anderen linken Ansätzen zu öffnen. Die aktuelle anarchistische Bewegung kann von feministischen und antirassistischen Praxen, aber auch von den Erfahrungen dissidenter Marxist*innen nur profitieren. Peter Nowak