
Mitten im September 1969, kurz nach ihrer Rückkehr aus den Betriebsferien befinden sich rund 30 000 Arbeiter der größten Fabrik Italiens, der Fiat in Turin, im Ausstand. Der Unternehmer greift zur schärfsten Waffe, die Regierung ist ratlos, die Gewerkschaften und die revisionistischen Parteien zittern.« So euphorisch berichtete Christian Arnsberger im September 1969 in der Roten Pressekorrespondenz (RKP), einem Bulletin der Westberliner außerparlamentarischen Linken, über die Streiks in den Turiner Fiat-Werken. Damals erhofften sich viele westeuropäische Linke von diesen Arbeitskämpfen eine …
… Erneuerung des Marxismus. Mit dem sogenannten Operaismus entstand hier eine linke Strömung jenseits von Sozialdemokratismus und Stalinismus, die den Anspruch erhob, sich an tatsächlichen Kämpfen der Arbeiter*innenklasse und nicht der Politik der Gewerkschaften zu orientieren.
Die jungen kommunistischen Intellektuellen um die Zeitung »Quaderni Rosso« hatten Ende der 50er Jahre bei Fiat in Turin ihre »Arbeiteruntersuchungen« gemacht und waren auf eine Fabrik im Umbruch getroffen: Auf alte kommunistische Arbeiter, die von der Führung der Kommunistischen Partei Italiens (PCI) politisch kaltgestellt worden waren, auf junge, unzufriedene Facharbeiter und auf neu in die Fabrik strömende, ungelernte Arbeiter vom Land und vor allem aus dem Süden, die dort vorher Bauern gewesen waren. Als 1962 die ersten Kämpfe in der Fabrik stattfanden, entwickelten die Operaist*innen hieraus einen theoretischen Ansatz, der die Marx’sche Analysemethode benutzte, um den Klassenkampf in den Mittelpunkt zu stellen. Sie sahen in der Arbeiterklasse das zentrale Prinzip der kapitalistischen Entwicklung.
In dem jüngst erschienenen Buch »Aufstand in der Fabrik« hat nun der Berliner Historiker Dietmar Lange auf knapp 400 Seiten untersucht, warum gerade die Kämpfe in den Turiner Fiat-Werken für eine ganze Generation radikaler Linker zu einem Ort der Hoffnung wurden. Wie konnte ausgerechnet in einer Fabrik, in der bis Ende der 50er Jahre Mitglieder der Kommunistischen Partei Italiens auf Schwarzen Listen standen, ein neuer Kampfzyklus entstehen?
Lange zeichnet nach, wie schon Ende der 50er Jahre eine junge Generation von italienischen Gewerkschaftler*innen »viele der bisherigen Gewissheiten der kommunistisch-sozialistischen Arbeiterbewegung« infrage gestellt hatte. Sie waren bald auf linke Soziolog*innen wie Raniero Panzieri getroffen, die ihren universitären Elfenbeinturm verlassen wollten: »Seine Hoffnungen beruhten darauf, in Zusammenarbeit mit den Metallgewerkschaften … eine Veränderung der Arbeiterbewegung aus den Betrieben heraus in Gang zu setzen«, schreibt Lange. Die Untersuchung der Arbeitsverhältnisse bei Fiat in den Jahren 1959 und 1960 sollte ein erster Schritt in diesem Prozess sein.
Lange rekonstruiert hier eine Geschichte des frühen Operaismus und zeigt auch die Bruchlinien innerhalb der Strömung: Während ein Teil der Operaist*innen Mitte der 60er Jahre wieder in die Kommunistische Partei eintrat, engagierten sich andere in scharfer Abgrenzung dazu in der Neuen Linken, insbesondere in der Gruppe Potere Operaia. Parallel dazu arbeitet der Historiker die Gründe für die Wiederkehr des sozialen Konflikts in den lange sozialpartnerschaftlich befriedeten Fiat-Werken heraus. So begann etwa die Politisierung der jungen Arbeiter*innen 1960 mit militanten Demonstrationen gegen einen Parteitag der italienischen Neofaschisten. Durch diese antifaschistische Mobilisierung auch vieler junger Menschen kehrte der Konflikt und der Streik zurück in die Fabrik.
Bei all dem betont »Aufstand in der Fabrik« auch die Irrtümer der jungen Linken: Sie gingen beispielsweise von einem Bedeutungsverlust der Gewerkschaften aus, profitierten aber dann von deren neuer Kampfbereitschaft. Die neue Kampfformen und egalitären Forderungen der radikalen Linken fanden nämlich partiell Eingang in die Gewerkschaftspolitik. Einige führende Protagonist*innen der Neuen Linken fanden bald dort ein Betätigungsfeld.
Die Untersuchung endet mit dem Höhepunkt der Fiat-Kämpfe im Jahr 1973. Die Geschichte von rechter Gegenbewegung und Staatsterrorismus, die 1980 zur endgültigen Niederlage der Linken und Gewerkschaften bei Fiat führte. Damals mobilisierte die Rechte mit Demonstrationen gegen weitere Streiks und kämpferische Gewerkschaften. Diese Entwicklungen bedeuteten für die italienische Linken ein Fiasko, das bis heute anhält. (Diese Geschichte muss allerdings noch geschrieben werden.)
In der Einleitung erinnert der Autor, der auch Mitglied der Zeitschrift Mitglied der Redaktion »Arbeit-Bewegung-Geschichte« ist, übrigens daran, dass 2016 ein Streik der Turiner Essensausliefer*innen von Foodora Schlagzeilen machte – die Geschichte der »Aufstände in der Fabrik« (und ihrer Fortführung auf den Straßen) ist eben noch nicht zu Ende.