Bücher des Widerstands

Es gibt ein Leben nach den Barrikaden

Mit Anne Reiche und Dimitris Koufontinas haben zwei Aktivist*innen der radikalen Linken ihre Biographien verfasst. Reiche schloss sich im Knast der RAF an, während Koufantinas sich nach einem misslungenen Bombenanschlag und einer Zeit in der Illegalität der Polizei stellte.

«Wenn die Nacht am tiefsten ist, ist der Tag am nächsten» ist eines der persönlichsten Lieder von Rio Reiser, dem Sänger der Westberliner Rockband Ton Steine Scherben. Die Strophe könnte das Motto von Anne Reiches Biographie sein, die sie unter dem Titel «Auf der Spur» in der Edition Cimarron veröffentlich hat. Anne Reiche hat ein Buch geschrieben, das…

… die Biographie einer militanten Linken erzählt, das berührt, gerade weil es so ehrlich ist, weil es Trauer und Niederlagen nicht verschweigt. Reiche schreibt, wie sie in den späten 1960er Jahren ihr Studium zu Gunsten des Engagements in der radikalen Linken aufgab. Sie hatte Freund*innen, die zum Blues gehörten – der radikalen Westberliner Linken, die tausende Anhänger*innen umfasste. Der Staat rüstete auf, bald waren enge Freund*innen tot, Reiche musste ihre erste Gefängnisstrafe absitzen und wollte sich danach zurückziehen. Ein Kronzeuge beschuldigte sie jedoch, an einem Bankraub beteiligt gewesen zu sein, was ihr eine langjährige Haftstrafe einbrachte. Im Gefängnis schloss sie sich der RAF an, weil sie ohne kollektive Struktur im Knast nicht leben wollte. Reiche beschreibt, wie sie als Teil des Gefangenenkollektivs an einem mehrwöchigen Hungerstreik teilnahm und welche Qualen sie während der Zwangsernährung durchstehen musste. Man kann viel von den bleiernen Jahren im Gefängnis lesen, wo die Gefangenen weggesperrt vom Rest der Gesellschaft ihre Zeit verbrachten.

Trotz Niederlagen kein Pessimismus
Nach ihrer Freilassung im Januar 1982, nach zehn Jahren Knast, verzweifelte Reiche fast daran, dass sie die Erfahrungen aus dem Isolationstrakt kaum vermitteln konnte. Doch sie lernte neue Genoss*innen kennen, zog in die besetzten Häuser in der Hamburger Hafenstrasse und stürzte sich in politische Aktivitäten, die dann in die Barikadentage 1988 mündeten. Tausende Aktivist*innen aus ganz Westeuropa wollten die Häuser vor einer Räumung verteidigen. In letzter Minute kam es dort zu einer Einigung. Doch für Anne Reiche war der Kompromiss eine Niederlage. Sie befürchtete, dass eine legalisierte Hafenstrasse ein Ort der Befriedung werden könnte.
Doch wieder rappelte sie sich auf und entdeckte, dass es auch ein Leben nach den Barrikaden gibt. Sie studierte Architektur und wollte am Hafenrand Häuser errichten, in denen die Menschen gerne wohnen. Erneut holte sie sich Narben, dieses Mal auch von zuvor engen Genoss*innen, die nun als Mitglieder der Genossenschaft Hafenstrasse ihre kleine Macht nutzten. Trotz vieler Niederlagen endet das Buch nicht pessimistisch. Reiche lässt das letzte Kapitel mit dem Zitat eines jungen Mannes enden, der nach den G20-Protesten 2017 Hamburg in Untersuchungshaft kam: «Die Freude der persönlichen Erfahrung des Zusammenkommens so vieler Menschen jeden Alters und aus aller Welt, die sich nicht der totalen Logik des Geldes und der kapitalistischen Welt unterworfen haben, kann keine Form der Gefangenschaft bezwingen.»

Geboren am 17.November
Auch der Autor des Buches «Geboren am 17.November» hat eine schwere persönliche und politische Niederlage erlebt. Dimitris Koufontinas war der Gründer der Bewegung 17.November, einer kommunistischen Guerilla aus Griechenland. Über viele Jahre übernahm sie für viele Anschläge die Verantwortung, ohne dass die Ermittlungsbehörden ihr auf die Spur kamen. Bis zum 29. Juni 2002. An diesem Tag wurde Savvas Xiros lebensgefährlich verletzt, als er aus Solidarität mit streikenden Hafenarbeiter*innen im Hafengelände von Athen eine Bombe platzieren wollte. Er überlebte schwerverletzt und musste sich gegen Isolationshaftbedingungen zur Wehr setzen. 2007 übersetzte die in Athen lebende Journalistin Heike Schrader das von Savvas veröffentlichte Buch «Guantánamo auf Griechisch: Zeitgenössische Folter im Rechtsstaat» ins Deutsche. Dimitris Koufontinas war mit Savvas an dem Anschlag beteiligt und sah seine lebensgefährliche Verletzung. Savvas wurde unter schweren Medikamenten verhört, so dass die Ermittlungsbehörden an Namen und Strukturen der Organisation kamen. Koufontinas konnte zunächst untertauchen und beobachtete, wie immer mehr Gruppenmitglieder verhaftet wurden, Aussagen machten und sich von der Gruppe und dem bewaffneten Kampf distanzierten. Das war der Grund für ihn, sich der Justiz zu stellen und die politische Verantwortung zu übernehmen.

Versuch einer Selbstkritik

Mit dem Buch legte er einen politischen Rechenschaftsbericht ab, der auch Leser*innen beeindruckt, die mit den politischen Prämissen des Schreibers nicht übereinstimmen. Koufontinas gibt einen subjektiven Rückblick auf die Geschichte Griechenlands nach 1945. Als in vielen Ländern die NS-Herrschaft und die ihrer Unterstützer zerbrach, konnten die griechischen Naziverbündeten mit Unterstützung Grossbritanniens weiter die Macht ausüben. Nachdem sich die Lage in Griechenland zuspitzte, begann der Bürgerkrieg, der wesentlich von der Kommunistischen Partei organisiert wurde. Nach der Zerschlagung des kommunistischen Aufstands in Griechenland setzte eine gnadenlose Repression gegen alle Oppositionellen ein, die sich nach dem Militärputsch von 1967 noch verschärfte.
Doch auch der 1968er Aufbruch ging an Griechenland nicht spurlos vorüber. Dieser kulminiert in dem blutig niedergeschlagenen Aufstand an der Athener Universität. Das Datum gab der Guerilla-Gruppe ihren Namen. Koufontinas beschreibt die Enttäuschung über die legalistische Taktik der Kommunistische Partei, was aber nicht den Bruch mit dem Kommunismus bedeutet. Wie in vielen anderen Ländern entstand auch in Griechenland im Aufbruch nach 1968 Gruppen, die die Geschichte der kommunistischen Bewegungen mit dem bewaffneten Kampf von Che Guevara verbinden wollten. Der Autor versucht eine Selbstkritik, die aber dadurch begrenzt ist, dass er das – von ihm wesentlich geprägte – Projekt verteidigt, weil damit auch sein Leben verbunden ist. Wahrscheinlich wird er das Gefängnis nicht mehr lebend verlassen. So beschreibt Koufontinas, wie er nach dem Unfall von Savvas zu dem für solche Fälle festgelegten Treffen ging und niemand ausser ihm vor Ort war, wie er als Einziger verzweifelt versuchte, Beweise zu beseitigen, als sich seine Ex-Genoss*innen bereits über ihre Aussagen Gedanken machten. Hier wäre eine fundamentale Kritik am strikten Kaderprinzip angebracht, die er wohl nicht leisten kann, ohne sein ganzes Lebensziel infrage zu stellen. Daher verwendet er auch gelegentlich Allegorien, die fast religiöse Züge haben. So, wenn er beschreibt, wie ihn eine alte Frau in Bauerntracht mit ihren Blicken Mut zugesprochen hat, als er den Entschluss fasste, sich der Polizei zu stellen.
Dass Koufontinas Rechenschaftsbericht nun dank des Bahoe Books-Verlag auch auf Deutsch zu lesen ist, sollte als Einladung zur kritischen Debatte verstanden werden. In einer Zeit, in der selbst in sich links verstehenden Medien der Terrorismusbegriff gegenüber militant kämpfenden Linken ziemlich kritiklos verwendet wird, geben die Bücher von Anne Reiche und Dimitris Koufontinas Gelegenheit, die Perspektive der Menschen kennen zu lernen, die sich auf unterschiedliche Weise an solchen militanten Kämpfen beteiligt haben. Wir erfahren über ihre Träume und Utopien, über ihre Kämpfe, aber auch über ihre Fehler und Niederlagen. Sie sorgen so dafür, dass die linke Geschichte eben nicht den Verfolgungsbehörden überlassen wird.

Anne Reiche: Auf der Spur, Edition
Cimarron, Brüssel 2018, 274 Seiten.
15 Euro, ISBN 978–90-824465–2-s

Dimitris Koufontinas, Geboren am 17. November, Eine Geschichte der griechischen Stadtguerilla, Bahoe Books, Wien 2018, 281 Seiten, 15 Euro
ISBN 978–3903022-89–8