Alleinige, halbe oder gar keine Schuld?

In einem Band setzen sich Historiker mit dem Anteil Deutschlands am Ersten Weltkrieg auseinander

Warum noch ein Sammelband zum Ersten Weltkrieg, nachdem zum 100. Jahrestag eine Fülle von Publikationen erschienen ist? Diese Frage beantworten die Historiker Axel Weipert, Salvador Oberhaus, Detlef Nakath und Bernd Hüttner mit ihrem, dem Jubiläum zwar nachhinkenden, aber wichtigem Buch. Es behandelt drei Themen, die bisher in der Debatte eher ein stiefmütterliches Dasein fristeten. Einbezogen sind hier zudem Autoren aus verschiedenen europäischen Ländern.

Der erste Teil des Bandes widmet sich der geschichtspolitischen Deutung des Ersten Weltkriegs. Bereits 2013 bemühten sich der britisch-australische Historiker Christopher Clark und der Berliner Politwissenschaftler Herfried Münkler, das Deutsche Reich von seiner besonderen Verantwortung für den Ausbruch des Weltkriegs freizusprechen. Besonders Münkler polemisierte heftig gegen den Historiker Fritz Fischer, der im wilhelminischen Deutschland den Hauptkriegstreiber gesehen hatte. Die These von der Alleinschuld Deutschlands wird im Band kontrovers diskutiert. Der in Hagen lehrende Geschichtswissenschaftler Wolfgang Kruse stellt die Debatte in einen aktuell-politischen Kontext: Wenn Deutschland angeblich an beiden Weltkriegen nicht Schuld gewesen sei, könne es heute »als eigentlich ganz normale Nation auch mit gutem Gewissen seine prosperierende Stellung in Deutschland und Europa genießen«.

Der Potsdamer Historiker Jürgen Angelow hingegen verteidigt Münkler und Clark. »Jede Innovation in die Forschung, jede Neubewertung der Darstellung, die mit einer Neubewertung der Forschung einhergeht, wird umstritten sein und auf den Widerstand älterer Auffassungen stoßen.« Gegen die besondere Verantwortung des Deutschen Reiches für den Kriegsausbruch argumentiert er mit Liebknecht, Luxemburg und Lenin, die davon ausgingen, dass sämtliche großen europäischen Staaten für die politische Situation verantwortlich waren, die in den Weltkrieg führte. Der Historiker schließlich sieht im Versuch, Deutschland von der Verantwortung für den Ersten Weltkrieg reinzuwaschen, »Argumentationshilfen für militärische Interventionen im Ausland«.

Im zweiten Teil des Buches setzen sich sieben Autorinnen und Autoren mit der Frage auseinander, welchen Anteil die durch den Ersten Weltkrieg ausgelöste Brutalisierung bei der Etablierung von Faschismus und Nationalsozialismus hatte. So bezeichnete der marxistische britische Historiker Eric Hobsbawn den Ersten Weltkrieg als »Maschine zur Brutalisierung der Welt«. Diese Formulierung wurde zum Buchtitel. Der spanische Historiker und Kulturwissenschaftler Angel Alcalde zeichnet die Debatte um die These des US-Historikers und Faschismusforschers George L. Mosses nach, der eine enge Verbindung zwischen dem Ersten Weltkrieg und dem Aufstieg der europäischen Rechten sah.

Im dritten Teil des Buches befassen sich elf Autoren mit dem Einfluss des Weltkriegs auf die Arbeiterbewegung und die politische Linke. Milos Bakovic Jadzic skizziert die Geschichte der serbischen Sozialdemokratie , die nicht wie die anderer Länder eine »Burgfriedenspolitik« betrieb. Ein weiteres Kapitel widmet sich den wenig erforschten Antikriegsprotesten slowenisch-sprachiger Frauen in Österreich-Ungarn; diese hielten über die gesamten Kriegsjahre an. Axel Weipert beklagt, dass die Aktivitäten der Rätebewegung in Deutschland und Österreich-Ungarn, die entscheidenden Anteil am Sturz der Monarchie hatten, in der Geschichtsschreibung lange Zeit kaum erwähnt wurden. Der Politwissenschaftler Malte Meyer schließlich untersucht die »Verpreußung« der Arbeiterbewegung in Deutschland. Damit rekurriert er auf einen Begriff, den der Sozialist 1937 im französischen Exil prägte. Die Verbreitung militaristischer Ideologie in den Kreisen von Kleinbürgertum und der Arbeiterschaft ist auch bereits von Linken wie Rosa Luxemburg als Sozialmilitarismus heftig kritisiert worden. Meyer zählt allerdings auch Organisationen wie den KPD-nahen Rotfrontkämpferbund zu den Männerbünden mit militaristischer Attitüde.

Axel Weipert/Salvador Oberhaus/ Detlef Nakath/Bernd Hüttner (Hg.): Maschine zur Brutalisierung der Welt. Der Erste Weltkrieg – Deutungen und Haltungen 1914 bis heute. Dampfboot Verlag, 363 S., br., 35 €.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1058025.alleinige-halbe-oder-gar-keine-schuld.html

Peter Nowak

Autonomer Handwerkernachwuchs

Die Gruppe »anstiften« will eine neue Lehrlingsbewegung anstoßen. Ihr Vorbild ist der linke Aufbruch Auszubildender in den 1970er Jahren

»Ausbildungsvertrag und alles, was dazu gehört« und »Krank werden und krank machen in der Ausbildung« – das sind einige der Themen, die auf einer neuen Internetplattform für Lehrlinge publiziert werden. Sie will Auszubildende im Bauhandwerk organisieren. Die Initiatoren, die selber in der Branche beschäftigt sind und teilweise eine akademische Ausbildung absolviert haben, wollen mit dem Projekt »anstiften.net« an eine Bewegung anknüpfen, die heute weitgehend vergessen ist.
»Es gibt in Deutschland seit den 1970er Jahren keine Selbstorganisation und Vernetzung von Auszubildenden im Bauhandwerk mehr«, meint Max Siebert. In Folge dessen gebe es keinen Wissenstransfer über Rechte von Auszubildenden, die folglich auch nicht durchgesetzt würden. »Stattdessen werden Missstände individualisiert und entpolitisiert«, kritisiert Siebert.

Der linke Aufbruch der 1970er Jahre wird vor allem mit dem akademischen Nachwuchs identifiziert. Erst der Historiker David Templin hat in seinem Buch »Lehrjahre – keine Herrenjahre« am Beispiel von Hamburg gezeigt, wie tiefgreifend der gesellschaftliche Aufbruch damals auch in der proletarischen Jugend gewesen ist. »Braucht Du einen billigen Arbeitsmann, schaff‘ Dir einen Lehrling an«, lautete einer der Slogans, mit denen sich junge Leute damals gegen die Zustände in der Ausbildung wehrten. Dazu gehörte noch das obligatorische Zeitung holen und Brötchenschmieren. Selbst Prügel vom Meister waren keine Seltenheit.

Für Siebert und seine Freunde war die Lektüre des Buches ein Anlass, sich zu fragen, warum es heute eine solche Lehrlingsbewegung nicht gibt. Siebert hält sie trotz aller Veränderungen der Arbeitswelt nicht für obsolet. »Die Bedeutung von Auszubildenden ist heute nur insofern zurückgegangen, als dass sie sich in der Regel klein machen und nicht aufmucken, also auch keine Aufmerksamkeit auf ihre Situation ziehen«, erklärt er gegenüber »nd«. »Ohne Auszubildende gibt es keinen Nachwuchs im Handwerk, darum haben wir auch ein Druckmittel«, betont der Aktivist. Schließlich sei die Klage über fehlende Arbeitskräfte bei Handwerks- und Wirtschaftsverbänden laut. Es müsste also eine gute Zeit sein, um Verbesserungen im Ausbildungsbereich durchzusetzen. Zumal es nicht mehr nötig ist, die einzelnen Betriebe abzuklappern. Die Initiative wirbt dort für sich, wo sich heute viele junge Menschen tummeln: in den sozialen Netzwerken.

Für Siebert und seine Kollegen ist die Diskussionsplattform der erste Schritt zum Aufbau der Lehrlingsbewegung. Tipps und Erfahrungen von jungen Beschäftigten werden dort veröffentlicht. Zudem hat die kleine Gruppe in den letzten Monaten Interviews mit Dutzenden Auszubildenden in ganz Deutschland geführt, und sie nach ihren Erfahrungen und Problemen am Arbeitsplatz befragt. Immer wieder wurden dabei genannt: Unbezahlte und unfreiwillige Überstunden, Wochenendarbeit, ausbildungsfremde Tätigkeiten, zu wenig Geld und Urlaub.

Auch der Umgang von Kollegen mit diesen Problemen ist ein Thema. Da berichtet ein Auszubildender über einen Mann, der schwerste Arbeiten alleine macht und Hilfe zurückweist. »Bis ich dann erfahren habe, dass der Kollege auch deswegen so mürrisch war, weil er seit vielen Jahren auf Schmerzmitteln zur Arbeit kommt und einen total verschlissenen Körper hat.«

Die Initiatoren der Plattform hingegen wollen zu einem solidarischen Umgang am Arbeitsplatz anstiften. Sie knüpfen an die Praxis der sogenannten militanten Untersuchungen an, mit der in den 1970er Jahren in Italien linke Gruppen Arbeiterbefragungen durchführten. Das Ziel war auch hier ihre Organisierung außerhalb der großen Gewerkschaften. Siebert und seine Kollegen benennen das Ziel der Befragungen klar: »Wir wollen eine neue, selbstbewusste Lehrlingsbewegung lostreten, die sich autonom von Gewerkschaften und Parteien organisiert und sich nicht mehr alles gefallen lässt.« Dabei geht es ihnen nicht um Arbeitertümelei. Der Sexismus männlicher Bauarbeiter wird auf der Onlineplattform ebenso kritisiert, wie Alternativen zur Lohnarbeit zur Diskussion gestellt werden.

Die DGB-Gewerkschaften als Interessenvertreterin der Auszubildenden sehen die »Anstifter« mit Skepsis. »Da fehlt es oft an einer klar parteiischen und entschlossenen Haltung, im Konfliktfall wirklich für die Interessen der Auszubildenden einzutreten anstatt sie auf die Zeit nach der Ausbildung zu vertrösten«, sagt Michaela Weber. Die Tischlerin vermisst bei den Gewerkschaften eine politische Vision, die über »Gute Arbeit für alle« und einen »besseren Kapitalismus« hinaus geht. Doch bei aller Kritik hält Weber im Einzelfall eine Kooperation mit DGB-Gewerkschaften für möglich.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1058068.autonomer-handwerkernachwuchs.html

Peter Nowak

Siehe auch das Interview mit einem Mitglied der Initative Anstiften in der Jungle World:

https://peter-nowak-journalist.de/2017/06/30/beschissene-erfahrungen/

Gar nicht so magisch

ARBEIT Getrübte Einigkeit im Botanischen Garten. Personalrat in Gefahr

Wenn am Freitag und Samstag wieder Tausende im Rahmen der Langen Nacht des Botanischen Gartens „Magische Naturwelten“ erleben, werden sie diesmal nicht mit der gar nicht so magischen Realität der im Botanischen Garten Beschäftigten konfrontiert. Mehr als zwei Jahre hatten die gemeinsam mit Verdi gegen die Outsourcing-Politik der Freien Universität (FU) gekämpft, der Arbeitgeber ist. Der Arbeitskampf sorgte für Aufmerksamkeit, weil neben Tarifrunden Protestaktionen wie bei der Botanischen Nacht vergangenes Jahr dazu gehörten. Eigentlich könnten die MitarbeiterInnen zufrieden sein. Denn das FU-Präsidium hat beschlossen, die Betriebsgesellschaft für den Botanischen Garten aufzulösen und die Beschäftigten zum 1. Januar 2018 wieder
in die FU einzugliedern. „Ein Betrieb und eine Belegschaft für alle ist ein Gewinn für alle“, kommentierte
der Verdi-Vertrauensmann Ronald Tamm den Beschluss. Doch mittlerweile wird der Erfolg aus Sicht der zuständigenVerdi-Sekretärin Jana Seppelt getrübt. Denn bei der FU gebe es Überlegungen, gleich die Betriebsgesellschaft Botanischer Garten aufzulösen. Dazu müsste sie einen Antrag an den Senat stellen. Das würde den Wegfall des Personalrats und der Behinderteneinrichtung der Zentraleinrichtung Botanischer Garten
bedeuten. Der Betriebsratsvorsitzende Lukas Schmolzi rügt gegenüber der taz, dass damit eine ortsund sachbezogene Interessenvertretung gefährdet wäre. Zumal die Beschäftigten des Botanischen Gartens nach der Wiedereingliederung an die FU erst 2021 einen neuen Personalrat wählen können. Für eine vorzeitige
Neuwahl ist die Anzahl der Wiedereingegliederten zu gering, betont Jana Seppelt. Unterstützung bekommen die KollegInnen von einer Gruppe von FU-WissenschaftlerInnen, die die Pläne als Affront gegen die Beschäftigten bezeichnen. Bei einer außerordentlichen Sitzung der Personalvertretung betonten die VertreterInnen der Universität vor einigen Tagen, der Meinungsprozess sei noch nicht abgeschlossen und es sei noch kein Antrag gestellt an den Senat. Doch noch sind die Pläne nicht vom Tisch, betont Seppelt.

aus: TAZ.DIE TAGESZEITUNG FREITAG, 21. JULI 2017

Peter Nowak

Wie antisemitisch ist die ungarische Regierung?

Wer zu den Angriffen auf Soros schweigt, schadet dem Kampf gegen jeden Antisemitismus


„Ungarn hat ein Verbrechen begangen, als es, anstatt die jüdische Gemeinschaft zu verteidigen, mit den Nazis kollaboriert hat“,

„Wie antisemitisch ist die ungarische Regierung?“ weiterlesen

Der Protest hat erst begonnen

WOHNEN Ein Investor in Tiergarten will Mieter loswerden. „Legal, aber brachial“, sagt der Baustadtrat

Für Dana Torunlar war es eine böse Weihnachtsüberraschung. Die Mieterin aus der Lützowstraße bekam Mitte Dezember von ihrem Hauseigentümer den Rat, doch demnächst für einige Zeit zu Verwandten zu ziehen. Ihre Wohnung müsse saniert werden und es gebe nicht genug Ersatzwohnungen. Torunlars Nachbar Thomas Pawelec erhielt einen ähnlichen Brief, in dem ihm die Aufforderung, seine Wohnung zu verlassen, mit dem Hinweis schmackhaft gemacht werden sollte, dass ein Tapetenwechsel manchmal nötig sei. Die Bluerock Opportunities 3 Ltd., die ihren Sitz in Manchester hat, sorgte mit diesen Briefen für Angst unter den MieterInnen der in den 1970er Jahren errichteten Häuser in der Lützowstraße und der Genthiner Straße in Tiergarten-Süd. Schließlich stand in den Briefen des Investors auch, dass durch die Sanierung Asbest frei werden könnte. „Viele MieterInnen konnten weder die gesundheitlichen Konsequenzen einschätzen, noch kannten sie ihre Rechte, erklärt Regine Wosnitza vom Stadtteilforum Tiergarten Süd. Das aus dem Quartiersmanagement hervorgegangene Stadtteilforum unterstützt die Betroffenen, bietet Beratung
an und riet ihnen zum Eintritt in eine Mietrechtsorganisation. Auch die Kontakte im Stadtteil wurden aktiviert.
Das in den USA als Community Organizing bekannte Empowerment der MieterInnen hatte Erfolg: Waren zunächst zahlreiche BewohnerInnen mit geringen Abfindungen aus ihren Wohnungen ausgezogen, begannen sich andere zu wehren. Sie nahmen sich Anwälte, und für den 10. Juli organisierten sie eine Kundgebung. „Das
ist unser Kiez“ und „Wir bleiben hier“ lauteten die Sätze auf den selbst gemalten Pappschildern. Auch der für Tiergarten zuständige Baustadtrat von Mitte, Ephraim Gothe (SPD), setzte sich auf der Kundgebung für die MieterInnen ein. Die Methoden der Investoren seien ein legales, aber brachiales Modell, erklärte der Politiker, der die Investoren auch persönlich kontaktiert hatte.

Milieuschutz kam zu spät

Eine gesetzliche Handhabe gegen die Verdrängung scheint auch Gothe nicht zu haben. Der angekündigte Milieuschutz kommt im Fall der betroffenen MieterInnen zu spät, weil er nicht rückwirkend in Kraft tritt. „Schon seit mehreren Jahren sollte geprüft werden, ob der Milieuschutz angewendet werden könne. Doch nichts ist gehofft schehen“, monierte die Stadtteilaktivistin Wosnitza. Die Kundgebung dürfte nun erst der Anfang des Protests in Tiergarten-Süd sein. Auch MieterInnen aus der Umgebung, deren Wohnungen bald ebenfalls saniert werden sollen, haben daran teilgenommen. Demnächst wollen sie eine Videokundgebung mit dem Film „Mietrebellen“ machen. Darin haben die RegisseurInnen Matthias Coers und Gertrud Schulte Westenberg die MieterInnenbewegung in Berlin zwischen 2010 bis 2013 dokumentiert. In Tiergarten-Süd könnte die Geschichte weitergeschrieben werden.

TAZ.DIE TAGESZEITUNG, 20.7.2017

Peter Nowak

Von aufflammenden Aufständen und Kapitalakkumulation

Nach den Hamburger Krawallen beginnt die Suche nach soziologischen Erklärungen. Joshua Clover hat mit seinem Buch eine Vorlage geliefert

»Krawalle in Hamburg. Wenn ein Mob eine Stadt verwüstet«, lautete die martialische Überschrift eines FAZ-Kommentars über die militanten Aktionen am Rande des G20-Gipfels. In mehreren Kommentaren wurde auch der LINKEN-Politiker Jan van Aken in Mitverantwortung für die Auseinandersetzungen genommen. Dabei hat sich der Anmelder der völlig gewaltfrei zu Ende gegangenen Großdemonstration zum Gipfelabschluss von den militanten Aktionen distanziert. Hätte der FAZ-Redakteur ins eigene Archiv geguckt, hätte er ganz andere Textstellen finden können.

»Die zunehmenden Vermögensunterschiede, die ungerechte Lastenverteilung nach der Finanzkrise, die Undurchlässigkeit der sozialen Schichten, die abnehmende Bedeutung der europäischen Nationalstaaten bei unverändertem Pomp sowie die Ödnis und Beliebigkeit der politischen Angebote – all das ermutigt linke, studentische Milieus überall, nach einem ganz anderen Notausgang aus der Matrix zu suchen. Dazu wollen sie, wie beim Judo, die Wucht des Systems gegen dieses selbst wenden: Das empfindliche und teure Zusammenspiel einer Just-in-time-Produktion endet schnell im Chaos, wenn mal unverhofft der Strom ausfällt«, schreibt der FAZ-Feuilleton-Redakteur Nils Minkmar im November 2010 in seiner Rezension eines der Grundlagentexte der aktuellen militanten Strömungen.

»Der Kommende Aufstand« lautet der Titel der vielbesprochenen Schrift, die von einem »Unsichtbaren Komitee« herausgegeben wurde. Minkmar bringt den Inhalt so auf den Punkt: »Autos brennen, Züge entgleisen, der Strom fällt aus: Überall wachsen die Lust auf Subversion und die Bereitschaft zur Sabotage. Wofür und wogegen kämpfen die neuen Linksradikalen? Das Buch ›Der kommende Aufstand‹ sucht Antworten.«

Die Lektüre dieser Schrift wäre auch manchen Vertretern von LINKEN, Grünen und Mitgliedern der Nichtregierungsorganisationen zu empfehlen, die sich nach den Riots von Hamburg beklagten, die militanten Aktionen würden ihren Reformkonzepten schaden. Denn »Im kommenden Aufstand« werden der kapitalistische Normalzustand und die systemimmanenten Reformkonzepte gleichermaßen abgelehnt. Militanz soll nach den Vorstellungen der insurrektionalistischen Strömung der Anarchisten, die auf das Aufstandskonzept setzt, nicht auf ein Problem hinweisen, sie stellt auch keine Forderungen an die Politik. Sie steht für sich. Deswegen werden bei den Riots auch keine Forderungen gestellt und keine Erklärungen verbreitet. Wohlgemerkt, es ist ein kleiner, aber wachsender Teil der anarchistischen Bewegung in verschiedenen europäischen Ländern.

Beim militanten Flügel der Anti-AKW-Bewegung in den 1980er Jahren war das noch anders. So wollten beispielsweise Anti-AKW-AktivistInnen mit ihren Aktionen ganz konkret die Stilllegung der Meiler beschleunigen. Die militanten AKW-Gegner wurden von der autonome Publikation Wildcat damals polemisch als »bewaffneter Arm der Grünen« bezeichnet. Später wollten Autonome mit militanten Aktionen den Preis für Häuserräumungen in die Höhe treiben oder die Rodung von Bäumen wie im Hambacher Forst verhindern. Die Praxis der Insurrektionalisten ist also auch eine Zäsur innerhalb der heterogenen autonomen Bewegung. Doch sie hat Vorläufer in der Geschichte. So begann in Frankreich nach der Zerschlagung der Pariser Kommune eine Serie von Attentaten auf Politiker, Unternehmer, aber auch auf Cafés und Restaurants, in denen sich das wohlhabende Bürgertum traf.

Der linke US-Theoretiker Joshua Clover prognostizierte in seinem im letzten Jahr erschienenen Buch eine Zeit der immer stärker aufflammenden Riots. Wobei der Riot bei Clover nicht allein gleichzusetzen ist mit der gezielten Produktion von Sachschaden oder der Kabbelei mit der Polizei. »Er umfasst eine ganze Reihe von Aktivitäten wie Sabotage, Unterbrechungen, Diebstahl, Störungen und Haus- und Platzbesetzungen«, so ist in der Übersetzung des Bloggers Achim Szepanski zu lesen.

Clover leitet eine Verbindung zwischen dem Wiedererstarken der insurrektionalistischen Strömung und dem Ende der fordistischen Arbeitsgesellschaft in den 70er Jahren her. Das Ende dieser spezifischen Produktionsbedingungen war gekennzeichnet durch regionale Deindustrialisierung und eine wachsende Bedeutung von »Kapitalbewegungen in der Zirkulation«, womit er die Ausdehnung des Dienstleistungs- und Verwaltungssektors beschreibt. In diesem Kontext versucht Clover die historischen Relationen zwischen Streiks und der Produktion auf der einen Seite und der Anbindung der riots an die Zirkulation andererseits enger zu ziehen.

»Der Streik ist eine kollektive Aktion, die sich um den Preis der Arbeitskraft und bessere Arbeitsbedingungen dreht, während der Aufstand den Kampf um die Preise und die Erhältlichkeit von Marktgütern inkludiert«, so fasst der Blogger und Übersetzer Achim Szepanski die von Clover in dem Buch vertretenen Thesen zusammen. Bisher suchte Sczepanski vergeblich nach einem deutschen Verlag für das Buch. Vielleicht wächst das Interesse nach den Riots von Hamburg.

non.copyriot.com/

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1057830.von-aufflammenden-aufstaenden-und-kapitalakkumulation.html

Joshua Clover: Riot. Strike. Riot: The New Era of Uprisings, 2016, Verso Books

Peter Nowak

MieteraktivistInnen fordern Dämmmatorium in Berlin


In einem Offenen Brief fordern der Pankower Mieterprotest und das Büro für Ungewöhnliche Maßnahmen zum Widerstand gegen energetische Sanierung, die nur die Mieten in die Höhe treibt

Die Pestalozzistraße 4 in Berlin-Pankow ist ein eher unscheinbares Wohnhaus. Dass dort am Donnerstag zu einem Pressegespräch eingeladen wurde, liegt an einer Gerichtsentscheidung, die als Pankower Urteil bekannt wurde. Geklagt hatte die Familie Hahn, die in dem Haus wohnt, gegen die Gesobau, weil sie eine energetische Sanierung nicht dulden wollte. Im Urteil wurde festgeschrieben, dass die betroffene Familie ohne energetische Sanierung bei der Betriebskostenabrechnung aktuell genau die gleichen Verbrauchswerte hatte, wie eine Familie in einer von der Größe und der Bauweise gleichen Wohnung, die bereits energetisch saniert worden war. Dabei hatte die Gesobau energetische Einsparungen von 73 % angekündigt. „So etwas kann man sonst überall mit Fug und Recht als Betrug bezeichnen – nicht aber hier im Umgang mit den MieterInnen. Beachtlich, dass eine neoliberale Bundesregierung so etwas legalisieren und bis in die heutige Zeit als staatliche Zwangsmaßnahme für bestimmte Technologien durchsetzen kann“, kritisierte der Mieteraktivist Kurt Jotter vom Büro für ungewöhnliche Maßnahmen beim Pressegespräch die politischen Vorgaben, die aus der energetischen Sanierung ein profitables Gesetz für die Dämm-Lobby gemacht haben.

Modellprojekt Pestalozzistraße 4?

Zahlen müssen die MieterInnen. Die Pankower Familie Hahn ist dazu weiterhin nicht bereit. Sie fordert die Gesobau auf, das Haus in der Pestalozzistraße 4 in Pankow als „Versuchsobjekt“ zu betrachten, um die Wirtschaftlichkeit der energetischen Maßnahmen über einen Zeitraum von mindestens fünf Jahren zu überprüfen. Das Haus biete sich dafür an, da es über baugleiche Teile verfügt, von denen ein Teil bereits energetisch saniert ist und der andere Teil unsaniert ist. Es soll festgestellt werden, ob die Maßnahmen der energetischen Modernisierung tatsächlich wirtschaftlich und im Ergebnis klimarelevant sind. Dabei soll auch die bisher oft vernachlässigte sogenannte graue Energie in die Prüfung einbezogen werden, die für die Förderung und den Transport von Erdöl, die Herstellung von Wärmeverbundsystemen aus Styropor etc. benötigt wird.

Von der Berliner Senatorin für Stadtentwicklung und Wohnen Katrin Lompscher fordern die im Pankower Mieterprotest“ zusammengeschlossenen Betroffenen und das Büro für Ungewöhnliche Maßnahmen in einem Offenen Brief, ein Moratorium für energetische Sanierung instädtischen Wohnungsbaugesellschaften. Das soll gelten, bis die Ergebnisse der Effektivitätsprüfung bekannt sind. „Ein Kasseler Institut hat errechnet, dass die energetische Sanierung von Mietwohnungen in ganz Deutschland nur 7% der Gesamt-Emissionen ausmachen und dafür nun nach und nach alle MieterInnen blechen sollen“, heißt es in dem Brief, der sich ausdrücklich an alle „MitstreitreiterInnen für MieterInnenrechte“ und nicht nur die Politik richtet. „Wir rufen alle städtisch Verdämmten auf, ihre Betriebskosten-Abrechnungen genau zu lesen, zu prüfen und zu melden“, lautet der Appell an die Berliner MieterInnen. Interessierte können unter EnergEthik(at)web.de Kontakt zu den InitiatorInnen des Aufrufs nehmen.

aus: MieterEcho online
https://www.bmgev.de/mieterecho/mieterecho-online/daemmmoratorium.html

Peter Nowak

Wenig Interesse an kritischer Recherche


Bereits vor dem G20-Gipfel in Hamburg stellte eine Studie fest, dass viele Medien die Polizei nicht als Akteur mit eigenen Interessen betrachten, sondern als neutrale Instanz.

Das Thema ist hochaktuell: Wie berichten Medien über verschiedenen Formen und Inhalte des Protests? Die Bild-Zeitung spielte nach dem G20-Gipfel in Hamburg und den dagegen gerichteten Demonstrationen Polizei und Richter in einer Person und rief unter der Schlagzeile »Wer kennt diese G20-Verbrecher?« zur Denunziation von vermeintlichen Straftätern auf. Bereits am Freitag, als der Gipfel und die Proteste noch andauerten, veröffentlichte Bild das Foto eines Mannes, der angeblich einem Polizisten einen Böller ins Gesicht geworfen hatte. Der Beamte drohe zu erblinden. Wie die Polizei Hamburg einen Tag später mitteilte, stimmten beide Informationen nicht. Weder galt der Mann als Tatverdächtiger, noch verlor der Polizist sein Augenlicht. Doch da war die Falschmeldung über verschiedene soziale Netzwerke bereits über 100 000 Mal geteilt worden.

Wenn es gegen Linke geht, gehört die Unschuldsvermutung nicht unbedingt zu den journalistischen Grundsätzen des Blattes, wie bereits vor 50 Jahren unter Beweis gestellt. Aber auch Medien, die mehr Wert auf Seriosität legen, haben an den Gipfeltagen auf Bitten der Polizei ihre Recherche in beziehungsweise Berichterstattung aus bestimmten Teilen Hamburgs eingestellt oder zumindest eingeschränkt. Man wolle die polizeiliche Arbeit nicht behindern, lautete die Begründung. Doch sollte es nicht Aufgabe der Presse sein, die Arbeit der Polizei zu kontrollieren?

Selten wird die Rolle der Polizei im Zusammenhang mit gewaltsamen Auseinandersetzungen kritisch untersucht.

Offenbar würden längst nicht alle Medienvertreter diese Frage bejahen. Das machte die Studie »Großdemons­trationen in den Medien« deutlich, die das Berliner Institut für Bewegungs- und Protestforschung kurz vor dem Hamburger G20-Gipfel veröffentlicht hat. Die Institutsmitarbeiter Dieter Rucht, Moritz Sommer und Simon Teune untersuchten 69 Beiträge, die zwischen 2003 und 2015 erschienen waren. Zu den untersuchten elf Medien mit liberaler oder konservativer Ausrichtung gehören die Tageszeitungen Taz, Frankfurter Rundschau, Süddeutsche Zeitung, Frankfurter Allgemeine und Bild, die wöchentlich erscheinenden Zeitungen und Magazine Der Spiegel, Focus und Die Zeit sowie Nachrichtensendungen der öffentlich-rechtlichen Sender ARD, ZDF und Deutschlandfunk. Die untersuchten Beiträge befassten sich mit dem Irak-Krieg, den Protesten gegen die Agenda 2010 und denen gegen das Bahnprojekt Stuttgart 21. Auch die Berichterstattung über Aktionen für die Abschaltung von Atomkraftwerken nach der Katastrophe von Fukushima, über die Anti-TTIP-Demonstrationen sowie den Widerstand gegen den G7-Gipfel vor zehn Jahren in Heiligendamm untersuchten die Protestforscher. Schließlich widmeten sie sich auch dem journalistischen Output zur rechten Pegida-Bewegung.

Wenig überraschend ist die Erkenntnis der Studie, dass tendenziell linke Proteste negativer eingeschätzt werden, je konservativer eine Zeitung ist. Für die Pegida-Teilnehmer bringen die konservativen Medien hingegen mehr Verständnis auf als die liberalen. Sehr gut wird in der Studie herausgearbeitet, wie in der Berichterstattung Proteste subtil als randständig klassifiziert werden. Dagegen wird »der Normalbürger« gestellt, auch schon mal als »der brave Bürger« bezeichnet, den die Anliegen der Proteste kaum interessierten.

Die Polizei werde vor allem von konservativen Medien nicht als ein Akteur in diesen Auseinandersetzungen gesehen, der selbst auch Gewalt anwendet. Vielmehr werde sie häufig als neutrale Instanz in Artikel eingeführt. So verwundere es nicht, dass in den untersuchten Medien der Darstellung der Polizei wesentlich mehr Raum geboten wurde als der Sichtweise der Demonstrierenden.
Selten wird die Rolle der Polizei auch und gerade im Zusammenhang mit gewaltsamen Auseinandersetzungen kritisch untersucht. Zur Berichterstattung über das »Gewaltthema« sagte der Studie zufolge ein Journalist einer konservativen Zeitung, da gehe er »am nächsten Tag zur Pressekonferenz des Innensenators, der gemeinsam mit dem Polizeipräsidenten vorträgt, wie viele Polizisten verletzt wurden und wie viele Gewalttäter festgenommen wurden«. Eine Journalistin einer liberalen Zeitung berichtete demnach, dass sie sich von ihren Kolleginnen und Kollegen Vorwürfe anhören müsse, weil sie auch gute Kontakte zu Antifaschisten habe. Sie halte dem entgegen, dass es zu ihrem Beruf gehöre, gut vernetzt zu sein.
Das scheint bei einigen der in der Studie untersuchten Medien nicht unbedingt zum journalistischen Allgemeingut zu gehören. Da verwundert es nicht, wenn nach den Protesten in Hamburg medial kaum thematisiert wird, dass Tausenden Menschen ihr Grundrecht auf Versammlungsfreiheit genommen wurde, als die Polizei eine zu diesem Zeitpunkt friedliche Demonstration wegen einiger Vermummter gewaltsam auflöste. Staatliche Gewalt kann nicht problematisiert werden, wenn man die Recherche einstellt, weil die Polizei darum bittet.
https://jungle.world/artikel/2017/28/wenig-interesse-kritischer-recherche

Peter Nowak

Die Tragödie der Freiheit


Der »telegraph« zeigt einen exemplarischen Umgang mit linken Kontroversen

War es eine spanische Revolution oder ein spanischer Bürgerkrieg? Allein die Bezeichnung spaltet auch noch 80 Jahre später die Linke. Einigkeit besteht nur über die schlichte Erkenntnis, dass die Ereignisse auf der iberischen Halbinsel zwischen 1936 und 1939 weltweite Auswirkungen hatten.

Wie wir alle wissen beteiligten sich Linke unterschiedlicher Couleur in Spanien am Kampf gegen die rechten Putschisten. Die vielen Freiwilligen wollten damit auch den Vormarsch der Nationalsozialisten und Faschisten auf dem Kontinent stoppen, die hinter den spanischen Putschisten standen und sie großzügig förderten.

Doch während Kommunisten und Teile der Sozialisten die bürgerliche Republik erhalten wollten, stritten Anarchisten und Teile der Sozialisten für die soziale Revolution. Die Differenzen wurden auch blutig ausgetragen und spalten die Linke bis heute.

Jetzt macht die Redaktion der Zeitung »telegraph« in einem Sonderheft auf knapp 200 Seiten deutlich, dass man nach 80 Jahren allen an den Kämpfen gegen den Franco-Faschismus Beteiligte würdigen kann, ohne beliebig zu werden. Schon der zwiespältige Titel »Tragödie der Freiheit – Revolution und Krieg in Spanien (1936-1939)« deutet auf die unterschiedlichen im Heft dargestellten Perspektiven der an der Auseinandersetzung beteiligten hin.

In einem Text wird auf die repressive Politik der Komintern gegen andere Linke eingegangen. So beschreibt Werner Abel ein »trauriges Kapitel« in der Geschichte der Komintern, die mit Schwarzen Listen Jagd auf linke Kritiker der stalinistischen Politik machte. Es werden Originaldokumente gezeigt.

Am Beispiel des Sozialdemokraten Robert Stemmann zeigt Abel, wie Linke, die nicht auf der Linie der Sowjetunion lagen, schikaniert wurden. Stemmann wurde kurz nach dem Eintreffen in Spanien verhaftet. Es wird dokumentiert, wie er vergeblich seine Freilassung forderte und wenigstens wissen wollte, was gegen ihn vorlag. Mit Erich Mielke, der unter dem Pseudonym Fritz Leissner an der Verfolgung von kritischen Linken in Spanien beteiligt war, wird einer der Männer aus dem Komintern-Apparat vorgestellt.

Doch auch mit der anarchistischen Seite gehen die Autoren des Sonderbandes kritisch ins Gericht. So werden inneranarchistische Stimmen zitiert, die von einem Bankrott der eigenen Politik sprachen. Vorgeworfen wurde ihnen, dass sie in der kurzen Zeit ihrer Regierungsbeteiligung, viele ihrer ursprünglichen Grundsätze über Bord geworfen hätten. Mit einem Kapitel über die Beteiligung von Jüdinnen und Juden am Kampf gegen den Faschismus auf spanischen Boden wird auch ein bisher in der Forschung wenig beachtetes Thema angesprochen.

Die von linken DDR-Oppositionellen gegründete Zeitschrift »telegraph« macht mit diesem Heft exemplarisch deutlich, wie ein Umgang mit linken Geschichtskontroversen auch aussehen kann. Es werden klare Positionen bezogen, ohne den am Kampf Beteiligten abzusprechen, dass sie subjektiv Teil des weltweiten Kampfes gegen Faschismus waren.


telegraph, Sondernummer 2017: Tragödie der Freiheit. Revolution und Krieg in Spanien (1936-1939). Fragmente. 199 S., 12 Euro

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1057067.die-tragoedie-der-freiheit.html

Peter Nowak

Dazu ein Leserbrief in ND auf Freitag-Online:

https://www.freitag.de/autoren/peter-nowak/tragoedie-der-spaltung#1500476331310850

Dr. Werner Abel hat sich dazu jüngst geäußert. Er ist, wie auch ich Mitglied im Verein Kämpfer und Freunde der Spanischen Republik 1936 – 1939″ (KFSR).

Da unser gemeinsamer Leserbrief an das nd, dessen Autor so wie Sie, auch von der von Ihnen bemühten Legende um Mileke ausgeht, gestetten Sie mir, dass ich den Leserbrief hier als unsere Meinungsäußerung ausnahmsweise veröffentliche: Kein »Apparatemann«

Zu »Die Tragödie der Freiheit«, 12.7., S.18

Im Beitrag heißt es: »Mit Erich Mielke, der unter dem Pseudonym Fritz Leissner an der Verfolgung von kritischen Linken in Spanien beteiligt war, wird einer der Männer aus dem Komintern-Apparat vorgestellt.«

Mielke war kein Mann aus dem Komintern-Apparat und hatte weder die Funktion noch die Möglichkeit, sich an der Verfolgung Andersdenkender zu beteiligen. Ein »Apparatemann« der Komintern war Erich Mielke nicht, wenn er auch über die Komintern nach Spanien geschickt wurde. Aber das wurden Hunderte Emigranten, die in der Sowjetunion gelebt hatten, auch. Der größte Teil derer, die sich auf der »Liste der Mexikaner« befinden – »Mexiko« war die Tarnbezeichnung für die Sowjetunion, also wurden die, die von dort kamen, als »Mexikaner« bezeichnet – hatte weder mit Geheim- noch mit Nachrichtendiensten etwas zu tun. Überdies: Wäre Mielke ein Mann sowjetischer Dienste gewesen, dann hätte man ihn nach dem Spanienkrieg in die Sowjetunion geholt. So aber landete er in einem französischen Internierungslager, das er nur durch von Alfred Krumme (»Fritz Schiller«) gefälschte Papiere verlassen konnte.

Alle die immer wieder auftauchenden Vorwürfe, er habe an der Verfolgung und Ermordung von Interbrigadisten, kritischen Kommunisten und Andersdenkenden teilgenommen, lassen sich nach der Öffnung der Akten nicht aufrechterhalten. In den Akten der Internationalen Brigaden, die nahezu vollständig überliefert sind, gibt es nicht ein Blatt, das von irgendeiner repressiven Maßnahme berichtet, an der Mielke beteiligt gewesen wäre. Mielke gehörte keinem Geheimdienst und keiner Geheimpolizei in Spanien an. Selbst der in Spanien wirkenden geheimen KPD-Abwehr gehörte er nicht an. Für die ihm vorgeworfenen Verbrechen hat er weder die Funktion noch die Möglichkeiten gehabt. Mielke war auf Grund seiner Dienststellung und seiner militärischen Funktionen überhaupt nicht in der Lage, an irgendeiner »Säuberung« oder einer Erschießung teilzunehmen.

Soweit das die Akten belegen, kann wohl definitiv festgestellt werden, dass im Spanischen Krieg 1936 bis 1939 von den deutschen Interbrigadisten zwei standrechtlich erschossen worden sind: Einer, weil er einen Befehl nicht ausgeführt und damit Kameraden in Gefahr gebracht hatte. Ein anderer, weil er dagegen opponierte, dass das durch den Kriegsminister Prieto erlassene Verbot parteipolitischer Betätigung vor allem durch die KPD-Organisation in den Brigaden unterlaufen wurde. In der Endkonsequenz lief das, folgt man der Urteilsbegründung, auf Untergrabung der Kampfmoral hinaus. Damit aber hatte Mielke absolut nichts zu tun, er gehörte weder dem Servicio de Control, noch dem SIM (Servicio de Investigación Militar) der Internationalen Brigaden, noch der Juristischen Kommission der Brigaden an.

Er war Operationsoffizier im Stab verschiedener Brigaden und der 27. Division, die längste Zeit aber Verantwortlicher für die Ausbildungslager der Internationalen Brigaden rings um Albacete, wo sich die Base der Brigaden befand. In Albacete war Mielke Adjutant des Chefs der Ausbildung, also mehr mit operativen Aufgaben beschäftigt, nicht aber mit Verhören. Da er für die Belegung der Ausbildungslager verantwortlich war, wird er sich schon die Personallisten intensiver angeschaut und den einen oder anderen auch befragt haben. Mit Geheimdiensttätigkeit hatte das nichts zu tun. Für diese gibt es keine Belege. Dass er bestimmte Leute, die ihn über den Weg liefen, wie Walter Janka, kritisch befragte, ist möglich, war aber nicht seine Aufgabe gewesen.

Ausführlich wird auf diese Thematik auch eingegangen im Beitrag Werner Abels »Der Tod Hans Beimlers und die Reaktionen der KPD-Abwehr in Spanien« (www.kfsr.info)

Dr. Werner Abel, Oberschöna

Wie die Bild-Zeitung den Rechtspopulismus bedient

Über den dünnen Firnis der Zivilisation und Rechtsstaatlichkeit in Deutschland – Ein Kommentar

Die G20-Proteste und vor allem die Kiezaufstände rund ums Schanzenviertel haben wieder einmal gezeigt, wie dünn der Firnis von Zivilisation und Rechtsstaatlichkeit in Deutschland ist und dass die Gefahr aus der Mitte der Gesellschaft kommt.

So veröffentlichte die Boulevardzeitung Bild am vergangenen Montag unter der reißerischen Überschrift Wer kennt diese G20-Verbrecher[1] Bilder von 18 Personen, die sich an den Riots beteiligt haben sollen.

Dabei agiert das Blatt jenseits jeglicher rechtsstaatlicher Grundsätze. Danach soll ohne juristische Verurteilung niemand eines Delikts bezichtigt werden.


„Auch Idioten haben Persönlichkeitsrechte

Auf Bild-Blog[2], das sich seit Jahren kritisch mit der Berichterstattung des Boulevardblattes auseinandersetzt wird die mediale Selbstjustiz kritisiert.

Auch für Idioten gilt die Unschuldsvermutung. Auch Idioten müssen sich keine Vorverurteilung gefallen lassen. Auch Idioten sind nicht gleich „Verbrecher“, nur weil jemand ein Foto von ihnen gefunden hat, aus dem man ableiten könnte, dass sie eine Straftat begangen haben. Auch Idioten haben Persönlichkeitsrechte. Auch Idioten haben ein Recht am eigenen Bild.
Bild-Blog[3]

Auch die Fotos sind keineswegs so eindeutig, wie es scheint.

Manche von ihnen sind beim Werfen eines Steins zu sehen, manche beim Tragen eines Steins. Eine Frau ist kurz davor, eine leere Cola-Flasche wegzuschleudern. Eine andere hat zwei volle Flaschen Kindersekt unter den Arm geklemmt. Was die Leute davor gemacht haben oder danach, wohin die Steine und Flaschen fliegen, die sie in den Händen halten, ob sie bei manchen überhaupt fliegen oder nicht doch wieder fallen gelassen werden — nichts davon ist bekannt, und nichts davon lösen „Bild“ oder „Bild.de“ auf.
Bild-Blog[4]

Stefan Niggemeier hat auf dem Blog Übermedien[5] den rechtspopulistischen Kern der BILD-Denunziationskampagne auf dem Punkt gebracht:

Das Vorgehen von „Bild“ hat eine gefährliche innere Logik: Der Staat hat in Hamburg versagt. Er hat es nicht geschafft, die Bürger zu schützen, und er scheint es nicht einmal zu schaffen, die Verdächtigen dingfest zu machen. Also muss „Bild“ übernehmen.
Stefan Niggemeier[6]

Darf man Polizeigewalt und Menschenrechtsverletzungen in Deutschland noch kritisieren?

Mit ihren Steckbrief knüpft die Bild-Zeitung an ihre demokratiefeindliche Rolle an, die sie bereits vor ca. 50 Jahren hatte, als sich die Außerparlamentarische Bewegung etablierte. Die Aktivisten wurden auch damals als Kriminelle vorgeführt, für die es keine Grundrechte zu geben scheint. Dass haben Neonazis wie der Dutschke-Attentäter Bachmann als Auftrag verstanden, das Recht in die eigene Hand zu nehmen.

Auch in Hamburg sahen sich Neonazis als Vollstrecker eines nationalen Volkswillens und haben sich zum Kampf gegen Linke verabredet[7], oft waren sie nicht konspirativ genug und wurden von der Polizei aufgehalten[8].

Der damals noch generell staats- und machtkritische Wolf Biermann hatte danach den Song Drei Kugeln auf Rudi Dutschke[9] geschrieben. Mittlerweile hat Biermann schon längst seinen Frieden mit den herrschenden Verhältnissen und ihren Medium Bild gemacht – und nicht nur er.

Wer heute noch jeglichen Kontakt mit der Boulevardzeitung und ähnlichen selbsternannten Beobachtern verweigert, gilt schnell als dogmatisch und ewiggestrig. Genau wie Biermann, der so tief gesunken ist, dass er im Parlament und nicht vor Flüchtlingsheimen seinen Kitsch „Drum lass Dich nicht verhärten“ geträllert hat, so wollen auch viele seiner damaligen Fans Menschenrechtsverletzungen nur noch in Russland und der Türkei, aber keinesfalls in Deutschland wahrnehmen.

Wenn dann schon mal eine Grundrechtsverletzung, wie der Entzug der Akkreditierungen von Journalisten[10] nicht zu leugnen ist, wird sofort die Diskussion auf den türkischen Geheimdienst gebracht. Dabei wurden viele der betroffenen Pressevertreter schon wiederholt von der Polizei in Deutschland auf Demonstrationen bei ihrer Arbeit gehindert und geschlagen. Auch ihre Akkreditierungen wurden ihnen schon wiederholt entzogen. Nicht von türkischen, sondern von deutschen Staatsapparaten.

Die eigentliche Gefahr für die Demokratie

Wenn selbst für so offen dokumentierte Grundrechtsverletzungen die Verantwortung zumindest teilweise ins Ausland verlagert wird, ist natürlich Kritik an der Polizei schon fast Landesverrat. Das war schon so, als die Spitzenpolitikerin der Grünen, Sabine Peters, das Racial Profiling in Köln in der letzten Silvesternacht kritisiert hat und sich im Anschluss von ihrer gut begründeten Kritik distanzierte[11].

Die Publizistin Jutta Ditfurth[12] ist lange genug nicht mehr Mitglied der Grünen, so dass sie sich als Diskussionsteilnehmerin bei Maischberger[13] nicht von ihrer gut begründeten Kritik am Hamburger Polizeieinsatz abbringen ließ und dadurch den CDU-Rechtsaußen Bosbach[14] in Rage brachte, dass er schließlich die Diskussion verließ.

Dabei ging aber unter, dass er das autoritäre Gebaren seines Parteifreundes und Polizeigewerkschafters Joachim Lenders[15] ausdrücklich unterstützte, der auch auf die völlig moderate Kritik an dem Hamburger Polizeieinsatz des Linkenpolitikers Jan van Aaken[16] mit Wut regierte und die zahlreichen dokumentarischen Fälle von Menschenrechtsverletzungen durch die Polizei nicht mit einen Wort bedauerte.

Insofern lieferte diese Diskussionsrunde auch einen guten Einblick, wie reaktionärer Korpsgeist und offen zur Schau gestellter Autoritarismus das Signal an die Polizei gibt, sie könne weiterhin Grundrechte verletzten. Bosbach, die Bildzeitung und Lenders werden sie verteidigen. Hier und nicht in den Riots liegt nach meiner Auffassung die eigentliche Gefahr für die Demokratie.

https://www.heise.de/tp/features/Wie-die-Bild-Zeitung-den-Rechtspopulismus-bedient-3771213.html

Peter Nowak
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http://www.heise.de/-3771213

Links in diesem Artikel:
[1] http://www.bild.de/news/inland/g20-gipfel/wer-kennt-diese-verbrecher-52493328.bild.html
[2] http://www.bildblog.de/91116/kommissar-reichelt-und-die-bild-sheriffs-ueben-titelseiten-selbstjustiz/
[3] http://www.bildblog.de/91116/kommissar-reichelt-und-die-bild-sheriffs-ueben-titelseiten-selbstjustiz/
[4] http://www.bildblog.de/91116/kommissar-reichelt-und-die-bild-sheriffs-ueben-titelseiten-selbstjustiz/
[5] http://uebermedien.de/17527/wie-bild-es-dem-kevin-mal-so-richtig-gezeigt-hat/
[6] http://uebermedien.de/17527/wie-bild-es-dem-kevin-mal-so-richtig-gezeigt-hat
[7] https://www.facebook.com/AntifainfoNiedersachsen/photos/pb.499048303609785.-2207520000.1499867467./830074130507199/?type=3&theate
[8] http://www.haz.de/Hannover/Aus-der-Stadt/Uebersicht/Hooligans-wollen-aus-Hannover-zum-G20-Gipfel-nach-Hamburg-fahren
[9] http://www.songlexikon.de/songs/dreikugelnaufdutschke
[10] http://dju.verdi.de/presse/pressemitteilungen/++co++77e97746-66d7-11e7-98f9-525400940f89
[11] https://www.heise.de/tp/features/Racial-Profiling-ist-kein-Mittel-um-Sexismus-zu-bekaempfen-3589318.html
[12] http://www.jutta-ditfurth.de
[13] http://www.ardmediathek.de/tv/Maischberger/Sendung?documentId=311210&bcastId=311210
[14] http://wobo.de/
[15] http://www.dpolg.de/ueber-uns/bundesleitung/joachim-lenders
[16] http://www.jan-van-aken.de/

Dämm-Moratorium des Senats gefordert

Mieteraktivisten fordern Stadtentwicklungssenatorin Katrin Lompscher (LINKE) in einem Offenen Brief auf, ein Moratorium für einen Teil der energetischen Sanierung zu beschließen. Die Präsentation des Offenen Briefs fand im Vorderhaus der Pestalozzistraße 4 statt. Dort hatten Mieter gegen das landeseigene Wohnungsunternehmen Gesobau eine Gerichtsentscheidung erstritten, die als »Pankower Urteil« für Aufmerksamkeit sorgte. Das Gericht stellte fest, dass die betroffene Familie Hahn ohne energetische Sanierung bei den Betriebskosten die gleichen Verbrauchswerte wie Mieter sanierter Wohnungen hatten. Mieteraktivist Kurt Jotter forderte den Senat auf, die Effektivität und mögliche gesundheitsschädliche Wirkungen der energetischen Sanierung zu prüfen, bevor damit weiterhin ein Vorwand für Mieterhöhungen geschaffen werde.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1057358.daemm-moratorium-des-senats-gefordert.html

Peter Nowak

Nicht nur Straftäter wollen ihr Gesicht verbergen

Der Polizeieinsatz bei einer Hamburger G20-Demo bringt das Thema Vermummung wieder auf die Tagesordnung

Nach den G20-Protesten wollen Politiker verschiedener Couleur linker Gewalt zu Leibe rücken, vor allem Politiker der Union, aber auch Polizeigewerkschafter überbieten sich mit markigen Law-and-Order-Parolen.

„Nicht nur Straftäter wollen ihr Gesicht verbergen“ weiterlesen

Ein Wohnungsbau gegen eine Kiezoase

Das Kurhaus Ponte Rosa in der Kreuzbergstraße soll hochpreisigen Wohnungen weichen. Dagegen gibt es Protest

»Kulturhaus Ponte Rosa. Wir freuen uns auf einen tollen Sommer mit Euch«, steht auf einem Schild am Eingang zur Kreuzbergstraße 24b. Ein steiler Weg führt hinab auf eine idyllische Grünfläche. Gäste essen Pizza, trinken Rotwein. Doch es wird wohl der letzte Sommer im Ponte Rosa sein.
Als Matthias Bauer Mitte Juni für die LINKE als Bürgerdeputierter an der Sitzung des Stadtentwicklungsausschusses der Bezirksverordnetenversammlung Tempelhof-Schöneberg teilnahm, erfuhr er, dass Garten und Kurhaus einem vierstöckigen Wohnhaus weichen sollen. Nachdem Becker darüber auf seinem Gleisdreieck-Blog informierte, ist die Aufregung unter den Anwohnern groß.

Am Montagabend trafen sich über 50 Menschen im Kurhaus zum Kiezpalaver. Gekommen war auch der Grundstückeigentümer Jörg Weißenborn, der den Hausbau plant. In einer knappen Stunde gab es viele kritische Fragen zum Neubau. Eine Frau sagte ihm offen: »Wir danken Ihnen, dass Sie den Mut gefunden haben, mit uns zu reden, aber Ihr geplantes Haus geht am Bedarf vorbei.«

Weißenborn sagte, dass er sich mit einigen Freunden zu einer Baugruppe zusammengeschlossen habe, die das Haus gemeinsam bewohnen wollen. Ein ehemaliger Pächter des Kurhauses unterstützte ihn und betonte, dass das Kurhaus nicht rentabel betrieben werden könne. Nach einer Stunde verabschiedete sich Weißenborn.

Wenn einige auch applaudierten, weil er sich den Fragen stellte, konnten die Differenzen doch nicht ausgeräumt werden. Mitglieder der Schöneberger Bürgerinitiative »Stoppt den Kiezverkauf« sahen sich in ihrer Kritik bestätigt, dass hier ein Garten einer hochpreisigen Wohnbebauung weichen muss. Kritisiert wurden vor allem die zuständigen Behörden im Bezirksamt Tempelhof-Schöneberg. Ihnen wurde mangelnde Transparenz vorgeworfen. Für großen Unmut sorgte auch, dass hier der Paragraf 34 des Baugesetzbuches angewandt werden sollte, mit dem Baulücken ohne langwierige Planungen geschlossen werden können.

Voraussetzung dafür ist, dass sich das Bauvorhaben nach Art und Maß an der Nachbarschaft orientiert. Dem widersprechen viele Anwohner, die in der Anwendung des Paragrafen 34 in erster Linie eine Möglichkeit sehen, die Bürgerbeteiligung auszubremsen.

Seine Behörde habe hier gar keinen Entscheidungsspielraum gehabt. Es sei eindeutig eine Baulücke, erklärte hingegen Siegmund Kroll, Leiter der Abteilung Stadtentwicklung im Bezirk Tempelhof-Schöneberg, dem »nd«. Am heutigen Mittwoch tagt der Ausschuss für Stadtentwicklung um 17 Uhr im Rathaus Schöneberg.

Die Initiative »Stoppt den Kiezverkauf« ruft dazu auf, dass Menschen, die sich für den Erhalt von Garten und Kulturhaus einsetzen, die Sitzung besuchen sollen. Auch der Investor Weißenborn hat angekündigt, sich dort weiteren Fragen zu stellen.

Manche Anwohner hoffen zudem darauf, dass sich auch der Baustadtrat Jörn Oltmann (Grüne) zu Wort meldet. »Er müsste sich doch für den Erhalt der Grünflächen und der alten Bäume auf dem Areal einsetzen«, hofft eine Frau, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen will.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1057115.ein-wohnungsbau-gegen-eine-kiezoase.html

Peter Nowak

Viel Verschleiß, wenig Lohn

Die Beschäftigten von Essenslieferdiensten protestierten in Berlin wegen zu niedriger Bezahlung und schlechter Arbeitsbedingungen. Solidarität für die Berufsradler kommt auch von Taxifahrern

Die Transportkiste des Lieferdienstes Foodora, die an diesem Tag gut sichtbar am Tresen des Lokals der Basisgewerkschaft Freie Arbeiterinnen- und Arbeiterunion (FAU) in Berlin steht, bleibt ­geschlossen. Dafür erklärt Georgia P.*, warum sie sich mit Kolleginnen und Kollegen in der Kampagne »Deliverunion« zusammengeschlossen hat, um die Arbeitsbedingungen zu verbessern. Häufig habe sie erst am Freitag den Schichtplan für die Woche darauf erhalten. Weil sie oft leer ausgegangen sei, habe ihr Monatsverdienst bei lediglich etwa 300 Euro gelegen.

Mangelnde Transparenz bei der Schichtvergabe, zu niedrige Löhne und die Abwälzung der Kosten für Fahr­räder, Reparaturen, Ersatzteile und das unentbehrliche Smartphone auf die Beschäftigten störten die Kolleginnen und Kollegen bei den Lieferdiensten besonders, sagte der Pressesekretär der FAU Berlin, Clemens Melzer, im ­Gespräch mit der Jungle World. »Eigentlich könnten die Beschäftigten für Aufträge bei schlechtem Wetter oder an Wochenenden Lohnzuschläge einfordern«, so Melzer. In der Lieferbranche seien aber viele froh, wenn sie überhaupt Aufträge bekämen.

Auch in anderen EU-Ländern versuchen Basisgewerkschaften, die Beschäftigten von Essenslieferdiensten zu organisieren.

Doch es regt sich Widerstand. Ende April hatte die FAU einen von den Fahrerinnen und Fahrern von Deliveroo und Foodora erarbeiteten Forderungskatalog den beiden Unternehmen übergeben. Der umfasst vor allem die Erhöhung der Löhne um einen Euro pro Lieferung, die vollständige Übernahme der Kosten für Arbeitsmittel und eine garantierte Mindestzahl an Arbeitsstunden. Die Deliveroo-Beschäftigten fordern Transparenz über geleistete Stunden. Trotz zweimaliger Fristverlängerung habe das Unternehmen nicht reagiert. Beim Konkurrenten Foodora steht eine bezahlte Stunde pro Woche für die Schichtplanung im Forderungskatalog.

Am Mittwoch voriger Woche beim Protesttag von »Deliverunion« luden Georgia P. und mehrere Dutzend Kollegen vor der Deliveroo-Zentrale in Kreuzberg alte Fahrradteile ab, um auf den hohen Verschleiß ihres Arbeitsgeräts hinzuweisen, für dessen Kosten sie bislang selbst aufkommen müssen. Die anschließende Fahrraddemonstration führte zur Foodora-Zentrale in Berlin-Mitte, wo die Abschlusskundgebung stattfand. Das Unternehmen signalisierte Gesprächsbereitschaft und stellte die Einführung einer Pauschale für die Kosten von Smartphone und Fahrräderverschleiß in Aussicht.

Die meisten Beiträge auf der Kundgebung wurden auf Englisch gehalten, schließlich kommen die Beschäftigten der Lieferdienste aus den unterschiedlichsten Ländern. »Bei Deliveroo in Berlin arbeiten etwas über 500 Fahrer, gut 100 von ihnen sind Freelancer. Bei Foodora in Berlin sind alle Fahrer festangestellt, das sind 503«, berichtet Melzer. »Wir schätzen, dass die Hälfte der knapp 1 000 Fahrer in Berlin aus dem Ausland kommt, viele sprechen kaum Deutsch.« Die meisten kämen aus südeuropäischen Krisenländern wie Spa­nien, Italien oder Portugal.

Die FAU ist die Anlaufstelle für Fahrer, die für die Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen kämpfen, sich juristisch beraten lassen und Protestaktionen wie die in der vergangenen Woche planen wollen. Auch in vielen anderen europäischen Ländern versuchen Basisgewerkschaften, die Beschäftigten von Essenslieferdiensten zu organisieren. In den vergangenen Monaten protestierten in Großbritannien, Spanien und Italien Beschäftigte gegen ihre schlechten Arbeitsbedingungen. »Wir beziehen uns in den unterschiedlichen Ländern aufeinander. So wird von den Kollegen in Spanien und Italien genau beobachtet, was in Berlin passiert, und wir ­unterstützen die Kämpfe in den anderen europäischen Ländern«, so Melzer.

Doch auch Probleme wurden vergangene Woche deutlich. Nur wenige ­Medien berichteten über die basisgewerkschaftliche Protestaktion vom Mittwoch, der erfolgreiche Börsengang des Foodora-Mutterunternehmens Delivery Hero in Frankfurt am Main am Freitag bestimmte die Schlagzeilen. Dass die schlechten Arbeitsbedingungen und die niedrigen Löhne die Voraussetzung für die Gewinne an der Börse sind, wird kaum erwähnt.

Andreas Komrowski von der Taxi-AG bei der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi berichtete in seiner Solidaritätserklärung, dass auch die Taxifahrer mit Überwachung und geringen Einkommen zu kämpfen hätten. Komrowski schilderte, wie sich Taxiunternehmen um die Zahlung des gesetzlich vorgeschriebenen Mindestlohns zu drücken versuchten. So würden Wartezeiten an den Standplätzen zu Pausenzeiten umdeklariert, wodurch rechnerisch der Stundenlohn steigt. Mittlerweile ist auch die Berliner Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales auf diese Praxis aufmerksam geworden. In einem Schreiben an den Berliner Taxibund stellte die Behörde klar: »Reguläre Standzeiten, während derer auf Kunden gewartet wird, gehören zur Arbeitszeit.« Dass die gewerkschaftlich organisierten Taxifahrer mit der Kampagne »Deliverunion« kooperieren, ist für FAU-Sprecher Melzer ein Hoffnungszeichen. Prekäre Arbeitsbedingungen sind die Regel in der wachsenden sogenannten Gig-Ökonomie, in der Beschäftigte sich über Internetplattformen von einem Auftrag – englisch: gig – zum nächsten hangeln. Kollektiver Widerstand dagegen ist bislang die Ausnahme.

* Vollständiger Name der Redaktion bekannt.

https://jungle.world/artikel/2017/27/viel-verschleiss-wenig-lohn

Peter Nowak

Linke Gegner im Visier

Auch rund 20 Neonazis randalierten am Samstag im Hamburger Szeneviertel St. Pauli.

Am Wochenende waren in Hamburg auch Neonazis aktiv. Unter dem Motto „Unsere Heimat wieder unter Kontrolle bringen“ hatten die „Hooligans gegen Salafisten“ (Hogesa) zu einer gemeinsamen Zugfahrt von Hannover nach Hamburg aufgerufen. Damit reagierten sie auf die Berichte über die G20-Proteste in Hamburg.

Die HoGesa ist für ihre hohe Gewaltbereitschaft bekannt, nachdem es bei einem Aufmarsch in Köln im Oktober 2014 zu heftigen Auseinandersetzungen mit der Polizei gekommen war. Die Polizei kontrollierte in Hannover 25 Personen, die sich am angegebenen Treffpunkt am Raschplatz in der Nähe des Hauptbahnhofs eingefunden hatten. Vier Personen mit Kontakten in die rechte Szene wurden nach Angaben der „Hannoverschen Allgemeinen“ (HAZ) festgenommen. Sie sollen Fahrkarten nach Hamburg und verdächtige Gegenstände bei sich gehabt haben. Keiner der Hooligans konnte die Fahrt von Hannover nach Hamburg antreten. Unter den kontrollierten Personen waren nach Angaben von Beobachtern der rechten Szene des Antifaschistischen Nachrichtenportals Niedersachsen Neonazis aus dem Umfeld des „Nationalen Widerstand Niedersachsen Ost“, der in Salzgitter aktiv ist.

Linke Kneipen und Treffpunkte angegriffen

In anderen Städten wurde der Abfahrtsort von HoGeSa wohl nicht so offen verbreitet. Am späten Samstagabend versammelten sich rund 20 Neonazis im Hamburger Szeneviertel St. Pauli. Sie griffen linke Kneipen und Treffpunkte mit Flaschen an, wurden aber schnell von Passanten verjagt, die sich auf der Straße aufhielten. Die Polizei nahm mehrere Rechte fest, die die Nacht in der Polizeisammelstelle in Hamburg-Harburg verbringen mussten, ehe sie im Laufe des Sonntags wieder freigelassen wurden.

Auch rund 20 Neonazis randalierten am Samstag im Hamburger Szeneviertel St. Pauli.
Während die HoGeSa-Mobilisierung das Ziel hatte, linke G20-Gegner anzugreifen, ist von einer rechten Beteiligung an den G20-Protesten nichts bekannt. Der Hamburger NPD-Landesverband hatte im Vorfeld angekündigt, mit einen eigenen Block mit NPD- und Deutschlandfahnen bei den Protesten „die nötige nationale Grundeinstellung zu vermitteln“. Auch das neonazistische „Antikapitalistische Kollektiv“ hatte im Internet zur Beteiligung an den G20-Protesten aufgerufen, ohne dass sie wahrgenommen wurden.

Die rechtspopulistische Kleinstpartei „pro Deutschland“ hat ihre im Februar 2017 großspurig angekündigte Pro-Trump-Demonstration in Hamburg während des G20-Gipfels offiziell mit der Begründung abgesagt, der US-Präsident habe in rechten Kreisen durch die Bombardierung Syriens an Sympathie verloren. Beobachter hielten die Demoankündigung von Anfang an für eine PR-Aktion der kaum noch relevanten Rechtspartei.

aus Blick nach Rechts: > 10.07.2017

https://www.bnr.de/artikel/aktuelle-meldungen/linke-gegner-im-visier
Peter Nowak