Warum wachsen die Ostermärsche nicht in Zeiten erhöhter Kriegsgefahr?

Die Haltung zu Russland scheint eine entscheidende Rolle zu spielen

Auch in diesem Jahr haben sich bundesweit wieder tausende Menschen in verschiedenen Städten des Bundesgebietes an den Ostermärschen der Friedensbewegung[1] beteiligt. Die Organisatoren zeigten sich zufrieden. In manchen Orten habe die Teilnehmerzahl zugenommen und auch junge Menschen hätten sich an einigen Orten an den Ostermärschen beteiligt, die just in diesem Jahr ihr 60tes Jubiläum hatten.

Dass besonders die Beteiligung junger Leute betont wird, hat einen Grund. Schließlich wird den Ostermärschen Überalterung vorgeworfen. Es sei nicht gelungen, die junge Generation mit dieser Protestform anzusprechen, lautete die nicht unberechtigte Kritik. Diese Beobachtungen werden nicht deshalb obsolet, weil in einigen Orten der Kreis der Teilnehmer größer geworden ist und sich verjüngt hat.

Warum wenig Protest gegen wachsende Kriegsgefahr?

Die Frage müsste doch lauten, warum die Zahl der Ostermarschteilnehmer nicht in einer Zeit zunimmt, in der nicht wenige eine Erhöhung der Kriegsgefahr sehen. Der damalige Bundesaußenminister Gabriel sah in seiner Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz gar die Welt am Abgrund[2]. Vielleicht war es ja bei Gabriel eher der Verlust seines Amtes, der ihn zur Panik trieb. Doch auch andere Stimmen haben in den letzten Monaten vor dem Anwachsen der Kriegsgefahr gewarnt.

Schauplätze gibt es in der ganzen Welt genug und erstmals seit über 70 Jahren gab es in Hawaii wieder einen Raketenalarm, der sich zum Glück als falsch herausstellte (Wenn ein roter Knopf versehentlich gedrückt wird[3]) . Das müsste eigentlich der Friedensbewegung einen Auftrieb geben, die ja immer sehr stark von der Angst vor einen Atomkrieg motiviert war.

Vor diesem Hintergrund können sich die Organisatoren der Proteste eben nicht mit einem regionalen Zulauf beruhigen. Auch die Protest- und Bewegungsforschung hat sich schon Gedanken darüber gemacht, warum es nicht eine Neuauflage der Friedensbewegung in Deutschland gibt. Dabei fällt die Antwort von Protestforscher Simon Teune[4] doch sehr konventionell aus.

Die Märsche haben gut funktioniert, als es mit dem Kalten Krieg eine Systemauseinandersetzung gab, die sich über Jahre verfestigt hat. Das Format ist aber ziemlich unflexibel, um aktuelle Ereignisse wie zum Beispiel Afrin auf die Tagesordnung zu setzen. Da muss man von der Bundesregierung von einem Tag auf den anderen eine Position verlangen und kann nicht jedes Jahr bis Ostern warten.

Simon Teune, Taz

Sind die Ostermärsche zu russlandfreundlich?

Weil ja vor allem das linksliberale Milieu nicht nur in Deutschland einer besonderen Verschwörungstheorie anhängt, nach dem Russland überall mitmischt, kam man auch in dem Interview schnell auf die Frage, ob die deutsche Friedensbewegung womöglich zu russlandfreundlich ist. Und Teune spielt auf der Klaviatur:

Aber wenn es einem um Ghouta geht, ist die Aussicht darauf, dass neben mir einer ein Transparent hochhält, auf dem „Schützt Russland vor der Nato-Aggression“ steht, nicht sehr motivierend, wenn ich gleichzeitig weiß, was Russland so in Syrien treibt.

Simon Teune, Taz

Bei dieser Aussage ist bezeichnend, dass Teune nicht zu beschreiben versucht, was Russland in Syrien treibt. Diese Auslassungen zielen auf ein Publikum, das sich in Deutschland schon einig ist, dass Russland in Syrien einen „Vernichtungskrieg“ führt. Der Publizist Velten Schäfer hat darauf hingewiesen[5], dass mit diesen Begriff gemeinhin der nazistische Ausrottungskrieg im 2. Weltkrieg in der Sowjetunion bezeichnet wird:

Was aber passiert, wenn jemand zur Kritik der russischen Militärintervention in Syrien den Ausdruck „Vernichtungskrieg“ benutzt? Die rhetorische Frage zeigt es an: Nichts. Im Gegenteil ist dieser Ausdruck offenbar eine Art Standardvokabel. „Bild“ etwa benutzt ihn häufig in der Art einer Spitzmarke, also als Rubrik, die durch die eigentliche Schlagzeile noch spezifiziert wird: „Vernichtungskrieg in Ost-Ghouta: Assad und Putin töten Dutzende mit Brandbomben“. Und der „FAZ“ diente dieser Tage die Rede vom „Vernichtungskrieg im Osten von Damaskus“ nicht einmal als kommentierende Zuspitzung in einer Überschrift, sondern als vermeintliche Tatsachenbeschreibung in einem Nachrichtentext. Wer will, kann Putins syrischen „Vernichtungskrieg“ in wenigen Minuten dutzendfach ergoogeln.

Velten Schäfer, Neues Deutschland

Schäfer hat auch eine Erklärung, warum besonders deutsche Medien gerne mit dem Begriff Vernichtungskrieg in Bezug auf das russische Agieren in Syrien operiert.

Dass deutschen Schreibern „Putins Vernichtungskrieg“ nicht im Halse stecken bleibt, liegt daran, dass der Krieg im Osten „unbewältigt“ ist: Weil sein verbrecherischer Charakter, weil seine rassistische Motivation für die heute dominierende westdeutsche Erinnerungskultur so bequem hinter der Front der Blockkonfrontation verschwand und weil dieser Krieg mit fraglos harten Konsequenzen verloren wurde, halten sich viele Deutsche sogar für Opfer „der Russen“.

Velten Schäfer

Es war auch Velten Schäfer, der beschreibt, „was die Russen so in Syrien treiben, wie nicht nur Teune raunt:

Die Belagerungen von Aleppo im Jahr 2016 wie jetzt der östlichen Vorstädte von Damaskus endeten mit Verhandlungen, als deren Resultat die unterlegenen Milizen nicht nur Sympathisanten und Angehörige, sondern auch Kämpfer – sogar bewaffnete – an Orte verlegten, an denen sie ihren Krieg weiterführen konnten. Man stellte ihnen Busse zur Verfügung.

Velten Schäfer

Gerade um Ostern konnten in Ost-Ghouta nach Verhandlungen islamistische Aufständige das Kampfgebiet mit ihren Familien verlassen. Für emanzipatorische Kräfte ist damit sicher nichts gut in Syrien, weil das autoritäre Assad-Regime sich natürlich als Gewinner geriert. Doch angesichts der realen Lage in Syrien ist es schon ein Fortschritt, wenn jetzt ein islamistisches Kampfgebiet verschwunden ist. Das hat sicher nicht zur Emanzipation in Syrien beigetragen. Es ist nur zu hoffen, dass sich die syrische Demokratiebewegung bald wieder erholt und ihren nichtreligiösen Kampf gegen das Assad-Regime wieder aufnehmen kann, der ja mal am Beginn der Proteste stand, bevor sie von Islamisten unterschiedlicher Couleur gekapert wurden.

Wenn man also Teunes Frage beantwortet, geben die aktuellen Ereignisse in Syrien keinen Grund, die im Ostermarsch-Aufruf Berlin enthaltenen Sätze „Russland wird als Bedrohung aufgebaut“ und „Die Nato steht an den Grenzen Russlands“ in Frage zu stellen. Das sind schließlich nur Tatsachenbeschreibungen. Es ist schon erstaunlich, dass Teune nicht einfach genau darauf hinweist, sondern darauf antwortet:

Das zeigt genau, wie problematisch friedenspolitische Positionierungen geworden sind. Putin ist ja kein Friedensfürst. Die Rolle Russlands in Syrien und der Ukraine oder die Beeinflussung der öffentlichen Meinung in vielen Ländern rücken aber in den Hintergrund.

Simon Teune

Nicht nur Russland will die öffentliche Meinung beeinflussen

Dass Putin so wenig ein Friedensfürst wie Merkel, Trump oder andere Regierungschefs ist, ist klar. Nur hat diese Aussage nichts mit den vorher zitierten Sätzen des Ostermarschsaufrufes zu tun, in dem nur die Tatsache erwähnt wird, dass die Nato in den letzten 20 Jahren an die Grenze Russlands gerückt ist und nicht umgekehrt. Dass dann Teune die Beeinflussung der öffentlichen Meinung nur bei Russland kritisiert, ist für einen Protestforscher ein Armutszeugnis. Dabei dürfte ihm nicht unbekannt sein, dass natürlich die USA und alle EU-Staaten ebenfalls die öffentliche Meinung beeinflussen.

Hier verhält es sich wie bei der Überwachung und Ausforschung der Geheimdienste. Was sämtliche Dienste der Welt machen, wird immer nur bei der Seite problematisiert, mit der man in Konkurrenz steht. Weil das im Fall der Deutsch-EU zunehmend auch die USA ist, wurde plötzlich auch ein Thema, dass US-Geheimdienste auch in Deutschland ausforschen. Das haben sie immer gemacht, genau wie die deutschen Geheimdienste auch in den USA und anderen Ländern spionieren. Nur lange Zeit wurde darüber unter Partnern hinweggesehen. Welche Blüten die fixe Theorie über den russischen Einfluss auf alles und jedes treibt, zeigt die vom rechtspopulistischen österreichischen Innenminister zu verantwortende Razzia bei einem Geheimdienst[8]. Statt zu thematisieren, dass eine Partei vom rechten Rand womöglich an Daten und Geheimdiensterkenntnisse ihrer eigenen Vergangenheit herankommen will, wird auch hier wieder die russische Karte gespielt.

„Zwei der drei österreichischen Geheimdienste, das für Auslandsaufklärung zuständige Heeresnachrichtenamt und der im Innenministerium angesiedelte Verfassungsschutz, arbeiten seit Jahrzehnten mit dem deutschen BND und dem US-Auslandsdienst CIA zusammen. Der Verfassungsschutz könnte nun durch den Einfluss Russlands von befreundeten Diensten abgeschnitten werden. Allein die Tatsache, dass die FPÖ sowohl das Innenministerium als auch das Verteidigungsressort innehat und damit politisch verantwortlich für die beiden Geheimdienste ist, hatte bereits für große Befürchtungen gesorgt.“ Da werden die Sorgen der westlichen Geheimdienste groß rausgestellt, wo es eigentlich um die Frage geht, welche Macht eine Rechtsaußenpartei im Innenministerium hat.

Ständiges Beschwören der Russlandgefahr dient der Herausbildung eines Deutschland-EU-Nationalismus

Das ständige Beschwören der Russlandgefahr führt zur Herausbildung eines Nationalismus von EU-Deutschland, der damit auch die Steigerung der Rüstungsausgaben und den Schwenk zu einer aggressiveren Außenpolitik legitimiert. Die Schwäche der Friedensbewegung nicht nur bei den Ostermärschen ist ein Zeichen für die Macht dieses neuen Nationalismus der Deutsch-EU.

Weil ein Großteil der Bevölkerung hinter diesen Zielen steht, beteiligen sie sich nicht an den Protesten. Die deutsche Friedensbewegung war schließlich immer dann am stärksten, wenn sie wie in den 1980er Jahren Deutschland als Opfer der Blockkonfrontation imaginierte. In einem aufstrebenden Machtblock EU-Deutschland ist die Friedensbewegung hingegen schwach.

Peter Nowak
https://www.heise.de/tp/features/Warum-wachsen-die-Ostermaersche-nicht-in-Zeiten-erhoehter-Kriegsgefahr-4011075.html

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[1] https://www.friedenskooperative.de/ostermarsch-2018
[2] https://www.tagesspiegel.de/politik/muenchner-sicherheitskonferenz-gabriel-warnt-die-welt-steht-am-abgrund/20974840.html
[3] https://www.heise.de/tp/features/Hawaii-Wenn-ein-roter-Knopf-versehentlich-gedrueckt-wird-3940838.html
[4] https://www.tu-berlin.de/ztg/menue/team/mitarbeiterinnen/teune_simon_dr/
[5] https://www.neues-deutschland.de/artikel/1083785.medien-ueber-russland-die-wiederkehr-des-untermenschen.html
[6] https://commons.wikimedia.org/wiki/Category:Ostermarsch?uselang=de#/media/File
[7] https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/
[8] https://www.abendblatt.de/politik/article213776369/Wirbel-um-Razzia-beim-oesterreichischen-Geheimdienst.html

Wenig Interesse an kritischer Recherche


Bereits vor dem G20-Gipfel in Hamburg stellte eine Studie fest, dass viele Medien die Polizei nicht als Akteur mit eigenen Interessen betrachten, sondern als neutrale Instanz.

Das Thema ist hochaktuell: Wie berichten Medien über verschiedenen Formen und Inhalte des Protests? Die Bild-Zeitung spielte nach dem G20-Gipfel in Hamburg und den dagegen gerichteten Demonstrationen Polizei und Richter in einer Person und rief unter der Schlagzeile »Wer kennt diese G20-Verbrecher?« zur Denunziation von vermeintlichen Straftätern auf. Bereits am Freitag, als der Gipfel und die Proteste noch andauerten, veröffentlichte Bild das Foto eines Mannes, der angeblich einem Polizisten einen Böller ins Gesicht geworfen hatte. Der Beamte drohe zu erblinden. Wie die Polizei Hamburg einen Tag später mitteilte, stimmten beide Informationen nicht. Weder galt der Mann als Tatverdächtiger, noch verlor der Polizist sein Augenlicht. Doch da war die Falschmeldung über verschiedene soziale Netzwerke bereits über 100 000 Mal geteilt worden.

Wenn es gegen Linke geht, gehört die Unschuldsvermutung nicht unbedingt zu den journalistischen Grundsätzen des Blattes, wie bereits vor 50 Jahren unter Beweis gestellt. Aber auch Medien, die mehr Wert auf Seriosität legen, haben an den Gipfeltagen auf Bitten der Polizei ihre Recherche in beziehungsweise Berichterstattung aus bestimmten Teilen Hamburgs eingestellt oder zumindest eingeschränkt. Man wolle die polizeiliche Arbeit nicht behindern, lautete die Begründung. Doch sollte es nicht Aufgabe der Presse sein, die Arbeit der Polizei zu kontrollieren?

Selten wird die Rolle der Polizei im Zusammenhang mit gewaltsamen Auseinandersetzungen kritisch untersucht.

Offenbar würden längst nicht alle Medienvertreter diese Frage bejahen. Das machte die Studie »Großdemons­trationen in den Medien« deutlich, die das Berliner Institut für Bewegungs- und Protestforschung kurz vor dem Hamburger G20-Gipfel veröffentlicht hat. Die Institutsmitarbeiter Dieter Rucht, Moritz Sommer und Simon Teune untersuchten 69 Beiträge, die zwischen 2003 und 2015 erschienen waren. Zu den untersuchten elf Medien mit liberaler oder konservativer Ausrichtung gehören die Tageszeitungen Taz, Frankfurter Rundschau, Süddeutsche Zeitung, Frankfurter Allgemeine und Bild, die wöchentlich erscheinenden Zeitungen und Magazine Der Spiegel, Focus und Die Zeit sowie Nachrichtensendungen der öffentlich-rechtlichen Sender ARD, ZDF und Deutschlandfunk. Die untersuchten Beiträge befassten sich mit dem Irak-Krieg, den Protesten gegen die Agenda 2010 und denen gegen das Bahnprojekt Stuttgart 21. Auch die Berichterstattung über Aktionen für die Abschaltung von Atomkraftwerken nach der Katastrophe von Fukushima, über die Anti-TTIP-Demonstrationen sowie den Widerstand gegen den G7-Gipfel vor zehn Jahren in Heiligendamm untersuchten die Protestforscher. Schließlich widmeten sie sich auch dem journalistischen Output zur rechten Pegida-Bewegung.

Wenig überraschend ist die Erkenntnis der Studie, dass tendenziell linke Proteste negativer eingeschätzt werden, je konservativer eine Zeitung ist. Für die Pegida-Teilnehmer bringen die konservativen Medien hingegen mehr Verständnis auf als die liberalen. Sehr gut wird in der Studie herausgearbeitet, wie in der Berichterstattung Proteste subtil als randständig klassifiziert werden. Dagegen wird »der Normalbürger« gestellt, auch schon mal als »der brave Bürger« bezeichnet, den die Anliegen der Proteste kaum interessierten.

Die Polizei werde vor allem von konservativen Medien nicht als ein Akteur in diesen Auseinandersetzungen gesehen, der selbst auch Gewalt anwendet. Vielmehr werde sie häufig als neutrale Instanz in Artikel eingeführt. So verwundere es nicht, dass in den untersuchten Medien der Darstellung der Polizei wesentlich mehr Raum geboten wurde als der Sichtweise der Demonstrierenden.
Selten wird die Rolle der Polizei auch und gerade im Zusammenhang mit gewaltsamen Auseinandersetzungen kritisch untersucht. Zur Berichterstattung über das »Gewaltthema« sagte der Studie zufolge ein Journalist einer konservativen Zeitung, da gehe er »am nächsten Tag zur Pressekonferenz des Innensenators, der gemeinsam mit dem Polizeipräsidenten vorträgt, wie viele Polizisten verletzt wurden und wie viele Gewalttäter festgenommen wurden«. Eine Journalistin einer liberalen Zeitung berichtete demnach, dass sie sich von ihren Kolleginnen und Kollegen Vorwürfe anhören müsse, weil sie auch gute Kontakte zu Antifaschisten habe. Sie halte dem entgegen, dass es zu ihrem Beruf gehöre, gut vernetzt zu sein.
Das scheint bei einigen der in der Studie untersuchten Medien nicht unbedingt zum journalistischen Allgemeingut zu gehören. Da verwundert es nicht, wenn nach den Protesten in Hamburg medial kaum thematisiert wird, dass Tausenden Menschen ihr Grundrecht auf Versammlungsfreiheit genommen wurde, als die Polizei eine zu diesem Zeitpunkt friedliche Demonstration wegen einiger Vermummter gewaltsam auflöste. Staatliche Gewalt kann nicht problematisiert werden, wenn man die Recherche einstellt, weil die Polizei darum bittet.
https://jungle.world/artikel/2017/28/wenig-interesse-kritischer-recherche

Peter Nowak

Wenn die journalistische Norm der brave Bürger ist

Der G20-Gipfel und die Gegenproteste beschäftigen die Medien seit Tagen. Doch was wird dort berichtet? Werden die Argumente der Kritiker wiedergeben oder geht es darum, eine Symbolpolitik darzustellen? Rechtzeitig zum Gipfel in Hamburg hat das Institut für Protestforschung[1] eine Studie[2] veröffentlicht, die sich diesen Fragen widmet. Sie wurde von den Bewegungsforschern Simon Teune[3], Dieter Rucht[4] und Moritz Sommer erarbeitet.


Nur konservative und liberale Medien werden untersucht

Die drei Forscher haben 69 Beiträge zu sieben Demonstrationen untersucht, die zwischen 2003 und 2015 erschienen sind. Elf Medien wurden untersucht, darunter Taz, Bild, die Wochenzeitungen Spiegel, Focus und Die Zeit sowie die öffentlich-rechtlichen Sender ARD, ZDF und Deutschlandfunk. Die Medienauswahl ist ein Schwachpunkt der Studie. Es gibt hier nur konservative und liberale Medien.

Medien links von der Taz werden einfach ignoriert. Bemerkenswert ist, dass nicht einmal in der Einleitung begründet wird, warum weder die Wochenzeitung Freitag oder die Jungle World noch die Tageszeitungen Neues Deutschland und junge Welt zu den Untersuchungsobjekten gehören. Zumindest eine Zeitung aus dem linken Spektrum hätte schon berücksichtigt werden müssen.

So setzt sich auch in der kritischen Protestforschung die Ausblendung linker Positionen fort. Relevante Meinungsbildung hat nach ihrer Vorstellung nur zwischen Taz, Frankfurter Rundschau, FAZ und Bild stattzufinden. Zu den Protesten, die hier nachbereitet werden, gehören Aktionen gegen den Irakkrieg, der Agenda 20, den G8-Gipfel 2007 in Stock, der Widerstand gegen das Projekt Stuttgart 21 in der gleichnamigen Hauptstadt von Baden Württemberg, die Aktionen für die AKW-Abschaltung nach der Katastrophe von Fukushima und die Anti-TTIP-Demonstration und der Pegida-Bewegung.

Wenig überraschend ist die Erkenntnis, dass die Demonstrationen und Proteste negativer eingeschätzt werden, je konservativer eine Zeitung ist. Bei Pegida war es verständlicherweise umgekehrt. Dort hatten die konservativen Medien mehr Verständnis als die liberalen. Doch in vielen Zeitungen kommen die unterschiedlichen Demonstranten nur am Rande zu Wort. Dafür wird der Version der Polizei und anderer Staatsapparate viel Raum gegeben.

Besonders deutlich war das nach den Erkenntnissen bei der Berichterstattung über den G7-Gipfel in Rostock zu beobachten.

Zwar zieht der Protest die größte Aufmerksamkeit auf sich: alle Quellen berichten überdurchschnittlich ausführlich vom Protest. Allerdings ist die inhaltliche Auseinandersetzung bescheiden (Anteil von Protestmotiven insgesamt 16,9%).
Studie Großdemonstrationen in Medien[5]

Der Fokus der Berichterstattung liegt auf einer Konfrontation von Teilen der Demonstranten und der Polizei bei der Auftaktdemonstration in Rostock. Doch das Muster lässt sich auch auf andere Demonstrationen übertragen. Wenn es auch nur vereinzelt zu Auseinandersetzungen mit der Polizei bei Protesten kommt, fokussiert sich die Berichterstattung vieler Medien darauf. Diese Auseinandersetzungen nehmen dann einen unverhältnismäßig großen Raum ein, den sie nicht verdienen, wenn man die Demonstrationen insgesamt betrachtet.


Die Suche nach dem „normalen Bürger“

Sehr gut wird in der Studie herausgearbeitet, wie die Berichterstattung oft subtil vorgeht, um Demonstrationen und Proteste in die Nähe der Anständigkeit zu rücken. Da wird von den „üblichen Verdächtigen“ geredet und geschrieben, die die „normalen Bürger“ nicht überzeugen können. Die Figur des Normalbürgers oder auch des braven Bürgers, die den „Aktivisten“ entgegengestellt wird, geht schon von der Grundannahme aus, dass eben die „Normalbürger“ keine Aktivisten sind.

Interessant ist, dass in konservativen Zeitungen, die Proteste gegen die „Agenda 2010“, die von vielen Menschen getragen wurden, die vorher noch nie eine Demonstration besucht haben, als „Akt der Selbstvergewisserung“ bezeichnet und damit auch abgewertet wurden. Zumindest passt das Bild, das hier als Norm verwendet wird, eher in eine Biedermeiergesellschaft als in ein demokratisches Gemeinwesen, in dem die Menschen ihre Geschicke möglichst weitgehend in die eigene Hand nehmen sollen.

Der brave Bürger, der hier als Leitbild genutzt wird, hält sich, wenn er schon mal demonstriert, streng an alle Regeln, einschließlich der Straßenverkehrsordnung. Menschen, die sich der Aktionen des zivilen Ungehorsams bedienen, weichen da schon verdächtig von der Norm des braven Bürgers ab. Doch die braven Proteste werden in einem Großteil der Medien mit Umschreibungen wie „Volksfest“ oder „Karneval“ entpolitisiert.

Die Polizei wird hingegen nicht als ein Akteur in diesen Auseinandersetzungen gesehen, der selber auch Gewalt anwendet. Vielmehr wird sie oft als legitime staatliche Stimme in Artikel eingeführt. Selten wird ihre Rolle auch und gerade im Vorfeld von militanten Auseinandersetzungen kritisch unter die Lupe genommen.

Martin Jänichen, der für eine konservative Zeitung arbeitet, wird in der Studie mit dem bezeichnenden Statement zitiert: „Das Gewaltthema (…), da gehe ich am nächsten Tag zur Pressekonferenz des Innensenators, der gemeinsam mit dem Polizeipräsidenten vorträgt, wie viele Polizisten verletzt wurden und wie viele Gewalttäter festgenommen wurden.“

Das ist die Sichtweise eines völlig in den staatlichen Gewaltapparat eingebetteten Journalisten. Dabei braucht es keinen Druck. Er schaltet sich selber gleich und fragt sich gar nicht, wie er sich bei der Pressekonferenz der Polizei über mögliche Gesetzesbrüche der staatlichen Gesetzeshüter informieren kann. Der Topos kommt ihm gar nicht in den Sinn, weil für ihn selbstverständlich das Handeln der Polizei im Grunde immer berechtigt ist und nicht kritisch hinterfragt werden muss.

Die Fake-News von dem lebensgefährlichen Türgriff

Die Folgen dieses sich selber gleichschaltenden Journalismus kann man nicht nur bei der Berichterstattung über große Gipfelproteste verfolgen. In der letzten Woche wurde der Stadtteilladen F54[6] in Berlin-Neukölln geräumt[7]. Die Bewohner und Unterstützer wendeten keine Gewalt an und praktizierten die Taktik des zivilen Ungehorsams, in dem sie den Laden nicht freiwillig verließen.

Dafür hatten sie nicht nur in der unmittelbaren Nachbarschaft viel Unterstützung. Gewalt gab es aber am Tag der Räumung durch die Polizei, davon waren Menschen, die die Hauszufahrt blockierten, aber auch Medienvertreter[8] betroffen. Die spielten in der Berichterstattung[9] nach der Räumung nur eine geringe Rolle.

Dominierend waren Berichte über einen angeblich unter Strom gesetzten Türknauf. Der viel gelesene Berliner Kurier[10] titelte korrekt, dass sich die Demonstranten wegtragen ließen. Da hier nicht das Foto von militanter Gewalt bedient werden konnte, wurde dann im Text nachgelegt:

Nach Angaben der Polizei hatten Demonstranten einen Türknauf unter Strom gesetzt. „Lebensgefahr für unsere Kollegen“, schrieb die Polizei auf Twitter. Dazu zeigte sie das Foto einer Hinterhof- oder Kellertür. „Zum Glück haben wir das vorher geprüft“, schrieb die Polizei. Der Strom im Haus sei abgestellt worden, sagte ein Sprecher.
Berliner Kurier[11]

Nachdem nicht nur Unterstützer des Kiezladens heftig widersprachen, ruderte[12] die Polizei zurück und musste bestätigen, dass es keine Stromverbindung zum Türknauf gab[13]. Sogar die konservative Welt musste der Polizei bescheinigen, dass ihre Version vom unter Strom gesetzten Türknauf unlogisch ist[14].

Die Fake-Meldung hatte aber ihren Zweck erfüllt. Über Polizeigewalt wurde nicht geredet und später war das Thema nicht mehr aktuell genug. Auch im Berliner Abgeordnetenhaus wurde das Thema nicht zeitgerecht behandelt[15]. Das Kalkül ist klar, es soll so lange verzögert, bis es aus der öffentlichen Diskussion verschwunden ist. Hier können Medien mit kritischen Berichten dafür sorgen, dass das Kalkül nicht aufgeht.

Hintergründe?

Wer aber die Polizeikonferenzen als Orte der absoluten Wahrheit hinstellt, wird das nicht machen. Da hätte man im Fall der Friedelstraße auch auf den langen Kampf der Betreiber des Kiezladens und der Mieter des Hauses[16] hinweisen müssen, die Räumung zu verhindern. Sie bemühten sich um einen Runden Tisch und wandten sich an die Politik, sie fuhren nach Wien und überbrachten dem damaligen Eigentümer der Citec[17] ein Kaufangebot.

Dafür waren sie bereit, bis zum Ende der Verhandlungen die politische Kampagne runterzufahren, was ihnen in Teilen der linken Szene Berlins auch Kritik einbrachte. Doch die Citec verkaufte in dieser Zeit das Haus an die Briefkastenfirma Pinhill s.ar.l[18]. Im Kaufvertrag war ausdrücklich eine Klausel eingefügt, mit der Käufer sich verpflichtet, die bereits von der Citec vorangetriebene Räumungsklage des Stadtteilladens weiter zu führen.

Die Räumung Ende Juli war die Konsequenz. Es wäre doch eigentlich ein lohnendes Ziel der Medien, hier auszuleuchten, warum sich ein Unternehmen über sein eigentlich Ziel hinaus, Profit zu machen, derart gegen den Stadtteilladen exponiert und sich daran beteiligt, eine Selbstorganisation von Mietern zu erschweren. Der Laden war schließlich nie besetzt und die Ladenbetreiber hätten einem neuen Mietvertrag zugestimmt. Zudem sollte das Firmengeflecht der Luxemburger Briefkastenfirmen unter dem Stichwort „Steuervermeidung“ untersucht werden.
Verbindungen

Ein solcher Journalismus aber ist nur möglich, wenn man nicht den braven Bürger zur Norm erhebt. Nicht nur die Pressekonferenzen der Polizei, auch die Erklärungen der betroffenen Mieter und in diesem Fall des Stadtteilladens müssten zu der Grundlage der Berichterstattung werden. In der Studie des Instituts für Protestforschung wird Christine Schlüter als eine Journalistin angeführt, die ihre Profession in diesem Sinne Ernst und sich über die Kritik wundert:

Mir wird das dann oft vorgeworfen: Ja, die ist ja so gut vernetzt bei der Antifa. Und dann denke ich immer so … Natürlich bin ich gut vernetzt, sonst könnte ich meinen Job gar nicht machen. Und niemand käme auf die Idee, irgendeinem Kollegen vom BR vorzuwerfen, er sei gut vernetzt in der CSU, ja?
Christine Schlüter

Hier macht Schlüter einen wichtigen Punkt. Während konservative Journalisten stolz damit angeben, dass sie von diesen oder jenen Politiker kontaktiert und zu Werbetouren eingeladen werden, macht sich verdächtig, wer mit sozialen Initiativen, Stadtteilläden, Mieter- und Erwerbslosengruppen vernetzt ist. Hier kommt das Ideal vom braven Bürger, der zu kuschen hat und den Mächtigen, die bestimmen sollen, auf den Punkt. Diese Art des Journalismus sieht sich als Teil der Mächtigen und macht sich die Verteidigung des Status Quo zu ihrer Hauptaufgabe.
https://www.heise.de/tp/features/Wenn-die-journalistische-Norm-der-brave-Buerger-ist-3766565.html

Peter Nowak

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Links in diesem Artikel:
[1] https://protestinstitut.eu
[2] https://protestinstitut.eu/projekte/grossdemonstrationen-in-den-medien/
[3] https://protestinstitut.eu/uber-das-institut/team/simon-teune/
[4] https://protestinstitut.eu/testimonial/dieter-rucht-im-srf/
[5] https://protestinstitut.eu/projekte/grossdemonstrationen-in-den-medien/
[6] https://friedel54.noblogs.org
[7] https://friedel54.noblogs.org/post/2017/07/01/berichterstattung-zur-zwangsraumung-der-friedel54-am-29-06/
[8] https://www.facebook.com/matthiascoers/posts/309018339558735?pnref=story
[9] https://friedel54.noblogs.org/post/2017/07/01/berichterstattung-zur-zwangsraumung-der-friedel54-am-29-06/
[10] http://www.berliner-kurier.de/berlin/polizei-und-justiz/-friedel54–polizei-traegt-demonstranten-weg-27879668
[11] http://www.berliner-kurier.de/berlin/polizei-und-justiz/-friedel54–polizei-traegt-demonstranten-weg-27879668
[12] https://twitter.com/PolizeiBerlin_E/status/880785391644749825
[13] http://www.berliner-zeitung.de/berlin/polizei/raeumung-von–friedel-54–polizei-fand-keine-stromquelle-am-tuerknauf-27899692
[14] https://www.welt.de/politik/article166142556/Die-unlogische-Erklaerung-der-Polizei-zum-Stromanschlag-bei-Friedel54.html
[15] http://www.hakan-tas.de/nc/aktuelles/pressemitteilungen/detail/zurueck/pressemitteilungen-2/artikel/raeumung-der-friedelstrasse-54-2/
[16] http://friedelstrasse54.blogsport.eu/
[17] http://citec.at/