Wie die Bild-Zeitung den Rechtspopulismus bedient

Über den dünnen Firnis der Zivilisation und Rechtsstaatlichkeit in Deutschland – Ein Kommentar

Die G20-Proteste und vor allem die Kiezaufstände rund ums Schanzenviertel haben wieder einmal gezeigt, wie dünn der Firnis von Zivilisation und Rechtsstaatlichkeit in Deutschland ist und dass die Gefahr aus der Mitte der Gesellschaft kommt.

So veröffentlichte die Boulevardzeitung Bild am vergangenen Montag unter der reißerischen Überschrift Wer kennt diese G20-Verbrecher[1] Bilder von 18 Personen, die sich an den Riots beteiligt haben sollen.

Dabei agiert das Blatt jenseits jeglicher rechtsstaatlicher Grundsätze. Danach soll ohne juristische Verurteilung niemand eines Delikts bezichtigt werden.


„Auch Idioten haben Persönlichkeitsrechte

Auf Bild-Blog[2], das sich seit Jahren kritisch mit der Berichterstattung des Boulevardblattes auseinandersetzt wird die mediale Selbstjustiz kritisiert.

Auch für Idioten gilt die Unschuldsvermutung. Auch Idioten müssen sich keine Vorverurteilung gefallen lassen. Auch Idioten sind nicht gleich „Verbrecher“, nur weil jemand ein Foto von ihnen gefunden hat, aus dem man ableiten könnte, dass sie eine Straftat begangen haben. Auch Idioten haben Persönlichkeitsrechte. Auch Idioten haben ein Recht am eigenen Bild.
Bild-Blog[3]

Auch die Fotos sind keineswegs so eindeutig, wie es scheint.

Manche von ihnen sind beim Werfen eines Steins zu sehen, manche beim Tragen eines Steins. Eine Frau ist kurz davor, eine leere Cola-Flasche wegzuschleudern. Eine andere hat zwei volle Flaschen Kindersekt unter den Arm geklemmt. Was die Leute davor gemacht haben oder danach, wohin die Steine und Flaschen fliegen, die sie in den Händen halten, ob sie bei manchen überhaupt fliegen oder nicht doch wieder fallen gelassen werden — nichts davon ist bekannt, und nichts davon lösen „Bild“ oder „Bild.de“ auf.
Bild-Blog[4]

Stefan Niggemeier hat auf dem Blog Übermedien[5] den rechtspopulistischen Kern der BILD-Denunziationskampagne auf dem Punkt gebracht:

Das Vorgehen von „Bild“ hat eine gefährliche innere Logik: Der Staat hat in Hamburg versagt. Er hat es nicht geschafft, die Bürger zu schützen, und er scheint es nicht einmal zu schaffen, die Verdächtigen dingfest zu machen. Also muss „Bild“ übernehmen.
Stefan Niggemeier[6]

Darf man Polizeigewalt und Menschenrechtsverletzungen in Deutschland noch kritisieren?

Mit ihren Steckbrief knüpft die Bild-Zeitung an ihre demokratiefeindliche Rolle an, die sie bereits vor ca. 50 Jahren hatte, als sich die Außerparlamentarische Bewegung etablierte. Die Aktivisten wurden auch damals als Kriminelle vorgeführt, für die es keine Grundrechte zu geben scheint. Dass haben Neonazis wie der Dutschke-Attentäter Bachmann als Auftrag verstanden, das Recht in die eigene Hand zu nehmen.

Auch in Hamburg sahen sich Neonazis als Vollstrecker eines nationalen Volkswillens und haben sich zum Kampf gegen Linke verabredet[7], oft waren sie nicht konspirativ genug und wurden von der Polizei aufgehalten[8].

Der damals noch generell staats- und machtkritische Wolf Biermann hatte danach den Song Drei Kugeln auf Rudi Dutschke[9] geschrieben. Mittlerweile hat Biermann schon längst seinen Frieden mit den herrschenden Verhältnissen und ihren Medium Bild gemacht – und nicht nur er.

Wer heute noch jeglichen Kontakt mit der Boulevardzeitung und ähnlichen selbsternannten Beobachtern verweigert, gilt schnell als dogmatisch und ewiggestrig. Genau wie Biermann, der so tief gesunken ist, dass er im Parlament und nicht vor Flüchtlingsheimen seinen Kitsch „Drum lass Dich nicht verhärten“ geträllert hat, so wollen auch viele seiner damaligen Fans Menschenrechtsverletzungen nur noch in Russland und der Türkei, aber keinesfalls in Deutschland wahrnehmen.

Wenn dann schon mal eine Grundrechtsverletzung, wie der Entzug der Akkreditierungen von Journalisten[10] nicht zu leugnen ist, wird sofort die Diskussion auf den türkischen Geheimdienst gebracht. Dabei wurden viele der betroffenen Pressevertreter schon wiederholt von der Polizei in Deutschland auf Demonstrationen bei ihrer Arbeit gehindert und geschlagen. Auch ihre Akkreditierungen wurden ihnen schon wiederholt entzogen. Nicht von türkischen, sondern von deutschen Staatsapparaten.

Die eigentliche Gefahr für die Demokratie

Wenn selbst für so offen dokumentierte Grundrechtsverletzungen die Verantwortung zumindest teilweise ins Ausland verlagert wird, ist natürlich Kritik an der Polizei schon fast Landesverrat. Das war schon so, als die Spitzenpolitikerin der Grünen, Sabine Peters, das Racial Profiling in Köln in der letzten Silvesternacht kritisiert hat und sich im Anschluss von ihrer gut begründeten Kritik distanzierte[11].

Die Publizistin Jutta Ditfurth[12] ist lange genug nicht mehr Mitglied der Grünen, so dass sie sich als Diskussionsteilnehmerin bei Maischberger[13] nicht von ihrer gut begründeten Kritik am Hamburger Polizeieinsatz abbringen ließ und dadurch den CDU-Rechtsaußen Bosbach[14] in Rage brachte, dass er schließlich die Diskussion verließ.

Dabei ging aber unter, dass er das autoritäre Gebaren seines Parteifreundes und Polizeigewerkschafters Joachim Lenders[15] ausdrücklich unterstützte, der auch auf die völlig moderate Kritik an dem Hamburger Polizeieinsatz des Linkenpolitikers Jan van Aaken[16] mit Wut regierte und die zahlreichen dokumentarischen Fälle von Menschenrechtsverletzungen durch die Polizei nicht mit einen Wort bedauerte.

Insofern lieferte diese Diskussionsrunde auch einen guten Einblick, wie reaktionärer Korpsgeist und offen zur Schau gestellter Autoritarismus das Signal an die Polizei gibt, sie könne weiterhin Grundrechte verletzten. Bosbach, die Bildzeitung und Lenders werden sie verteidigen. Hier und nicht in den Riots liegt nach meiner Auffassung die eigentliche Gefahr für die Demokratie.

https://www.heise.de/tp/features/Wie-die-Bild-Zeitung-den-Rechtspopulismus-bedient-3771213.html

Peter Nowak
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Links in diesem Artikel:
[1] http://www.bild.de/news/inland/g20-gipfel/wer-kennt-diese-verbrecher-52493328.bild.html
[2] http://www.bildblog.de/91116/kommissar-reichelt-und-die-bild-sheriffs-ueben-titelseiten-selbstjustiz/
[3] http://www.bildblog.de/91116/kommissar-reichelt-und-die-bild-sheriffs-ueben-titelseiten-selbstjustiz/
[4] http://www.bildblog.de/91116/kommissar-reichelt-und-die-bild-sheriffs-ueben-titelseiten-selbstjustiz/
[5] http://uebermedien.de/17527/wie-bild-es-dem-kevin-mal-so-richtig-gezeigt-hat/
[6] http://uebermedien.de/17527/wie-bild-es-dem-kevin-mal-so-richtig-gezeigt-hat
[7] https://www.facebook.com/AntifainfoNiedersachsen/photos/pb.499048303609785.-2207520000.1499867467./830074130507199/?type=3&theate
[8] http://www.haz.de/Hannover/Aus-der-Stadt/Uebersicht/Hooligans-wollen-aus-Hannover-zum-G20-Gipfel-nach-Hamburg-fahren
[9] http://www.songlexikon.de/songs/dreikugelnaufdutschke
[10] http://dju.verdi.de/presse/pressemitteilungen/++co++77e97746-66d7-11e7-98f9-525400940f89
[11] https://www.heise.de/tp/features/Racial-Profiling-ist-kein-Mittel-um-Sexismus-zu-bekaempfen-3589318.html
[12] http://www.jutta-ditfurth.de
[13] http://www.ardmediathek.de/tv/Maischberger/Sendung?documentId=311210&bcastId=311210
[14] http://wobo.de/
[15] http://www.dpolg.de/ueber-uns/bundesleitung/joachim-lenders
[16] http://www.jan-van-aken.de/

Wann kommt nach dem Berliner der Europäische Mauerfall?

Um Wolf Biermann war es in der letzten Zeit still geworden. Nun hat er seinen Auftritt am 9. November vor dem Bundestag mal wieder genutzt, um sich zu Wort zu melden. Wie üblich schimpfte er über die reformistische Linkspartei, die eigentlich genau das heute im Programm haben, was er als DDR-Kritiker immer durchsetzen wollte, einen Reformsozialismus.

Biermanns Auftritt passt zu seiner konservativen Wende und war deshalb so berechenbar wie langweilig. Einen Moment hatte man gehofft, es wäre noch etwas vom Widerstandsgeist Biermanns, wie man ihn bis Ende der 80er Jahre kannte, erhalten geblieben. Er hat damals immer betont, dass er auch im Westen keine Ehrfurcht vor der Macht habe und sich auf die Seite der Unterdrückten stelle. Da hätte man in diesen Tagen erwartet, dass er sein Lied Ermutigung dort singt, wo Geflüchtete heute um ihre Rechte kämpfen.

In Berlin hätte er einfach das Regierungsviertel verlassen müssen und sich zur besetzten Schule in die Ohlauer Straße begeben können. Dort müssen Geflüchtete eine Räumung ihres Domizils befürchten [1]. Oder er hätte zu den Roma-Familien gehen können, die im Berliner Herbst obdachlos [2]durch die Metropole irren, weil sie aus mehreren Gebäuden geräumt wurden und die Flüchtlingsunterkünfte verlassen mussten.

Dort hätte sein Lied „Ermutigung“ gepasst. Statt dessen singt er es in den Häusern der Macht und lässt sich von denen beklatschten, die mit dafür sorgen, dass die Mauer zwischen den Staatsbürgern und den Non-Citiziens, also den Menschen ohne Papiere, auch in Deutschland noch höher wird. Indem Biermann ausgerechnet im Bundestag dazu schwieg, wurde er zu dem, was er eigentlich nie werden wollte, zu einem staatsnahen Sänger.

Europäische Mauer einreißen

Dabei hätte es knapp 2 Kilometer vom Deutschen Bundestag entfernt eine Alternative zum Staatsakt mit Selbstbeweihräucherung gegeben. Vor dem Berliner Gorkitheater verabschiedeten sich sich am 9. November um 13 Uhr mehrere Busse, die sich zum „Ersten Europäischen Mauerfall“ [3] aufmachten. Sie sind jetzt auf dem Weg zur europäischen Außengrenze zwischen Griechenland und der Türkei, um die dort errichtete Mauer [4]einzureißen. Sie wurde zur Abwehr von Menschen errichtet, die vor wirtschaftlicher Not oder Verfolgung aller Art nach Europa fliehen [5].

Die Initiatoren des „Ersten Europäischen Mauerfalls“, der im Rahmen des Festivals Voicing Resistance [6] stattfindet, haben die aktuelle Mauerfall-Euphorie so charakterisiert:

„Während sich Politiker aller Parteien am 9. November in den Armen liegen und das Ende der mörderischen innerdeutschen Mauer feiern, haben sie die viel mörderischeren Außenmauern Europas finanziert. Diesem Verrat nimmt sich das Zentrum für Politische Schönheit [7] an. Rücken wir den illegalen Mauerbauten in der Europäischen Union zu Leibe.“

Universelle Bewegungsfreiheit oder nur für Deutsche?

Für die meisten Politiker und deutschen Staatsbürger, die jetzt feiern, ist es wohl kein Verrat. Sie wollten mit der Maueröffnung nicht ein universelles Recht auf Bewegungsfreiheit durchsetzen, sondern nur für deutsche Staatsbürger. Das bekam schon vor zwei Jahren bei den Gedenkveranstaltungen zum Mauerbau ein Redner zu spüren, der an das Schicksal der Menschen heute zu erinnern wagte, die als Geflüchtete keine Bewegungsfreiheit haben. Es gab wütende Zwischenrufe aus dem Publikum.

Doch der Begriff Verrat ist insgesamt zu hinterfragen. Denn damit wird unterstellt, es sei moralisch besonders verwerflich, eine politische Position zu ändern. Dabei reicht es doch vollständig aus, genau diese Positionierung zu kritisieren, völlig unabhängig davon, ob der Träger bisher eine andere vertreten hat.

Dass die Initiatoren des Europäischen Mauerfalls manchen die deutschnationale Feierstimmung um den 9. November verdorben haben, zeigen die wütenden Reaktionen [8] ultrarechter Kreise, aber auch vieler Boulevardmedien [9], als sie die Gedenkkreuze für die Mauertoten entführten und zu den Menschen brachten, die heute vor der Europäischen Mauer stehen und diese zu überwinden trachten.

Allerdings fällt auf, dass die Sprecher des Zentrums für politische Schönheit in ihren Aussagen die Aktion wohl dadurch dem Mainstream der Gesellschaft nahebringen wollen, indem sie sie entschärfen. So betont [10]Philipp Ruch, dass man mit Zynismus und Provokation nichts
zu tun habe und redet so, als wolle er als Bundestagskandidat auftreten, der Stimmen aus allen Schichten der Bevölkerung haben will, und nicht als Künstler, der weiß, dass Provokationen und nicht KonsensgeschwätzDiskussionen auslösen.

Warum Ruch und andere Mitstreiter behaupten, es sei im Sinne der Mauertoten, dass sie sich jetzt mit den Geflüchteten von heute solidarisieren, ist nicht nachvollziehbar. Bei den meisten war die individuelle und nicht die universelle Bewegungsfreiheit der Grund, bei den heutigen Unterstützern kommt noch das deutschnationale Narrativ dazu. Warum es die Künstler überhaupt nötig haben, bei ihrer Aktion sich auf einen angeblichen Willen der Mauertoten zu berufen, ist unverständlich. Es würde doch völlig ausreichen, sich auf ein universelles Menschenrecht auf Bewegungsfreiheit zu berufen und den 9. November als einen guten Anlass dafür anzusehen.

http://www.heise.de/tp/news/Wann-kommt-nach-dem-Berliner-der-Europaeische-Mauerfall-2444427.html

Peter Nowak

[1]

http://www.sueddeutsche.de/politik/raeumung-der-gerhart-hauptmann-schule-sollen-sie-doch-kommen-1.2207729

[2]

http://www.medibuero.de/de/News/Raeumung-besetzte-Schule-Kreuzberg.html

[3]

https://www.indiegogo.com/projects/erster-europaischer-mauerfall

[4]

http://www.voxeurop.eu/de/content/article/464531-auf-der-anderen-seite-der-mauer

[5]

http://www.arte.tv/de/eine-mauer-gegen-den-fluechtlingsstrom-bulgarien-schottet-sich-ab/7780570,CmC=7781454.html

[6]

http://www.gorki.de/spielplan/themen/voicing-resistance/

[7]

http://www.politicalbeauty.de

[8]

http://www.pi-news.net/2014/11/asyllobby-schaendet-gedenkkreuze-fuer-mauertote/

[9]

http://www.rbb-online.de/politik/beitrag/2014/11/streit-opfer-gedenken-mauer-rechtfertigung-zentrum.html

[10]

http://www.taz.de/1/archiv/print-archiv/printressorts/digi-artikel/?ressort=sw&dig=2014%2F11%2F04%2Fa0053&cHash=5636593763e06f9d0e314235905bcf31