Von aufflammenden Aufständen und Kapitalakkumulation

Nach den Hamburger Krawallen beginnt die Suche nach soziologischen Erklärungen. Joshua Clover hat mit seinem Buch eine Vorlage geliefert

»Krawalle in Hamburg. Wenn ein Mob eine Stadt verwüstet«, lautete die martialische Überschrift eines FAZ-Kommentars über die militanten Aktionen am Rande des G20-Gipfels. In mehreren Kommentaren wurde auch der LINKEN-Politiker Jan van Aken in Mitverantwortung für die Auseinandersetzungen genommen. Dabei hat sich der Anmelder der völlig gewaltfrei zu Ende gegangenen Großdemonstration zum Gipfelabschluss von den militanten Aktionen distanziert. Hätte der FAZ-Redakteur ins eigene Archiv geguckt, hätte er ganz andere Textstellen finden können.

»Die zunehmenden Vermögensunterschiede, die ungerechte Lastenverteilung nach der Finanzkrise, die Undurchlässigkeit der sozialen Schichten, die abnehmende Bedeutung der europäischen Nationalstaaten bei unverändertem Pomp sowie die Ödnis und Beliebigkeit der politischen Angebote – all das ermutigt linke, studentische Milieus überall, nach einem ganz anderen Notausgang aus der Matrix zu suchen. Dazu wollen sie, wie beim Judo, die Wucht des Systems gegen dieses selbst wenden: Das empfindliche und teure Zusammenspiel einer Just-in-time-Produktion endet schnell im Chaos, wenn mal unverhofft der Strom ausfällt«, schreibt der FAZ-Feuilleton-Redakteur Nils Minkmar im November 2010 in seiner Rezension eines der Grundlagentexte der aktuellen militanten Strömungen.

»Der Kommende Aufstand« lautet der Titel der vielbesprochenen Schrift, die von einem »Unsichtbaren Komitee« herausgegeben wurde. Minkmar bringt den Inhalt so auf den Punkt: »Autos brennen, Züge entgleisen, der Strom fällt aus: Überall wachsen die Lust auf Subversion und die Bereitschaft zur Sabotage. Wofür und wogegen kämpfen die neuen Linksradikalen? Das Buch ›Der kommende Aufstand‹ sucht Antworten.«

Die Lektüre dieser Schrift wäre auch manchen Vertretern von LINKEN, Grünen und Mitgliedern der Nichtregierungsorganisationen zu empfehlen, die sich nach den Riots von Hamburg beklagten, die militanten Aktionen würden ihren Reformkonzepten schaden. Denn »Im kommenden Aufstand« werden der kapitalistische Normalzustand und die systemimmanenten Reformkonzepte gleichermaßen abgelehnt. Militanz soll nach den Vorstellungen der insurrektionalistischen Strömung der Anarchisten, die auf das Aufstandskonzept setzt, nicht auf ein Problem hinweisen, sie stellt auch keine Forderungen an die Politik. Sie steht für sich. Deswegen werden bei den Riots auch keine Forderungen gestellt und keine Erklärungen verbreitet. Wohlgemerkt, es ist ein kleiner, aber wachsender Teil der anarchistischen Bewegung in verschiedenen europäischen Ländern.

Beim militanten Flügel der Anti-AKW-Bewegung in den 1980er Jahren war das noch anders. So wollten beispielsweise Anti-AKW-AktivistInnen mit ihren Aktionen ganz konkret die Stilllegung der Meiler beschleunigen. Die militanten AKW-Gegner wurden von der autonome Publikation Wildcat damals polemisch als »bewaffneter Arm der Grünen« bezeichnet. Später wollten Autonome mit militanten Aktionen den Preis für Häuserräumungen in die Höhe treiben oder die Rodung von Bäumen wie im Hambacher Forst verhindern. Die Praxis der Insurrektionalisten ist also auch eine Zäsur innerhalb der heterogenen autonomen Bewegung. Doch sie hat Vorläufer in der Geschichte. So begann in Frankreich nach der Zerschlagung der Pariser Kommune eine Serie von Attentaten auf Politiker, Unternehmer, aber auch auf Cafés und Restaurants, in denen sich das wohlhabende Bürgertum traf.

Der linke US-Theoretiker Joshua Clover prognostizierte in seinem im letzten Jahr erschienenen Buch eine Zeit der immer stärker aufflammenden Riots. Wobei der Riot bei Clover nicht allein gleichzusetzen ist mit der gezielten Produktion von Sachschaden oder der Kabbelei mit der Polizei. »Er umfasst eine ganze Reihe von Aktivitäten wie Sabotage, Unterbrechungen, Diebstahl, Störungen und Haus- und Platzbesetzungen«, so ist in der Übersetzung des Bloggers Achim Szepanski zu lesen.

Clover leitet eine Verbindung zwischen dem Wiedererstarken der insurrektionalistischen Strömung und dem Ende der fordistischen Arbeitsgesellschaft in den 70er Jahren her. Das Ende dieser spezifischen Produktionsbedingungen war gekennzeichnet durch regionale Deindustrialisierung und eine wachsende Bedeutung von »Kapitalbewegungen in der Zirkulation«, womit er die Ausdehnung des Dienstleistungs- und Verwaltungssektors beschreibt. In diesem Kontext versucht Clover die historischen Relationen zwischen Streiks und der Produktion auf der einen Seite und der Anbindung der riots an die Zirkulation andererseits enger zu ziehen.

»Der Streik ist eine kollektive Aktion, die sich um den Preis der Arbeitskraft und bessere Arbeitsbedingungen dreht, während der Aufstand den Kampf um die Preise und die Erhältlichkeit von Marktgütern inkludiert«, so fasst der Blogger und Übersetzer Achim Szepanski die von Clover in dem Buch vertretenen Thesen zusammen. Bisher suchte Sczepanski vergeblich nach einem deutschen Verlag für das Buch. Vielleicht wächst das Interesse nach den Riots von Hamburg.

non.copyriot.com/

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1057830.von-aufflammenden-aufstaenden-und-kapitalakkumulation.html

Joshua Clover: Riot. Strike. Riot: The New Era of Uprisings, 2016, Verso Books

Peter Nowak

Großdemonstrationen im Zeitalter der Riots

Während ein Bündnis aus Mob und rechten Medien nach den Hamburger Protesten den Law-and-Orderkurs verschärfen will, muss sich auch die außerparlamentarische Linke Fragen stellen – Ein Kommentar

Auch die Nacht nach dem G20-Gifpel blieb in Hamburg unruhig. Am frühen Morgen des 9. Juli räumte die Polizei Teile des Schanzenviertels mit Wasserwerfer[1]. Zuvor waren Tausende von G20-Gegnern in den Stadtteil gekommen. Für Empörung sorgten polizeiliche Sondereinsatzkommandos, die betont provokativ dort mit ihren Fahrzeugen auftraten.

Auch an anderen Stellen in Hamburg hielt der Protest an. In der Umgebung der Hafenstraße machten Neonazis Jagd auf Linke. Das scheint auch eine Folge der medialen Medienhetze gegen die G20-Gegner in Teilen der Hamburger Medien. Besonders nach den auch in der außerparlamentarischen Linken umstrittenen militanten Aktionen vom Freitagabend nahm die Kampagne zu.

Die Großdemonstration[2] am Samstag, an dem sämtliche Spektren[3] der globalisierungskritischen Szene beteiligt waren, machte noch einmal deutlich, dass sie sich auf einen gemeinsamen Konsens einigen können, der dann auch eingehalten wird. Vor allem autonome und postautonome Gruppen bemühten sich in ihrem Auftreten, mögliche Befürchtungen zu zerstreuen, dass auch dort Militanz dominieren würde. So tragen Anhänger der postautonomen Gruppen Interventionistische Linke[4] und des undogmatisch kommunistischen Ums Ganze Bündnis[5] mit roten T-Shirts auf und unterliefen damit das Klischee vom Schwarzen Block.

Festival der Grundrechtsverletzungen

Die gelöste Stimmung wurde zu Beginn der Auftaktkundgebung angespannt, als Polizeieinheiten in die Menge stürmten und einzelne Demonstranten festnahmen. Das dürfte erst der Auftakt einer Ermittlungswelle sein, mit denen die Polizei vor allem die Beteiligten der Riots im Schanzenviertel sucht.

Auf der Pressekonferenz im Alternativen Medienzentrum im Hamburger Millerntorstadion fragten sich Journalisten, warum es in Hamburg im Vergleich zu anderen Gipfel wie vor 10 Jahren in Heiligendamm relativ wenige Festnahmen gab. Diese Behauptung wurde von der Rechtsanwältin Gabriele Heinecke[7] insofern relativiert, als sie von 200 Festnahmen berichtete. Diese saßen oft über die gesamten Gipfeltage in Gewahrsam, weil die Justizbehörden teilweise absurde Haftgründe vorbrachten. So wurde angeführt, dass ein Festgenommener mit einen „Straftäter“ in einer Wohngemeinschaft lebt. Es wurde letztlich dem Antrag auf den Erlass eines Haftbefehls nicht entsprochen, aber die Prüfung der Haftgründe dauerte so lange, dass die Beschuldigten während der Gipfeltage in Untersuchungshaft blieben und ihnen so ihr Grundrecht auf Demonstration und Protest verwehrt wurde.

Das betraf aber auch viele andere Menschen, so dass der Republikanische Anwältinnen- und Anwälteverein[8] die Hamburger Gipfeltrage auch als „Festival der Grundrechtsverletzungen[9] bezeichnete. Dazu zählen sie die Campverbote ebenso wie die polizeiliche Zerschlagung der Anti-G20-Demonstration am Donnerstagabend. Auch das Komitee für Grundrechte[10], das eigene Beobachter nach Hamburg entsandt hat, kritisierte[11]:

Wir haben beobachtet, in welchem Maße die Polizei in diesen Tagen die Macht über das Geschehen in der Stadt übernommen hat. Sie hat eskaliert, Bürger- und Menschenrechte ignoriert, sie informierte die Öffentlichkeit falsch und ging mit großer Gewalt gegen die Menschen vor. Schon seit Monaten warnen wir vor dem Ausnahmezustand, der anlässlich des G20 in Hamburg produziert wird. Das, was wir in dieser Woche vorgefunden haben, geht sogar über das, was wir befürchtet haben, noch hinaus. Nicht nur wurden die Grund- und Menschenrechte auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit durch die Allgemeinverfügung außer Kraft gesetzt. Die Polizei hat, gedeckt von der Hamburgischen Regierung und vermutlich auch im Sinne der Interessen der/des Innminister/-senators und der Sicherheitsbehörden den Ausnahmezustand geprobt.
Komitee für Grundrechte

Vermummungsverbot ist für LINKE in Berlin verzichtbar

Elke Steven vom Grundrechtekomitee bezeichnet das Vermummungsverbot als ein Mittel der Grundrechtseinschränkung[12]. Das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit steht über der Durchsetzung des Vermummungsverbots ist auch die Ansicht des Juristen Udo Vetter[13]. Im Taz-Interview[14] präzisierte er:

Die Polizei hat am Donnerstagabend offenbar eine große, friedliche Demonstration mit der bloßen Begründung verhindert, dass einige Leute vermummt waren. Wenn das rechtens wäre, müsste man jeden Samstag in jedem deutschen Fußballstadion das Spiel absagen und das Stadion räumen. Und wenn die Polizei bei jeder Demo sagen würde, da laufen ein paar Vermummte mit, deshalb dürfen die restlichen 12.000 Leute auch nicht mehr demonstrieren – dann wäre die Konsequenz, dass es in Deutschland künftig keine Demos mehr gibt.
Udo Vetter

Es wird sich zeigen, ob die Konsequenz eine Aufhebung des Vermummungsverbots ist, wie es in Berlin zumindest Politiker der LINKEN in einem neuen Versammlungsgesetz festschreiben[15] wollen.

Die Riots und die Folgen

Es wäre tatsächlich ein Erfolg, wenn nach Hamburg das Vermummungsverbot als Mittel der Grundrechtseinschränkung und des Demoverbots in den Fokus der Kritik geriete. Aber davon kann keine Rede für die Mehrheit der Medien sein. Schon ist das Geschehen im Wahlkampf angekommen und die Union fordert[16] im Bündnis mit konservativen Medien Rücktritte in Hamburg.

Dabei bedienen sich die Initiatoren offen rechtspopulistischer Parolen, wenn es heißt: „Olaf, du hast Hamburg dem Mob ausgeliefert“[17]. Dann ist es nur noch ein kleiner Schritt, wenn einige Neonazis als vermeintliche Vollstrecker des „Volkswillens“ Samstagnacht Linke angriffen.

Statt diesem Bündnis von Mob, rechten Boulevard und Elite entgegenzutreten, werden sich jetzt alle politischen Parteien in Distanzierung üben. Hamburgs Bürgermeister Scholz fordert harte Strafen für die am Riot Beteiligten, obwohl das nach der bürgerlichen Gewaltenteilung gar nicht in seiner Kompetenz liegt. Ein Großteil der Presse unterstützt diesen Law-and-Order-Kurs und die außerparlamentarische Linke übt sich in den Versuch, sich nicht zu distanzieren, aber die Ereignisse um die Schanze auch nicht gut zu finden.

Dabei zeigen Umfragen, dass die Ablehnung der Militanz nicht so einheitlich ist, wie es die Medien suggerieren[18]. Vor allem aber fällt auf, dass die Öffentlichkeit von der Eigenlogik von Riots, von urbanen Aufständen, wenig Ahnung hat. Die werden eben nicht von irgendwelchen Drahtziehern aus politischen Gruppen initiiert, wie gerne vermutet wird. Großereignisse wie der G20 bieten den Rahmen, aber es sind die prekarisierten Unterklassen in vielen Städten der Welt, für die der Aufstand ihre Form ist, sich einiges von den bunten Warenmarkt anzueignen, den der Kapitalismus verspricht, der ihnen aber mangels finanzieller Möglichkeiten verschlossen geblieben ist. Die Medien und die Öffentlichkeit in Großbritannien, den USA und Frankreich konnten sich in den letzten Jahren schon häufiger mit der Eigengesetzlichkeit dieser urbanen Aufstände vertraut machen.

In dem Buch “ „Riot. Strike. Riot: The New Era of Uprisings“[19] bezeichnet der linke Theoretiker Joshua Clover[20] Riots und Aufstände als wichtige Aktionsformen der vergangenen Jahre, weil durch den Wegfall der großen Industrie der Streik an Bedeutung verloren habe. Im Interview[21] sprach Clover auch vom Zeitalter der Riots.

„Der Streik ist eine kollektive Aktion, die sich um den Preis der Arbeitskraft und bessere Arbeitsbedingungen dreht, in der sich Arbeiter in der Position des Arbeiters befinden, und die im Kontext der kapitalistischen Produktion stattfindet, während der Aufstand den Kampf um die Preise und die Erhältlichkeit von Marktgütern inkludiert, seine Teilnehmer enteignet sind, und er im Kontext der Konsumtion bzw. der Zirkulation stattfindet“, fasst[22] der Blogger Achim Szepanski, die im Buch vertretenen Thesen zusammen.

Diese Thesen kritisch zu diskutieren und sich zu fragen, ob Clover nicht tatsächlich unterschätzt, welche Bedeutung Lohnarbeit und der Widerstand dagegenauch heute noch für Menschen in aller Welt hat, wäre eine Aufgabe der außerparlamentarischen Linken. Auch um dem Bündnis von rechten Medien und Neonazis nach den Riots von Hamburg mehr entgegen setzen zu können als das Bekenntnis, dass sich die Interventionistische Linke dazu erst noch eine Meinung bilden muss.

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Peter Nowak
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[1] http://www.ndr.de/nachrichten/hamburg/Liveblog-Letzte-Grossdemo-beendet-Bleibt-es-ruhig,liveticker542.html
[2] http://g20-demo.de/de/demoroute/
[3] http://www.attac.de/kampagnen/g20-in-hamburg/demonstration-8-juli/
[4] http://www.interventionistische-linke.org/kategorie/beitraege
[5] http://umsganze.org/
[6] https://twitter.com/Emmilog/status/883694484764205062
[7] http://www.gabrieleheinecke.de/
[8] http://www.rav.de/start/
[9] http://www.rav.de/publikationen/mitteilungen/mitteilung/anwaltlicher-notdienst-zum-g20-gipfel-in-hamburg-pressemitteilungen-528/
[10] http://www.grundrechtekomitee.de
[11] http://www.grundrechtekomitee.de/node/873
[12] http://www.taz.de/!5423677/
[13] https://www.lawblog.de/
[14] https://m.taz.de/!5427952;m/
[15] http://www.taz.de/!5427985/
[16] http://www.focus.de/politik/deutschland/buergermeister-unter-druck-in-nur-zwei-naechten-haben-viele-hamburger-das-vertrauen-in-scholz-verloren_id_7333357.html
[17] https://www.shz.de/regionales/hamburg/g20-gipfel/olaf-du-hast-hh-dem-mob-ausgeliefert-kritik-an-buergermeister-scholz-id17253441.html
[18] http://www.welt.de/politik/deutschland/article166429487/Linke-Anhaenger-halten-die-G-20-Aufstaende-fuer-legitim.html
[19] http://www.versobooks.com/books/2084-riot-strike-riot
[20] http://english.ucdavis.edu/people/jclover
[21] http://jungle-world.com/artikel/2016/43/55082.html
[22] http://non.copyriot.com/joshua-clovers-riot-strike-riot-theorie-und-praxis-der-sozialen-aktion/