Die Beschäftigten von Essenslieferdiensten protestierten in Berlin wegen zu niedriger Bezahlung und schlechter Arbeitsbedingungen. Solidarität für die Berufsradler kommt auch von Taxifahrern
Die Transportkiste des Lieferdienstes Foodora, die an diesem Tag gut sichtbar am Tresen des Lokals der Basisgewerkschaft Freie Arbeiterinnen- und Arbeiterunion (FAU) in Berlin steht, bleibt geschlossen. Dafür erklärt Georgia P.*, warum sie sich mit Kolleginnen und Kollegen in der Kampagne »Deliverunion« zusammengeschlossen hat, um die Arbeitsbedingungen zu verbessern. Häufig habe sie erst am Freitag den Schichtplan für die Woche darauf erhalten. Weil sie oft leer ausgegangen sei, habe ihr Monatsverdienst bei lediglich etwa 300 Euro gelegen.
Mangelnde Transparenz bei der Schichtvergabe, zu niedrige Löhne und die Abwälzung der Kosten für Fahrräder, Reparaturen, Ersatzteile und das unentbehrliche Smartphone auf die Beschäftigten störten die Kolleginnen und Kollegen bei den Lieferdiensten besonders, sagte der Pressesekretär der FAU Berlin, Clemens Melzer, im Gespräch mit der Jungle World. »Eigentlich könnten die Beschäftigten für Aufträge bei schlechtem Wetter oder an Wochenenden Lohnzuschläge einfordern«, so Melzer. In der Lieferbranche seien aber viele froh, wenn sie überhaupt Aufträge bekämen.
Auch in anderen EU-Ländern versuchen Basisgewerkschaften, die Beschäftigten von Essenslieferdiensten zu organisieren.
Doch es regt sich Widerstand. Ende April hatte die FAU einen von den Fahrerinnen und Fahrern von Deliveroo und Foodora erarbeiteten Forderungskatalog den beiden Unternehmen übergeben. Der umfasst vor allem die Erhöhung der Löhne um einen Euro pro Lieferung, die vollständige Übernahme der Kosten für Arbeitsmittel und eine garantierte Mindestzahl an Arbeitsstunden. Die Deliveroo-Beschäftigten fordern Transparenz über geleistete Stunden. Trotz zweimaliger Fristverlängerung habe das Unternehmen nicht reagiert. Beim Konkurrenten Foodora steht eine bezahlte Stunde pro Woche für die Schichtplanung im Forderungskatalog.
Am Mittwoch voriger Woche beim Protesttag von »Deliverunion« luden Georgia P. und mehrere Dutzend Kollegen vor der Deliveroo-Zentrale in Kreuzberg alte Fahrradteile ab, um auf den hohen Verschleiß ihres Arbeitsgeräts hinzuweisen, für dessen Kosten sie bislang selbst aufkommen müssen. Die anschließende Fahrraddemonstration führte zur Foodora-Zentrale in Berlin-Mitte, wo die Abschlusskundgebung stattfand. Das Unternehmen signalisierte Gesprächsbereitschaft und stellte die Einführung einer Pauschale für die Kosten von Smartphone und Fahrräderverschleiß in Aussicht.
Die meisten Beiträge auf der Kundgebung wurden auf Englisch gehalten, schließlich kommen die Beschäftigten der Lieferdienste aus den unterschiedlichsten Ländern. »Bei Deliveroo in Berlin arbeiten etwas über 500 Fahrer, gut 100 von ihnen sind Freelancer. Bei Foodora in Berlin sind alle Fahrer festangestellt, das sind 503«, berichtet Melzer. »Wir schätzen, dass die Hälfte der knapp 1 000 Fahrer in Berlin aus dem Ausland kommt, viele sprechen kaum Deutsch.« Die meisten kämen aus südeuropäischen Krisenländern wie Spanien, Italien oder Portugal.
Die FAU ist die Anlaufstelle für Fahrer, die für die Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen kämpfen, sich juristisch beraten lassen und Protestaktionen wie die in der vergangenen Woche planen wollen. Auch in vielen anderen europäischen Ländern versuchen Basisgewerkschaften, die Beschäftigten von Essenslieferdiensten zu organisieren. In den vergangenen Monaten protestierten in Großbritannien, Spanien und Italien Beschäftigte gegen ihre schlechten Arbeitsbedingungen. »Wir beziehen uns in den unterschiedlichen Ländern aufeinander. So wird von den Kollegen in Spanien und Italien genau beobachtet, was in Berlin passiert, und wir unterstützen die Kämpfe in den anderen europäischen Ländern«, so Melzer.
Doch auch Probleme wurden vergangene Woche deutlich. Nur wenige Medien berichteten über die basisgewerkschaftliche Protestaktion vom Mittwoch, der erfolgreiche Börsengang des Foodora-Mutterunternehmens Delivery Hero in Frankfurt am Main am Freitag bestimmte die Schlagzeilen. Dass die schlechten Arbeitsbedingungen und die niedrigen Löhne die Voraussetzung für die Gewinne an der Börse sind, wird kaum erwähnt.
Andreas Komrowski von der Taxi-AG bei der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi berichtete in seiner Solidaritätserklärung, dass auch die Taxifahrer mit Überwachung und geringen Einkommen zu kämpfen hätten. Komrowski schilderte, wie sich Taxiunternehmen um die Zahlung des gesetzlich vorgeschriebenen Mindestlohns zu drücken versuchten. So würden Wartezeiten an den Standplätzen zu Pausenzeiten umdeklariert, wodurch rechnerisch der Stundenlohn steigt. Mittlerweile ist auch die Berliner Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales auf diese Praxis aufmerksam geworden. In einem Schreiben an den Berliner Taxibund stellte die Behörde klar: »Reguläre Standzeiten, während derer auf Kunden gewartet wird, gehören zur Arbeitszeit.« Dass die gewerkschaftlich organisierten Taxifahrer mit der Kampagne »Deliverunion« kooperieren, ist für FAU-Sprecher Melzer ein Hoffnungszeichen. Prekäre Arbeitsbedingungen sind die Regel in der wachsenden sogenannten Gig-Ökonomie, in der Beschäftigte sich über Internetplattformen von einem Auftrag – englisch: gig – zum nächsten hangeln. Kollektiver Widerstand dagegen ist bislang die Ausnahme.
* Vollständiger Name der Redaktion bekannt.
https://jungle.world/artikel/2017/27/viel-verschleiss-wenig-lohn
Peter Nowak