Keine Zusammenarbeit mit der »Alternative für Deutschland« (AfD) – das scheint zurzeit bis hin zum rechten Flügel der Union der öffentliche Konsens zu sein. Mit einer Abgrenzung von der Politik der AfD hat das aber wenig zu tun. Schließlich gab Franz-Josef Strauß, der Übervater der CSU, einst die Devise aus, rechts von seiner Partei solle »nur noch die Wand« sein. Das Entstehen einer rechten Konkurrenzpartei war Strauß zufolge am besten zu verhindern, indem man deren Positionen selbst vertrat.
Monat: April 2016
Verteidigung des Säkularismus oder Diskriminierung einer Muslima?
In Berlin wird wieder darüber diskutiert, ob Lehrerinnen Kopftücher im Unterricht tragen dürfen
Eine Entscheidung des Berliner Arbeitsgerichts[1] sorgt für eine Neuauflage des Kopftuchstreits in Berlin. Das Gericht hatte die Entschädigungsklage einer Muslima abgewiesen, deren Bewerbung um eine Stelle als Grundschullehrerin von dem Land Berlin abgelehnt worden war, weil sie ein Kopftuch trägt.
Die Frau sah hierin eine nach § 7 des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AAG[2] verbotene Benachteiligung. Das Gericht verneinte das mit Verweis auf das Berliner Neutralitätsgesetz[3], das den Lehrkräften “ das Tragen religiös geprägter Kleidungsstücke“ untersagt. „Hieran habe sich das beklagte Land halten und die Bewerbung der Klägerin ablehnen dürfen“, so das Berliner Arbeitsgericht.
Neutralitätsgesetz nicht verfassungswidrig
Die Entscheidung des Arbeitsgerichts war auch unter Juristen mit Spannung erwartet worden. Einige Juristen vertraten nämlich die Ansicht, dass das Berliner Neutralitätsgesetz gegen ein Urteil[4] des Bundesverfassungsgericht vom Januar 2015 verstößt. Damals hatten die Richter entschieden:
Der Schutz des Grundrechts auf Glaubens- und Bekenntnisfreiheit (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG) gewährleistet auch Lehrkräften in der öffentlichen bekenntnisoffenen Gemeinschaftsschule die Freiheit, einem aus religiösen Gründen als verpflichtend verstandenen Bedeckungsgebot zu genügen, wie dies etwa durch das Tragen eines islamischen Kopftuchs der Fall sein kann.
Doch das Urteil, das sich gegen ein Gesetz in NRW richtete, war kein allgemeiner Freibrief für das Tragen eines Kopftuchs in den Schulen. Schließlich hieß es dort auch:
Ein landesweites gesetzliches Verbot religiöser Bekundungen durch das äußere Erscheinungsbild schon wegen der bloß abstrakten Eignung zur Begründung einer Gefahr für den Schulfrieden oder die staatliche Neutralität in einer öffentlichen bekenntnisoffenen Gemeinschaftsschule ist unverhältnismäßig, wenn dieses Verhalten nachvollziehbar auf ein als verpflichtend verstandenes religiöses Gebot zurückzuführen ist. Ein angemessener Ausgleich der verfassungsrechtlich verankerten Positionen – der Glaubensfreiheit der Lehrkräfte, der negativen Glaubens- und Bekenntnisfreiheit der Schülerinnen und Schüler sowie der Eltern, des Elterngrundrechts und des staatlichen Erziehungsauftrags – erfordert eine einschränkende Auslegung der Verbotsnorm, nach der zumindest eine hinreichend konkrete Gefahr für die Schutzgüter vorliegen muss.
Eine so allgemein formulierte Entscheidung lässt natürlich einen großen Interpretationsspielraum offen, den das Berliner Arbeitsgericht genutzt hat. Es weist vor allem auf die Unterschiede zwischen dem Berliner Neutralitätsgesetz und den vom Bundesverfassungsgericht monierten Regelungen im Schulgesetz von NRW[5] hin.
Diese bestünden u.a. darin, „dass die Berliner Regelung keine gleichheitswidrige Privilegierung zugunsten christlich-abendländischer Bildungs- und Kulturwerte oder Traditionen vorsehe. Das Berliner Neutralitätsgesetz behandelt alle Religionen gleich. Außerdem gelte das Verbot religiöser Bekleidung nach § 3 Neutralitätsgesetz nicht für die Lehrkräfte an berufsbildenden Schulen. Auch für die Klägerin sei die Unterrichtstätigkeit an einer berufsbildenden Schule möglich“, so das Arbeitsgericht.
Dem widersprach die Anwältin der Klägerin, die darauf verwies, dass in Berlin Schmuck mit religiösen Symbolen erlaubt sei. „Wenn nun muslimische Schüler einer Lehrerin mit Kreuz um den Hals gegenüberstünden, ist da die Neutralität gewährleistet?“, fragte sie. Diese Frage dürfte die Gerichte und Juristen noch weiter beschäftigten. Gegen das Urteil ist Berufung bei Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg möglich. Die Klägerin hat noch nicht entschieden, ob sie den Weg gehen will.
Auch keine Einflüsterungen vom Spaghettimonster erwünscht
Doch das Urteil hat die politische Diskussion um das Kopftuch neu entfacht. So veröffentlichte die linksliberalen Taz Pro- und Contra[6] zum Kopftuchverbot. Der Taz-Inlandsredakteur Daniel Bax wirft dem Gericht und der Berliner Politik vor, die Umsetzung des Bundesverfassungsgerichts zu verzögern, geht aber nicht auf die Ausführungen des Arbeitsgerichts ein, in denen begründet wird, warum das Urteil das Berliner Neutralitätsgesetz nicht tangiert .
Bax sieht in kopftuchtragenden Lehrkräften ein Zeichen der Offenheit. Dem widerspricht seine Taz-Kollegin Susanne Memarnia entschieden:
Wenn der Staat zur weltanschaulichen Neutralität verpflichtet ist, was das BVG bejaht, sind das auch seine Amtsträger, seien es LehrerInnen oder PolizistInnen. Denn sie sind es, durch die der Staat handelt. Zwar ist es richtig, dass die Trennung von Kirche und Staat hierzulande nicht konsequent realisiert ist – Stichwort Religionsunterricht oder Kirchensteuer. Aber das ist kein Argument, den Laizismus nun komplett über Bord zu werfen.
Ihre Argumente überzeugen schon deshalb, weil sie sämtliche religiösen und pseudoreligiösen Symbole aus den Schulen verbannen will.
Aber wie soll jemand, der sein Handeln danach ausrichtet, was ihm Gott, Allah oder das Spaghettimonster einflüstern, Kinder zu mündigen Bürgern erziehen und ihnen beibringen, alles zu hinterfragen – inklusive der Dogmen ihrer LehrerInnen.
Dass Memarnia auch die Freundinnen und Freunde des Spaghettimonsters mit einbezieht, ist konsequent und müsste auch in deren Sinne sein. Die wollen schließlich den Religionsgemeinschaften gleichgestellt sein, was dann auch im negativen Sinne gelten muss.
Verteidigung der säkularen Gesellschaft statt Kampf gegen den Islam
Die Argumente in der neu aufgeflackerten Diskussion mögen nicht neu sein; sie waren meist schon in den letzten Jahren zu lesen, nach politischen Vorstößen und juristischen Entscheidungen in Sachen Kopftuch an den Schulen. Neu ist aber, dass die Verteidigung der säkularen Gesellschaft in einer Zeit besonders wichtig ist, wo sich einerseits der Dschihaddismus weltweit ausbreitet und dann sogar manche Linke einen Kulturkampf gegen den Islam anstimmen. Ein Beispiel findet sich in einem Nachruf auf den kürzlich verstorbenen Schriftsteller Imre Kertész in der Jungle World[7].
Kaum ein Nachruf aber beschäftigte sich mit dem Spätwerk des Verstorbenen, in dem er den Untergang Europas prophezeite. Schon der deutsche Titel seines letzten Buches, „Letzte Einkehr“, trieft von jenem Pathos, das Kertész so fremd war. Im Englischen heißt es „The Last Refuge“, und auch wenn Rückzugsort nicht so bedeutungsschwanger daherkommt wie die Einkehr, so trifft es doch besser: In den Tagebuchaufzeichnungen handelt Kertész von der Saturiertheit des alten Europa, das sich dem Islam ergeben wird.
Das Verhältnis Europas zum Islam beschreibt er als das einer Hure zu ihrem gewalttätigen Zuhälter. Sprache und Sujet gemahnen in ihrer Wucht und Verzweiflung an Oriana Fallaci, der einst verhöhnten und nun doch wieder geehrten italienischen Autorin, wenn Kertész schreibt: „Europa hat Hitler hervorgebracht; und nach Hitler steht hier ein Kontinent ohne Argumente: Die Türen weit offen für den Islam; er wagt es nicht länger, über Rasse und Religion zu reden, während der Islam gleichzeitig einzig die Sprache des Hasses gegen alle ausländischen Rassen und Religionen kennt.“
Unter Umständen wird man später lesen, dass diese unkenden Mahnrufe der schweren Parkinson-Erkrankung und dem Lebensüberdruss des Autors geschuldet waren. Das Gegenteil ist wahr: Sie sind die letzte Konsequenz seines Werkes – ein genuin antifaschistischer Appell in einem unverwechselbaren Sprechen, das wir nun nicht mehr vernehmen werden.Jungle World
Soll da eine antifaschistische Bewegung aufgefordert werden, auch wieder über Rasse und Religion zu reden? So, wie die in dem Text erwähnte Oriana Fallaci, die einst eine liberale italienische Journalisten war und in den letzten Jahren ihres Lebens unter dem Eindruck einer schweren Krankheit und der islamistischen Anschläge vom 11. September 2001 in den USA eine Hetze[8] gegen Migranten aus islamischen Ländern veröffentlichte[9], die auf rechtspopulistischen Seiten Platz und Beifall fand.
Fallaci argumentierte ausdrücklich nicht vom Standpunkt des Laizismus, sondern wollte das christliche Abendland gegen die Moslems verteidigen. Formulierungen von einem Europa, das sich dem Islam hingibt, stehen ganz in der Tradition der Abendlandverteidiger. Ein positiver Bezug auf solche Schriften ist ebenso eine Aufforderung zu einer Querfront, wie sie mit anderer Zielsetzung im Umfeld des Magazins Compact propagiert werden.
Der Aufruf zur Verteidigung des Laizismus und der säkularen Gesellschaft ist dagegen die klare Absage an jegliche Querfronten.
http://www.heise.de/tp/artikel/47/47973/2.html
Peter Nowak
Anhang
Links
[0]
https://commons.wikimedia.org/wiki/Hijab?uselang=de#/media/File:Hijabs.jpg
[1]
https://www.berlin.de/gerichte/arbeitsgericht/presse/pressemitteilungen/2016/pressemitteilung.468202.php
[2]
https://www.gesetze-im-internet.de/bundesrecht/agg/gesamt.pdf
[3]
http://www.lexsoft.de/cgi-bin/lexsoft/justizportal_nrw.cgi?xid=470123,1
[4]
https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2015/01/rs20150127_1bvr047110.html
[5]
https://www.schulministerium.nrw.de/docs/Recht/Dienstrecht/Personalvertretungsrecht/Auszug-SchulG.pdf
[6]
http://www.taz.de/!5295620/
[7]
http://jungle-world.com/artikel/2016/14/53806.html
[8]
http://www.nzz.ch/articleCZJXT-1.157991
[9]
http://jungle-world.com/artikel/2002/23/23817.html
Der Eventjournalismus und seine bedrohten Spielplätze
Beim aktuellen Böhmermann-Hype sollte auch ein Journalismus kritisiert werden, dem es in erster Linie um Krawall und weniger um Inhalte geht
Vor 40 Jahren fühlten sich manche kritischen Menschen besonders mutig und verfolgt, wenn sie aus der SPD ausgeschlossen werden sollten. Das war in den 1960er und 1970er Jahren nicht schwer.
Ein Ausschlussverfahren bekam man schon, wenn man sich an den Ostermärschen oder anderen politischen Aktivitäten beteiligte, die dem SPD-Vorstand nicht behagten. Auch die Unterzeichnung des Aufrufs des Komitees für Frieden, Abrüstung und Zusammenarbeit konnte einen SPD-Ausschluss nach sich ziehen. Denn dort waren ja auch Kommunisten vertreten und mit denen durfte das gemeine SPD-Mitglied auf keinen Fall kooperieren, zumindest wenn sie politisch so marginal waren, wie in Westdeutschland.
Die vielen Meldungen mehr oder weniger bekannter linker Publizisten, Gewerkschafter und Aktivisten zogen bald Spott nach sich. Die wollen wohl ein SPD-Ausschlussverfahren ehrenhalber, wurde manch einem nachgesagt, die sich besonders bemühten, beim SPD-Vorstand für Aufmerksamkeit zu sorgen. Wenn heute jemand einen SPD-Ausschluss vermelden wollte, würden viele mit einem Gähnen reagieren. Andere würden den Betreffenden beglückwünschen und ihn fragen, was ihn überhaupt in die Partei getrieben hat. In einer Zeit, wo ein Parteibuch, ein sozialdemokratisches zumal, eher auf Misstrauen stößt, muss man sich heute schon mehr einfallen lassen, um Gegenstand einer Solidaritätskampagne zu wehren.
„Ich habe keine ihrer Sendungen gesehen, aber ich finde Sie gut“
Jan Böhmermann ist da schon auf den richtigen Weg. Als typischer Vertreter des postmodernen Eventjournalismus weiß er sich in Szene zu setzen. Da muss ein mit rassistischen Stereotypen durchsetztes Gedicht herhalten und schon bekommt er Solidaritätsbriefe von Menschen, die seine Arbeit bisher als Gossenjournalismus bezeichnet hätten und selber vor Gericht klagen würden, wenn sie Gegenstand einer solchen Form von Schmähung würden.
Der Aufsichtsratsvorsitzende der Springer AG Matthias Döpfner ist dafür ein gutes Beispiel. Die Welt veröffentlichte seinen Offenen Brief[1], der so beginnt:
Lieber Herr Böhmermann, wir kennen uns nicht, und ich habe leider auch bisher Ihre Sendungen nicht sehen können. Dennoch wende ich mich in einem offenen Brief an Sie, denn es ist aufschlussreich, welche Reaktionen Ihre Satire ausgelöst hat. Ein Kristallisations- und Wendepunkt.
Deutlich könnte man nicht zum Ausdruck bringen, um was es bei dem ganzen Hype um diesen Eventjournalismus geht. Man will politisch auf der richtigen Seite sein, wenn man sich jetzt mit Böhmermann solidarisiert, obwohl man mit ihm und seiner Arbeit bisher nichts zu tun haben wollte und sie auch politisch abgelehnt hat.
Die Raabisierung des Journalismus
Die Gründe für diese Distanz sind vielfältig. Sicher spielen auch politische Gründe eine Rolle. Aber es gibt auch gute Gründe, unabhängig vom Inhalt, Journalismus a la Böhmermann kritisch zu sehen. Er mag, wie bei der Satire um den Stinkefinger des griechischen Ministers Varofakis, manchmal auch kritische Inhalte damit verbinden.
Doch letztlich geht es um einen Event, der mit mehr oder weniger Krawall verbunden ist. Die Inhalte sind austauschbar, mal lacht der Linke, mal die Rechte und immer steht die Person im Mittelpunkt. Schon Stefan Raab stand an der Schnittstelle zwischen Eventmarketing und Journalismus und Böhmermann und andere sind da nur die Fortsetzung.
Allerdings will die Selbstvermarktung auch gekonnt sein und da ist Böhmermann ein Meister. Deswegen war es auch nur noch peinlich, dass selbst ein Didi Hallervorden vom Böhmermann-Hype profitieren und ebenfalls Erdogan beleidigen wollte (Hallervorden: „Erdogan, zeig mich an!“[2]). Am Ende war er selber der Blamierte. Diese Art von Journalismus lebt von Event und Krawall.
Die Kehrseite ist jener Wohlfühljournalismus, der im Zeitalter vom Label Corporate Publishing um sich greift. Journalismus soll gute Nachrichten verbreiten und den Wohlfühlfaktor der Lesenden erhöhen. In manchen Artikeln wird gleich in jeden zweiten Satz das Wort toll eingearbeitet, wenn es auch nur um den Bericht über einen Kongress geht. Die Ausbreitung solcher Journalismusformen, die die Leser nicht mehr mit den Zuständen auf der Welt überfordern wollen, ist die Krise der Medienwirtschaft.
Da die alten Bezahlmodelle nicht mehr funktionieren, werden neue Formen erprobt. Vom Stiftungs- und Spendenjournalismus über Mitglieder-bzw. Leserfinanzierung bis hin zum Internetbezahlmodellen reichen die Modelle. Wie kritisch ein solcher Journalismus noch ist, war auch Thema auf der Linken Medienakademie[3] Anfang April in Berlin.
Tatsächlich zeigt sich aber, dass Wohlfühl- und Eventjournalismus ein Ergebnis dieses Umbruchs in der Medienlandschaft sind. Damit werden bestimmte Leserinteressen befriedigt. Gemeinsam ist ihnen, dass es nicht um kritische Reflexion mit der Welt geht, sondern um die eigene kleine Welt der jeweiligen Zielgruppen der Medien. Da platze dann auf einmal die Realität in der Welt rein und daraus wurde dann der Böhmermann-Hype.
Die Debatte gehört in die Gesellschaft, nicht ins Feuilleton
Von den Verfassern einer Solidaritätserklärung an Böhmermann, die gestern in der Zeit veröffentlicht[4] und von zahlreichen Künstlern unterzeichnet wurde, ist anzunehmen, dass zumindest einige schon mal seine Sendung gesehen haben.
Zunächst ist die Überschrift „Liebe Regierung, jetzt mal ruhig bleiben“ sympathisch. Tatsächlich wäre es ein gutes Ergebnis des Böhmermann-Hypes, wenn die Sonderregelungen abgeschafft werden, die Staatchefs einen besonderen Schutz vor Beleidigungen bieten sollen und das in der Vergangenheit oft getan haben.
Allerdings muss das dann für alle gelten, auch für Joachim Gauck. Dass die sich beleidigt Fühlenden dann immer noch als Privatpersonen Anzeige erstatten können, was Erdogan auch schon gemacht hat, ist ihnen unbenommen und gehört auch zu ihren Recht. Daher ist es irreführend, wenn es in dem Aufruf heißt, die Debatte gehöre nicht in den Gerichtssaal. Zudem ist es verwunderlich, dass sie ins Feuilleton verbannt und damit entpolitisiert werden soll. Schließlich ist in vielen Feuilletons zu lesen, was in den Innenpolitik- und Wirtschaftsteilen der Zeitungen nie veröffentlicht würde.
Mit der Forderung, die Debatte soll wieder ins Feuilleton gesperrt werden, bekennt man sich dazu, nicht gesellschaftlich wirken zu wollen. Wir machen nur Kunst und keine Politik, lasst uns gefälligst diese Spielwiese, ist die Aussage. Dagegen müsste die Forderung stehen, dass die Debatte in die Gesellschaft gehört und dass es dabei nicht nur um Kritik in Richtung der türkischen Regierung gehen muss. Es sollte auch über die Funktion eines krawalligen Eventjournalismus à la Böhmermann diskutiert werden, der sich, wenn es Ernst wird, auf seinen Spielplatz Feuilleton zurückziehen will. Diese Gelegenheit haben kritische Journalisten in der Türkei und Kurdistan und vielen anderen Ländern in der Regel nicht. Sie werden verhaftet, angeklagt und verschwinden über Jahre in Gefängnissen. Die meisten derjenigen, die jetzt mit Offenen Briefen an Böhmermann wieder eine Gelegenheit finden, ihren Namen in der Öffentlichkeit zu lesen, findet man in der Regel nicht, wenn es um Solidarität für die wirklich vom türkischen Regime Verfolgen geht
Liebe Böhmermann-Freunde, jetzt mal ruhig bleiben
Beim ganzen Hype um Böhmermann wird das gerne vergessen. Dabei könnte doch die Causa Böhmermann sogar als Experiment gesehen werden, wie Erdogan sich um die vielzitieren westlichen Werte bemüht. Schließlich ist nicht bekannt, dass er zu einer Fatwah gegen ihn aufgerufen hat, sondern er beschreitet den Rechtsweg und unterscheidet sich damit nicht von vielen anderen, die in ähnlicher Situation ebenso reagieren würden.
Die Aufregung der letzten Tage ist also schwer zu verstehen. Man könnte daher einen Satz aus dem in der Zeit abgedruckten Brief der Böhmermann-Freunde auch auf sie selbst und ihr Umfeld münzen: „Jetzt mal ruhig bleiben.“ Vor allem sollte auch mal reflektiert werden, welche politischen Kräfte den Böhmermann-Hype nutzen, um ihre politischen Zwecke voranzutreiben. Dazu gehören all jene, für die Türkei sowieso in Europa nichts zu suchen hat und die wieder nach einen Prinz Eugen rufen, der „die Türken“ vertreibt.
Wenn der rechtsliberale belgische Politiker Guy Vorhofstadt mit dem Satz zitiert[5] wird: „Wir haben Sultan Erdogan schon den Schlüssel zu Europas Toren gegeben, nun laufen wir Gefahr, ihn auch unsere Redaktionen und Medien kontrollieren zu lassen“, dann verwendet er Kernelemente dieses rechtspopulistischen Diskurses.
Tatsächlich haben die europäischen Instanzen die Türkei bekniet, dass sie ihnen die Migranten fernhält. Wenn der Torwächter dann aber noch Rechte beansprucht, die nur der Herrschaft gebühren, dann greifen manche wieder zu einer Rhetorik, als stünden die Türken vor Wien.
Anhang
Links
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https://de.wikipedia.org/wiki/Testbild#/media/File:SW_Testbild_auf_Philips_TD1410U.jpg
[1]
http://www.welt.de/debatte/kommentare/article154171281/Solidaritaet-mit-Jan-Boehmermann.html
[2]
http://www.heise.de/tp/artikel/47/47919/
[3]
http://www.linkemedienakademie.de/highlights/31-donnerstag/wie-kritisch-ist-unabhaengiger-journalismus-wie-unabhaengig-ist-kritischer-journalismus/
[4]
http://www.zeit.de/kultur/film/2016-04/jan-boehmermann-satire-solidaritaet-prominente-offener-brief
[5]
http://deredactie.be/cm/vrtnieuws.deutsch/EU/1.2595324
[6]
http://www.heise.de/tp/ebook/ebook_27.html
Dabei geblieben
Beruf, Kinder, wechselnde Perspektiven – wenn linke AktivistInnen älter werden
Ab dem 30. Geburtstag spüren viele PolitaktivistInnen zunehmende Ent-fremdung zur linken Szene. Dies ist nicht per se der Rückzug ins Private.
Linke Demonstrationen hinterlassen oft den Eindruck einer Jugendbewegung. Menschen über 40 sind die große Ausnahme. Warum beginnt bei den meisten AktivistInnen der Abschied von dem politischen Engagement mit 30? Diese Frage stellt sich auch Rehzi Malzahn in ihren im Unrast-Verlag erschienen Buch »dabei geblieben. Aktivist_innen erzählen vom Älterwerden und Weiterkämpfen«. Für ihr Buch hat sie politisch aktive über 50-jährige interviewt. Unter ihren 25 Gesprächspartnern sind Gewerkschaftler, Umweltbewegte und Feministinnen. Bis auf ein DKP-Mitglied sind alle Interviewten parteilos. Viele haben ihre ersten politischen Erfahrungen in der autonomen Bewegung gemacht.
»Ich wollte Leute befragen, die dabeigeblieben sind«, beschreibt Malzahn ihr Erkenntnisinteresse. Dabei interessierte sie besonders, wie AktivistInnen ihre politische Arbeit mit Zwängen des Geldverdienens unter einen Hut bringen, welche Rolle Familie und Kinder im Alltag der politischen AktivistInnen spielen und woher sie ihre Motivation für das Dabeibleiben nehmen. Diese Fragen beschäftigten die Autorin nicht nur für das Buchprojekt. Malzahn selbst wurde in der globalisierungskritischen Bewegung Ende der 90er Jahre politisch aktiv und engagierte sich danach über 15 Jahre in linken außerparlamentarischen Zusammenhängen. Ihr Studium hatte sie abgebrochen, weil ihr die politische Arbeit wichtiger war. Das Buch war somit auch ein Stück private Krisenbewältigung. »Ab meinem 30. Geburtstag habe ich eine zunehmende Entfremdung zu den Ritualen und Herangehensweisen der Szene, der ich angehöre, gespürt und auch gemerkt, dass mir bestimmte Fragestellungen nicht mehr reichen und bestimmte Antworten nichts mehr sagen«, beschreibt Malzahn ihre politische Sinnkrise. Doch statt sich wie viele ihrer MitstreiterInnen aus der politischen Arbeit ins Private oder den Beruf zurückzuziehen, suchte Malzahn mit älteren Linken, die sie aus der gemeinsamen politischen Arbeit kannte, das Gespräch. Für die Interviewführung kam Malzahn ihre Ausbildung als Mediatorin zugute. So gelang es ihr, bei den Gesprächen in die Tiefe zu gehen.
Dass ein Ausstieg aus der linken Szene nicht das Ende eines politischen Engagements sein muss, wird in mehreren Interviews deutlich. So hatte sich Larissa aus beruflichen Gründen aus der politischen Arbeit zurückgezogen. Die Proteste gegen den G7-Gipfel in Heiligendamm im Jahr 2007 waren für sie Anlass für den Wiedereinstieg in die aktive Politik. Auf der Demonstration hatte sie einige ihrer ehemaligen MitstreiterInnen wieder getroffen, die genau wie sie auf der Suche nach einen neuen politischen Betätigungsfeld waren. Eine andere Interviewpartnerin hatte sich wegen der Kindererziehung aus der politischen Arbeit zurückgezogen und plante ihren Wiedereinstieg in die politische Arbeit, nachdem die Kinder älter geworden sind.
Mehrere Interviewte lehnen den Begriff »Politik machen« für ihr Engagements vehement ab. »Ich mache keine Politik, ich kämpfe und das gehört zu meinen Leben«, betont Ingrid. Gleich mehrere Interviewte betrachten Lohnarbeit und Beruf als Hindernis für die politische Arbeit. So betont Britta, sie habe ihr Studium als persönliche und politische Weiterbildung, aber nie als Berufsperspektive betrachtet. »Mitte 30 stellte ich mit Erstaunen fest, dass immer mehr Menschen aus meinem Umfeld zu arbeiten begannen«, bringt sie eine Haltung auf den Punkt, die vor allem in der autonomen Linken weit verbreitet war. Malzahn sieht in dieser Trennung von Politik und Beruf einen wichtigen Grund, warum dort kaum Menschen über 30 aktiv sind. Nicht wenige, die sich aus der außerparlamentarischen zurückziehen, engagieren sich später in Gewerkschaften, gründen einen Betriebsrat oder beteiligen sich an Mieterinitiativen gegen Verdrängung. Dann sind sie vielleicht aus der autonomen Szene, nicht aber aus der politischen Arbeit verschwunden. Malzahn betont, dass sie für eine solche Entscheidung heute mehr Verständnis hat, als bei der Arbeit für das Buch.
Rehzi Malzahn (Hg.): dabei geblieben. Aktivist_innen erzählen vom Älterwerden und Weiterkämpfen, Unrast, Münster, September 2015, 256 Seiten, 16 Euro
https://www.neues-deutschland.de/artikel/1008349.dabei-geblieben.html
Peter Nowak
Stören Meinungsäußerungen den Frieden?
Im September 2015 war Bernd Langer, Antifa-Aktivist und Chronist der linken Bewegung, wegen Billigung einer Straftat und Störung des öffentlichen Friedens zu einer Geldstrafe von 500 Euro verurteilt worden (taz berichtete). Er hatte 2014 in einem Interview mit der Tageszeitung Neues Deutschland, das sich um die Geschichte der autonomen Antifabewegung in der BRD drehte, auch einige Bemerkungen zu einen Anschlag auf die Druckere der rechte Wochenzeitung Junge Freiheit aus dem Jahr 1994 gemacht. „Wenn man liest, wie das bei denen reingehauen hat – die konnten ihre Zeitung fast zumachen –, war das eine Superaktion gewesen“, so Langer in dem Interview. Das Verfahren hatte der ehemalige Generalbundesanwalt und langjährige Junge-Freiheit-Autor Alexander von Stahl ins
Rollen gebracht. Auch die sächsische AfD hatte in einer Pressemitteilung das Interview als Beispiel für die Billigung linker Gewalt angeführt. Zunächst sollte Langer eine Strafe von 3.000 Euro zahlen, die das Berliner Amtsgericht im September 2015 auf 500 Euro reduzierte. Dagegen legte Langer Berufung ein. Doch am 12. September wollte das Berliner Landgericht nicht über den Fall urteilen,
weil ihr Informationen zu der Aktion gegen die Junge Freiheit fehlen. Daher beschloss das Gericht, beim nächsten Termin LKA-BeamtInnen aus Thüringen zu laden, die 1994 nach dem Anschlag auf die Junge Freiheit in Weimar ermittelten. Langers Anwalt Sven Richwin hätte sich eine Einstellung des Verfahrens gewünscht, sieht aber die Hinzuziehung von ZeugInnen positiv. „Das Gericht wird sich mit unserer Argumention beschäftigen, dass mein Mandat mit dem Interview den öffentlichen Frieden schon deshalb nicht gestört haben kann, weil schon den meisten LeserInnen des Neuen Deutschland der Anschlag auf die Junge Freiheit nicht bekannt war“, erklärte der
Anwalt gegenüber der taz. Langer fordert weiterhin einen Freispruch. „Es muss nach mehr als zwanzig Jahren möglich sein, ohne Angst vor strafrechtlichen Konsequenzen über die Aktion zu diskutieren“, betonte er.
Griechenland und Ukraine: Kommt die EU-Krise zurück?
EU-Parlamentspräsident Martin Schulz warnt vor einer Implosion der EU
Ein „progressives Europa mit sozialer Gerechtigkeit“ forderten am Montag der griechische Ministerpräsident Tsipras und sein portugiesischer Kollege António Costa. In den Medien [1] wurde davon gesprochen, dass es eine Erklärung von zwei „linksgerichteten Regierungen“ war.
Nun war vor einem Jahr Tsipras mit einer linkssozialdemokratischen Syriza angetreten und hatte dafür auch den Wählerauftrag bekommen, die Austeritätspolitik zu beenden. Nach einem mehrmonatigen Kampf musste Tsipras vor allem vor dem Druck von „Deutsch-Europa“ kapitulieren. Die griechische Regierung machte nun deutlich, dass sie das Austeritätsprogramm weiterhin ablehnt. Aber sie war bereit, es umzusetzen.
Es gab eine Spaltung innerhalb von Syriza, ein Großteil der Basisaktivisten wandte sich enttäuscht von der Regierung ab. Auch die Hoffnungen, die parlamentarischen und außerparlamentarischen Linken mit dem Kampf der griechischen Regierung gegen die Austeritätspolitik verknüpft hatten, waren verflogen. Hier begann die Umorientierung von einer Politik der sozialen Gerechtigkeit zu Abschottung und Entsolidarisierung, wie sie der Aufstieg der Rechtspopulisten in vielen europäischen Ländern charakterisierte.
Doch wenn die Verantwortlichen von „Deutsch-Europa“ gedacht hätten, nun wären die Themen, die Syriza nach ihrem Wahlerfolg im letzten Jahr auf die Agenda gebracht hatten, endgültig erledigt, haben sie sich getäuscht.
An der gemeinsamen griechisch-portugiesischen Erklärung ist vor allem bemerkenswert, dass der portugiesische Regierungschef ein Sozialdemokrat ist, dessen Regierung allerdings seit einigen Monaten von dem Linksblock und der Kommunistischen Partei unterstützt wird.
Sie haben sich auf ein Regierungsprogramm geeinigt, das in den Grundzügen auch das fordert, wofür Syriza im letzten Jahr stand: ein Ende der Austeritätspolitik und ein sozialeres Europa. Die Kooperation der ungleichen und lange Zeit verfeindeten politischen Parteien ist erst vor dem Hintergrund der griechischen Erfahrungen möglich geworden.
Die Erpressung der griechischen Regierung wurde auch als Folge von deren Isolierung gesehen. Sowohl innerhalb Europas als auch in Griechenland hatte sie wenig Kooperationspartner. Diesen Fehler wollten die Linksparteien in Portugal nicht machen.
Auch in Spanien und Italien gibt es große Mehrheiten für die Grundsätze der griechisch-portugiesischen Regierung, auch wenn es dort bisher keine entsprechenden Regierungen gibt. Auch daran wird deutlich, dass die Forderungen in südeuropäischen Ländern noch mobilisierungsfähig sind.
Vor einem neuen Countdown zwischen Griechenland und der EU?
Doch es sind nicht nur diese bilateralen Erklärungen, die in Brüssel für Unruhe sorgen. Am vergangenen Freitag waren Vertreter der EU, der Europäischen Zentralbank und des IWF in Athen, um zu kontrollieren, ob die griechische Regierung weitere Fortschritte bei der Umsetzung des Austeritätsprogramms gemacht hat.
Dabei gab es sowohl zwischen der griechischen Regierung und den unterschiedlichen Kontrolleuren als auch innerhalb der unterschiedlichen Institutionen Auseinandersetzungen. Zur Frage, ob Griechenland eine Staatspleite droht, berichtet der Spiegel [2]:
„Das könnte immer noch passieren. Derzeit hängt alles von den weiteren Verhandlungen ab. Im Juli laufen Kredite des IWF und der EZB an Athen im Volumen von gut 2,7 Milliarden Euro aus. Wenn die Gläubiger bis dahin kein Geld nachlegen, wird es eng für Griechenland.“
Dass damit die alte, die EU spaltende Krise wieder auf der Agenda stünde, wird hingegen nicht erwähnt. Als Wikileaks dann noch Gesprächsprotokolle des IWF veröffentlichte [3], in denen offen ausgesprochen wurde, dass man auch der gezähmten Syriza-Regierung nicht traut und auch Vorschläge entwickelte, wie man den Druck auf die Athener Regierung weiter erhöhen kann, wurden Reminiszenzen an den Druck der Institutionen auf Athen wach.
Allerdings zeigen die geleakten Protokolle auch die Uneinigkeit der Institutionen. Das sind Widersprüche, die die Athener Regierung vielleicht ausnutzen kann. Zudem dürfte auch die Degradierung Griechenlands als Abschiebebahnhof für Migranten und die unsolidarische Haltung verschiedener EU-Staaten die Bereitschaft der griechischen Regierung auf einen neuen Kotau vor den Institutionen gedämpft haben.
Während der Türkei für ihre Beteiligung beim Deal bei der Rücknahme der Migranten neben Geld auch viele weitere Vergünstigungen zugesagt wurden, gibt es für das EU-Mitglied Griechenland keinerlei Konzessionen. Angesichts der langjährigen türkisch-griechischen Querelen dürfte sich die EU damit in Griechenland viele Sympathien verscherzt haben.
Es gibt dort heute sicher mehr Menschen, als noch vor einen Jahr, die auch zu einen Austritt aus der EU oder zumindest aus der Eurozone bereit wären, wenn der Druck aus Brüssel erneut steigt. Eine Mehrheit dürfte allerdings auch jetzt nicht für einen Abschied von der EU stimmen.
Auch in der Ukraine wächst die Ernüchterung über die EU
Doch auch an einer anderen Baustelle, in welche die EU in den letzten Jahren viel investierte, wächst die Ernüchterung über Brüsseler Politik. Die Rede ist von der Ukraine, wo seit mehr als einem Jahrzehnt beständig zwei Blöcke gegenüberstehen. Einer will die Kooperation mit Russland ausbauen, der andere sucht das Bündnis mit der EU.
Eine Politik der Neutralität, bei guten Kontakten zu beiden Seiten, könnte vielleicht das fragile innere Gleichgewicht bewahren. Doch die Maidan-Proteste gegen eine korrupte Regierung waren eskaliert, nachdem führende EU-Vertreter, unter anderem der damalige deutsche Außenminister, sich offen für die radikale prowestliche Fraktion aussprachen und dabei auch die Kooperation mit Ultrarechten zumindest in Kauf nahmen.
Dabei muss allerdings betont werden, dass der prorussische Block keineswegs progressiver ist und ebenfalls ultrarechte Kräfte einschließt. Doch in großen Teilen der ukrainischen Politik ist die Euphorie über die EU längst verflogen. Schließlich war der Preis für die einseitige Positionierung ein Konflikt mit Russland und der Verlust der Krim. Zudem stellt sich längst heraus, dass die Kappung alter wirtschaftlicher und politischer Kontakte zum russischen Nachbarn politisch und wirtschaftlich ein Desaster ist.
Mit dem aufpolierten Popanz des ukrainischen Nationalismus, inklusive seiner offen faschistischen Elemente wird nun versucht, die prowestliche Orientierung beizubehalten. Doch es gibt deutliche Anzeichen, dass die Kräfte, die zumindest einen Ausgleich mit Russland suchen, wieder an Ansehen in der Ukraine gewinnen. Sie hatten bei einigen regionalen Wahlen Erfolge.
Politberater aus den USA und der EU warnten in der letzten Zeit vor vorgezogenen Neuwahlen in der Ukraine, weil sie eine Niederlage der pro-EU-Kräfte befürchten. Das Szenario ist nicht neu. Schon einmal siegte die prowestliche orangene Revolution, deren Protagonisten sich zerstritten, und wenige Jahre später siegte der Block, der auf einen Ausgleich mit Russland setzt. Jetzt könnte sich ein solches Szenario wiederholen.
Dass in Holland in einem Referendum das Übereinkommen zwischen der EU und der Ukraine abgelehnt wurde, spielte dabei noch keine Rolle. Doch das Ergebnis könnte die Gegner einer weiteren Annäherung an die EU natürlich bestärken. Es zeigt sich daran, dass die Opfer, die die Ukraine aus Sicht der prowestlichen Kräfte für ihre Positionierung gebracht hat, nicht beachtet wurden.
Die Ergebnisse des holländischen Referendums haben sehr unterschiedliche Ursachen, es gab ein rechtspopulistisches und ein linkes Nein. Doch eins wird deutlich: Die Zeiten, in denen der Ukraine in vielen EU-Staaten wegen ihres angeblichen Freiheitskampfes gegen Russland scheinbar die Sympathien zufliegen, sind vorbei, wenn es sie je gegeben hat.
Fliehkräfte: Schulz warnt
Eine EU, die vor jedem Referendum über ein beliebiges Thema zittern muss, ob es zu den nötigen Mehrheiten kommt, verliert weiter an Vertrauen und Respekt. Auch das könnte in Staaten wie der Ukraine die Kräfte stärken, die sich für einen Austausch mit Russland stark machen.
Schon wird in Brüssel vor den Folgen eines Austritts Großbritanniens aus der EU gewarnt. Das könnte die Fliehkräfte in der EU verstärken. Andere Länder könnten sich daran ein Beispiel nehmen, warnte EU-Parlamentspräsident Martin Schulz. Dann könnte die EU-Krise mit voller Wucht zurückkehren.
Selbst der nicht zu Pessimismus neigende Martin Schulz warnt [4] vor einer Implosion der EU. Es gibt ja bereits ein historisches Vorbild: das Ende des nominalsozialistischen Blocks.
http://www.heise.de/tp/news/Griechenland-und-Ukraine-Kommt-die-EU-Krise-zurueck-3169182.html
Peter Nowak
Links:
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[2]
[3]
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Die AfD rückt auf parlamentarischem Gebiet ein Stück weiter nach rechts
AfD-Abgeordnete von Storch trennt sich von den Konservativen, Pretzell taktiert noch
Die Europaabgeordnete Beatrice von Storch [1] hat sich der rechtspopulistischen Fraktion „Europa der Freiheit und der direkten Demokratie“ [2] im Europaparlament angeschlossen. Sie freue sich und gehe gern diesen Schritt, „der ein Signal ist, insbesondere so kurz vor dem britischen Referendum über den Verbleib in der EU“, erklärte [3] Parlamentarierin.
Bisher war sie Mitglied der rechtskonservativen Frqaktion der „Europäischen Konservativen und Reformer [4].“ Dort waren sie und ihr Parteikollege Marcus Pretzell zunehmend isoliert. Ihr Fraktionsausschluss war beschlossene Sache.
Die AfD ist „zunehmend radikal, rassistisch, unerträglich“
Wie zerrüttet der Umgang innerhalb der Fraktion war, zeigt eine Stellungnahme von Arne Gericke von der ultrakonservativen Familienpartei, der ebenfalls in der Fraktion der Konservativen und Reformer Unterschlupf gefunden hat. Er erklärte [5] gegenüber Spiegel-Online, dass von Storch mit ihren Übertritt einen sicheren Ausschluss in der nächsten Woche zuvor gekommen sei. Gericke sagt, die AfD sei“ zunehmend radikal, rassistisch, unerträglich“.
Stein des Anstoßes für den innerfraktionellen Streit waren die umstrittenen Äußerungen über den Schusswaffengebrauch gegen Migranten an der Grenze. Doch auch die Rechtskonservativen sind nicht für eine humane Flüchtlingspolitik bekannt und nach rechts weit offen. Schließlich gehört der Fraktion auch die nationalkonservative Regierungspartei PIS an.
Der eigentliche Grund für das Zerwürfnis liegt schon länger zurück. Es ist der Machtverlust der wirtschaftsliberalen Rechtskonservativen um Lucke innerhalb der AfD. Die hatten vor der Europawahl, um die Partei regierungsfähig zu halten, den Eintritt in die Fraktion der Konservativen und Reformer durchgesetzt. Der rechte AfD-Flügel hatte schon damals einen Anschluss an die Eurogegner befürwortet. Nach der Spaltung der AfD hatte sich die Fraktionsmehrheit hinter Lucke und seine Anhänger gestellt. Die neue AfD-Mehrheit, die Pretzell und von Storch nun im EU-Parlament repräsentiert, war in der Minderheit.
Der Wechsel ist daher nur konsequent und wird an der AfD-Basis sicher auf Zustimmung stoßen. Schließlich ist der britische EU-Gegner Nigel Farage dort wesentlich beliebter als der Chef der Torys. Auch Pretzell hatte sich für Farage schon zu einer Zeit stark gemacht, als die Mehrheit um Lucke von diesen Kontakten noch nichts wissen wollte. Daher ist erstaunlich, dass Pretzell den Fraktionsübertritt nicht mit vollzogen hat. Er will in der Fraktion der Konservativen bleiben, hat er erklärt.
Da sein Ausschluss nächste Woche wahrscheinlich ist, kann es auch ein abgekartetes Spiel sein. Er lässt sich ausschließen, um dann doch noch von Storch in die Fraktion der EU-Gegner zu folgen. Wenn nicht, ist das auch ein Zeichen, dass sich selbst die beiden übriggebliebenen AfD-EU-Abgeordneten nicht einmal auf eine gemeinsame Fraktion einigen können.
Es ist natürlich auch denkbar, dass Pretzell sich der noch weiter rechts stehenden Fraktion der „Europa der Nationen und Freiheiten“ [6] wechselt. Mit einem der dort aktiven Politiker, dem FPÖ-Vorsitzenden Strache, hat Pretzell gute Kontakte. Da allerdings manche in der AfD nicht ganz so weit rechtsaußen stehen wollen, gäbe es da wohl innerparteiliche Dispute.
Doch jenseits solcher geschmäcklerischen Diskussionen, sollte man nicht übersehen, dass es zwischen den rechten Fraktionen genügend Gemeinsamkeiten gilt. So ist der holländische Rechtsaußen-Wilders bei sämtlichen Fraktionen der europäischen Rechten angesehen. Seine wichtige Rolle in der Fraktion „Europa der Nationen und Freiheiten“ ist da kein Hinderungsgrund. Es gibt natürlich auch unter den Rechtsaußenfraktionen, wie überall in der Politik, persönliche Animositäten und langjährige politische Differenzen. Doch in den Kernfragen ist man sich einig. Dazu gehört auch die Unterstützung eines Brexits bei der EU-Abstimmung in Großbritannien.
Wie bei so vielen anderen Themen auch ist in der Öffentlichkeit kaum bekannt, dass es auch Stimmen für einen linken Brexit [7] in und außerhalb von Großbritannien gab. Doch in weiteren Teil der Öffentlichkeit dominiert das Bild einer Linken, die das gegenwärtige EU-Projekt unterstützen. Dann können sich die unterschiedlichen Rechten noch mehr als die eigentliche Opposition gerieren.
AfD gegen Russlandsanktionen und TTIP
In diesen Zusammenhang kann die AfD den Fraktionswechsel der EU-Parlamentarierin auch nutzen, um die Distanz zu den regierenden Konservativen deutlich zu machen.Von Storch verwies in ihrer Erklärung zum Fraktionsübertritt darauf, dass ihr neuer politischer Zusammenhang auch Sanktionen gegen Russland und eine neue Blockbildung durch den TTIP-Verträge ablehnt. Damit deutet sie schon an, dass sich auch in diesen Fragen die AfD profilieren will.
Bisher waren die konsequentesten TTIP-Kritiker auf parlamentarischer Ebene die Linkspartei, mit vielen Abstrichen die Grünen, während die SPD aus wahltaktischen Gründen mal die Verträge kritisierte, um sie später wieder für unverzichtbar zu erklären.Es gab schon immer auch eine rechte TTIP-Kritik, die nun mit der AfD auch eine Stimme bekommt. Für linke Kritiker sowohl des Freihandelsabkommens als auch der Sanktionen gegen Russland müsste das noch mehr eine Herausforderung sein, eine eigene Kritik zu formulieren, die nicht von rechts vereinnahmt werden kann.
http://www.heise.de/tp/news/Die-AfD-rueckt-auf-parlamentarischem-Gebiet-ein-Stueck-weiter-nach-rechts-3166760.html
Peter Nowak
Links:
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Bijî Rojava, bijî Kobanê
Der Kampf um die kleine Grenzstadt Kobanê in der Provinz Rojava hat vor einigen Monaten auch hierzulande der schon tot geglaubten internationalen Solidarität neue Impulse gegeben. Allein in Berlin sammelten nicht nur zwei Bündnisse Geld „Waffen für Rojava“: Zahlreiche Clubs und Veranstaltungslokalitäten schlossen sich zum Bündnis „Nachtleben für Rojava“ zusammen, um zivile Projekte in der syrischen Provinz zu unterstützen.
Der Kampf der YPG-Einheiten brachte nicht nur dem sogenannten Islamischen Staat (IS) die erste wichtige Niederlage. Er zeigte einer Linken, die sich von dem Ende des Nominalsozialismus noch immer nicht erholt hat, dass die viel beschworene andere Welt nicht nur eine Floskel ist. Mittlerweile hat das Interesse an Rojava zumindest in Deutschland wieder nachgelassen. Es ist eine gute Zeit, um ein erstes Resümee zu ziehen. Der Politwissenschaftler Ismail Küpeli hat im Verlag Edition Assemblage kürzlich unter dem Titel „Kampf um Kobanê“ ein Buch herausgegeben, das diesen Anspruch einlöst. 16 Autorinnen und Autoren schreiben über sehr unterschiedliche politische und soziale Aspekte, die mit dem Kampf um Kobanê im Zusammenhang stehen.
Leider gehört gleich der erste Aufsatz des Sozialökonomen Sebahattin Topçuoğlu nicht zu den stärksten Beiträgen des Buchs. Schließlich konzentriert er sich in seinem kurzen Einblick in die kurdische Geschichte auf die Historie der „großen Männer“, statt die Kämpfe der unteren Klassen in den Blick zu nehmen.
Auch was der Autor zur aktuellen Situation schreibt, ist höchst zweifelhaft. So schreibt er über Abdullah Öcalans Vorstellungen von Selbstverwaltung und Feminismus:
„Die Ideen Öcalans werden unter anderem auch deshalb international in linksgerichteten Kreisen diskutiert, weil sie sich klar gegen Kapitalismus und Nationalstaat positionieren. In Bezug auf Staatlichkeit nehmen seine Ideen zum Teil unrealistische bzw. utopische und anarchistische Züge an“ (S. 22).
So bleib Topçuoğlu am Ende der nun wahrlich nicht besonders analytische Gedanke: „Kurd_innen waren die Verlierer des 20. Jahrhunderts in der Region. Das 21. Jahrhundert bietet ihnen nun die Möglichkeit, bei der Neugestaltung der Region als Gewinner_innen hervorzugehen“ (S.23). Informativer ist der Beitrag von Ulf Petersen, der die auch in linken Kreisen häufig verbreitete Behauptung wiederlegt, dass die PYD (die kurdische „Partei der Demokratischen Union“) sich nicht an der Opposition gegen das Assad-Regime beteiligt habe. Dabei habe diese sich nur geweigert, das Regime auch um den Preis einer islamistischen Herrschaft zur stürzen. „Seit dem Kampf um Kobanê 2014/15 ist allerdings deutlich geworden, dass die PYD und die Selbstverwaltung wirklich einen eigenen Weg gehen“, (S.28) schreibt Petersen.
Der Kampf der Frauen geht nicht um westliche Werte
Eine Stärke des Buches besteht darin, dass die große Mehrheit der AutorInnen aus Türkei und Kurdistan kommen und daher sehr wichtige Detailinformationen vermitteln, die in der Diskussion hierzulande kaum bekannt sind. Das gilt beispielsweise für den Aufsatz der Soziologin Dinar Direkt, die sich mit der Rolle der Frauen in Rojava befasst und dabei eine scharfe Kritik an einer romantisierenden Berichterstattung vieler Medien äußert:
„Indem die Frauen als mysteriöse Amazonen erotisiert werden, werden sie dem kapitalistischen Wertesystem entsprechend politisch sterilisiert und vermarktet. Doch in Anbetracht der radikal-demokratischen politischen Ziele der in Rojava kämpfenden Frauen, ist es fraglich, ob der Mainstream und seine Modezeitschriften, die den Kampf kurdischen Frauen nun für ihre eigenen Zwecke aneignen, auch die Gedanken dieser mutigen Kämpferinnen zu unterstützen bereit sind. Immerhin steht die Ideologie, die diese Frauen antreibt, auf der Terrorliste der Türkei, USA und EU“ ( S. 38).
Direkt erinnert auch daran, dass der Kampf der Frauen in Kobanê in einer längeren Tradition steht.
„Erst wenn man sich mit der Position und den organisatorischen Praktiken der PKK befasst, ist es möglich, die Massenmobilisierung der Frauen in Kobanê zu verstehen. Sie ist nicht aus dem Nichts entstanden, sondern beruht auf bestimmten Prinzipien und betrachtet sich als die Weiterführung der Tradition, die die Frauen der PKK angefangen haben“ (S. 47).
Direk kritisiert auch eine Position, wie sie in feministischen Kreisen zu hören ist. Demnach kämpfen die Frauen in Rojava, um einer patriarchalen Gesellschaft zu entkommen. Für die Soziologin wird damit oft vergessen, dass die Frauen klare politische Positionen haben, die sie zu ihren Kampf motivieren. Allerdings kann eine Frau sich eine feministische Perspektive in der Auseinandersetzung mit der patriarchalen Gesellschaft, in der sie lebt, erarbeitet haben. Scharf zurückweist Direk auch die These, mit den feministischen Bezügen würden die Frauen in Rojava um westliche Werte kämpfen. Die Autorin erinnert daran, dass die kurdischen TheoretikerInnen der Frauenbefreiung sich explizit gegen den westlichen Feminismus wenden, den sie als ungenügend und unvollständig bezeichnen.
Der Wissenschaftler Lokman Turgut geht in seinem kurzen Abriss über die Geschichte der PKK bis in die späten 1960er Jahre zurück, als Versammlungen des Osten, in verschiedenen Städten stattfanden. Diese Versammlungen, die 1967 in verschiedenen kurdischen Städten organisiert wurden. Einberufen wurden sie von linken kurdischen Gruppen. Thematisiert wurde die Unterentwicklung der Osttürkei. Gefordert wurde die politische und ökonomische Gleichheit mit den anderen Teilen des Landes.
Damals wurde erstmals in größerem Umfang thematisiert, dass Kurdistan eine türkische Kolonie ist. Diese Ansätze spielten in verschiedenen linken Gruppen, die es in den 1970er Jahren in der Türkei und Kurdistan gab, und später dann auch in der PKK, eine wichtige Rolle. Die kurz zusammengefasste Übersicht über die Vorgeschichte der PKK könnte LeserInnen dazu ermutigen, hier weiter zu forschen. Bisher gab es auch in PKK-nahen Kreisen oft nur eine etwas mythologische Geschichtsschreibung, die mit dem Beginn des bewaffneten Kampfes 1984 begann, als ein Großteil der türkischen Linken von der Militärdiktatur ermordet, verfolgt, ins Gefängnis geworfen oder ins Exil getrieben worden war.
PKK eine stalinistische Organisation?
In seiner Zusammenfassung geht Turgut mit einer auch in Teilen der hiesigen Linken häufig bemühten PKK-Rezeption hart ins Gericht. „Die Bewertung der PKK als stalinistische oder marxistisch-leninistische Organisation, oder Versuche sie durch ihre jeweiligen einzelnen Ziele zu beschreiben, würde es verfehlen, die PKK umfassend und treffend einzuordnen“ (S. 64). Einige Seiten später vertritt der Journalist Christian Jakob in seinem Aufsatz über die PKK in den ersten zwei Jahrzehnten nach ihrer Gründung folgende Klassifizierung: „eine kurdisch-nationalistische, autoritäre, zentralistische Kaderpartei“. Allerdings betont Jakob, wie zahlreiche andere AutorInnen, dass die PKK später einen Bruch mit autoritären Politikvorstellungen vollzogen hat, die wesentlich von Öcalan vorangetrieben wurden, der wiederum von den Ideen des Anarchisten Muray Bookchyn beeinflusst ist. Die Lesart von der autoritären, ja stalinistischen PKK hatte sich bereits vor mehr als 30 Jahren in großen Teilen der außerparlamentarischen Linken in der BRD durchgesetzt. So stehen sich in dem Buch zwei Positionen gegenüber. Kurdische und türkische Linke, sehen schon in der Politik der frühen PKK viele Elemente enthalten, die die Politik bis heute bestimmen. Deutschsprachige Linke betonen den Bruch zwischen der stalinistischen und der libertären Phase. Hier spielt sicher die notwendige Kritik an autoritären oder stalinistischen Politikmodellen eine Rolle. Aber ein anderer Aspekt darf dabei nicht vernachlässigt werden. Die außerparlamentarische Linke der BRD kann sich über die sicher notwendige Zerstörung von Diskursen kaum andere Aktionsfelder vorstellen. Wie aber mehrere AutorInnen in dem Buch gut darstellen, war das Ziel der PKK ein Bruch mit dem Kolonialstatus in Kurdistan, aber auch eine innerkurdische Revolution, die sich gegen die eigene Bourgeoisie richtete. Ein solches Ziel setzt auch eine gewisse politische Organisierung voraus, die schnell als autoritär kritisiert werden kann. Es sollte aber nicht vergessen werden, dass auch bewaffnet kämpfende anarchistische Verbände wie die FAI in der spanischen Revolution keine basisdemokratischen Strukturen hatten.
Auch die Journalistin Hanna Wettig begründet in ihrem ansonsten informativen Aufsatz über die syrische Opposition in einer Fußnote, warum sie den Begriff Rojava in ihren Text nicht verwendet.
„Die Eigenbezeichnung ‚Rojava‘ wird hier nicht benutzt, da es sich nach Ermessen der Autorin nicht um eine Eigenbezeichnung der kurdischen Bevölkerung handelt, sondern um einen von der PYD in die politische Debatte eingeführten Begriff. Kurdinnen und Kurden, die sich jenseits der PYD politisch engagieren, benutzen diesen Begriff nicht oder nur spöttisch, einige lehnen ihn vehement ab“ (S. 126).
Nun hat Wettig aber nicht ausgeführt, wie hoch der Teil der Bevölkerung ist, die diesen Terminus ablehnt. Allerdings ist es auch ein Pluspunkt des Buches, das es eben auch solch kritische Beiträge neben Aufsätzen stehen lässt, die sehr eindeutig für den politischen Prozess in Rojava Partei ergreifen. Die LeserInnen haben so die Möglichkeit, sich selber ein Bild zu machen. Zudem hat die Geschichte von gesellschaftlichen Umbrüchen und Revolutionsversuchen gezeigt, dass eine kritiklose Betrachtungsweise schnell zu Enttäuschungen und oft zum Rückzug aus dem politischen Engagement führt. Eine Solidarität, die um diese Probleme weiß, die schon von Beginn an auch den kritischen Blick auf die eigene Seite wirft, ist heute notwendig. Das von Küpeli herausgegebene Buch kann einen Beitrag dazu leisten. Allerdings hätte man sich noch ein Kapitel gewünscht, dass die fortdauernde Repression gegen linke kurdische Strukturen in Deutschland noch einmal thematisiert. Neben der Türkei ist Deutschland mit dem PKK-Verbot das Land, das bis heute die kurdische AktivistInnen heftig bekämpft und kriminalisiert.
Kampf um Kobanê. Kampf um die Zukunft des Nahen Ostens.
Edition Assemblage, Münster.
ISBN: 978-3-942885-89-8.
168 Seiten. 16,80 Euro.
http://kritisch-lesen.de/rezension/biji-rojava-biji-kobane
Peter Nowak
„Ich hatte nicht das Geld für mehr Miete“
KUNST Jahrelang kämpfte Ina Wudkte um ihre Mietwohnung in der Schwedter Straße. Jetzt stellt sie ihre Blessuren zur Schau
taz: Frau Wudtke, in Ihrer aktuellen Ausstellung setzen Sie sich mit Ihrer eigenen Verdrängung aus Ihrer Wohnung auseinander. War es denn gar kein Problem für Sie, sich selbst zum Gegenstand Ihrer Arbeit zu machen?
Ina Wudtke: Meine künstlerische Arbeit ist oft autobiografisch geprägt. Zudem musste ich in den Kampf um meine Wohnung so viel Zeit und Energie stecken, dass ich daneben wenig Zeit für etwas anderes hatte. So habe ich den Mietkampf und meine künstlerische Arbeit verbunden.
Im Mittelpunkt der Ausstellung steht das Video „Der 360.000-Euro-Blick“, in dem Sie in 45 Minuten die Geschichte Ihrer Vertreibung erzählen. Zu sehen ist ein Ausblick auf den Fernsehturm. Was sollen der Titel und die Einstellung ausdrücken?
Das Videobild zeigt den Blick aus dem Fenster meiner ehemaligen Wohnung in der Schwedter Straße in Mitte auf den Fernsehturm. Im Zeitraffer wird es einmal Tag und einmal Nacht. Ich kombinierte den Blick auf Berlins Wahrzeichen mit einer Icherzählung, in der Beobachtungen zu ökonomischen Strukturen und individuellen Lebensbedingungen, künstlerischer Produktion sowie zeitgenössischer
Politik und Stadtplanung ineinanderfließen.
Nämlich welche?
Als ich 1998 dort eingezogen bin, gab es kaum sanierte Häuser in der Straße. 15 Jahre später wurde meine Wohnung mit dem darüberliegenden Dachboden verbunden. Wohnungen dieser Art wurden 2013 für 360.000 Euro zum Verkauf angeboten.Ich verbinde die Geschichtemeines Mietkampfs mit der Geschichte der Stadtplanung nach der Wende, die mit der Politik der Privatisierungendie Vertreibung von Menschen mit wenig Einkommenbewirkte, und stelle meine persönlicheGeschichte so in einengesellschaftlichen Kontext.
Sie berichten dort auch, wieBauarbeiter in Ihren Keller einbrachenund Sie bestohlen, was trotz Anzeige ohne strafrechtliche Folgen blieb. Hinterließdas bei Ihnen ein Gefühl von Ohnmacht?
Geld, weil in der Kunst auch für die Beteiligung an großen Ausstellungen keine Honorare gezahlt wurden. Da traf mich der Verlust der Kohlen und meines Fahrrads, die aus dem Keller verschwanden, auch finanziell hart.
Dem Eigentümer gelang es, die Mieterinnen zu spalten und mit jeder Mietpartei andere Vereinbarungen zu treffen. Dies führte dazu, dass einige aufhörten, sich zu grüßen. Sie hatten Angst, ihre Wohnung zu verlieren, wenn sie nicht mit dem Eigentümer kooperierten.
Als Künstlerin mit geringem Einkommen konnte ich mir keine teurere Wohnung leisten. Ich hatte nicht das Geld, mehr Miete zu bezahlen. Deshalb wollte ich dort gern wohnen bleiben. Ohne Badezimmer und mit Ofenheizung kann man aber keine Modernisierungsklage
gewinnen, weil alle Wohnungen per Gesetz auf einen sogenannten Mittelklassestandard angehoben werden.
Die Modernisierung meiner Wohnung war gerichtlich angeordnet worden. Nach Abschluss der Bauarbeiten wäre die Miete um mehr als das Doppelte angestiegen. Zusammen mit den monatlich anfallenden Kosten für die Zentralheizung kam ich auf eine zirka 300-prozentige Mieterhöhung, die alle zwei Jahre um 15 Prozent hätte angehoben werden können. Das konnte ich mir nicht leisten. Daher musste ich die Wohnung mit großem Bedauern räumen. Modernisierungsklagen sind ebenso wie Eigenbedarfskündigungen dazu geeignet, Einkommensschwache gegen Einkommensstarke auszutauschen.
Momentan werden Tausende damit aus ihren Wohnungen vertrieben. Dabei muss man sich doch wundern, dass es erlaubt ist, während der Laufzeit eines Vertrags von Vermieterseite den Standard einer Wohnung gegen den Willen der Mieterin zu erhöhen und sie dafür zahlen zu lassen. Am Beispiel eines Leihautos wäre das undenkbar. Da kann der Autoverleih nicht während des Mietvertrags einen Wohnwagen an den Pkw anhängen lassen und verlangen, dass der nun auch noch vom Kunden bezahlt wird, der den Pkw gemietet hat. Bei Wohnungen soll das aber normal sein.
Eviction ist der englische Begriff für den unfreiwilligen Verlust der Wohnung. „Evictions: Art and Spatial Politics“ ist auch der Titel eines Buchs von 1996 der US-Amerikanerin Rosalyn Deutsche. Dort hat sie den Prozess, der sich gerade in Berlin abspielt, in den 90er Jahren in
New York beobachtet und beschrieben.
Der Stadtsoziologe Andrej Holm hat dazu einmal sehr richtig geäußert, dass der Grund für Gentrifizierung keinesfalls die Künstlerinnen sind. Der wahre Grund ist, dass mobiles Kapital in Immobilien investiert wird aus Angst, dass das Geld in einer Finanzkrise wertlos werden
würde.
Gibt es denn für prekär arbeitende Künstlerinnen und Künstler in Berlin keine Lobby?
Als Teil der politischen Künstlerplattform namens Haben und Brauchen habe ich mich dazu bereits mehrfach öffentlich geäußert.Der Mitbegründer von Haben und Brauchen, Florian Wüst, hat in seinem Filmvortrag im Rahmen meiner Ausstellung „Das Geschäft mit dem Wohnen“ dargestellt, wie die derzeitigen Modelle des sozialen Wohnungsbaus Instrumente der Förderung der einkommensstarken
und keinesfalls zur Förderung einkommensschwacher Menschen geeignet sind. Im Gegenteil, es ist eine Umverteilung von unten nach oben. Auch darauf will ich mit der Ausstellung aufmerksam machen.
■■Jahrgang 1968, studierte Kunst an der Hochschule für bildende Künste Hamburg. Von 1992 bis 2004 war sie Herausgeberin
des feministischen KünstlerInnenmagazins Neid.
■■Ihre aktuelle Ausstellung „Eviction“ ist bis zum 16. April im Projektraum Bethanien, Mariannenplatz 2, täglich von 12 bis 19 Uhr geöffnet.
Hilfe für Mieter
■■Bei Eigenbedarfskündigungen, Modernisierungsankündigungen und anderen Problemen mit den VermieterInnen berät die Berliner MieterGemeinschaft e. V. Beratungsstellen finden sich auf der Homepage: www.bmgev.de/beratung/beratungsstellen.html
■■Das Berliner Bündnis gegen Zwangsräumung unterstützt MieterInnen, die juristisch zur Räumung ihrer Wohnungen verurteilt wurden. Infos unter: www.berlin.zwangsraeumungverhindern.org/
■■Veranstaltungshinweis: In der Dachetage des Friedrichshain- Kreuzberg Museums in der Adalbertstraße 95a findet am 11. 4.
um 19 Uhr eine Gedenkveranstaltung für die zwangsgeräumte Rentnerin Rosemarie F. zu deren drittem Todestag statt. WeitereInfos: www.fhxb-museum.de/index.php?id=19 (now)
Transnationaler Streiktag
Über den Aktionstag am 1. März
Zum transnationalen Streiktag am 1.März gab es Aktionen in mehreren europäischen Ländern.
«Take a Walk on the Workerside» lautete das Motto eines Spaziergangs durch die prekäre Arbeitswelt in Berlin am 1.März. Organisiert wurde er von den «Migrant Strikers», einer Gruppe von italienischen Arbeitsmigranten in Berlin, den «Oficina Precaria», in der sich Kolleginnen und Kollegen aus Spanien koordinieren, und der Berliner Blockupy-Plattform, die in den letzten Jahren die Proteste gegen die Europäische Zentralbank (EZB) und die Eurokrise koordinierte.
Der Aktionstag am 1.März wurde von europäischen Basisgewerkschaften und linken Gruppen bei einem Treffen Mitte Oktober 2015 in Poznan beschlossen, bei dem über transnationale Kooperation im Arbeitskampf beraten wurde (siehe SoZ 12/2015).
Der Schwerpunkt der Aktionen lag in Spanien, Italien und Polen. Die polnische anarchosyndikalistische Arbeiterinitiative IP organisierte in mehreren Städten Kundgebungen gegen Zeitarbeitsfirmen, auf denen die dort praktizierten prekären Arbeitsbedingungen angeprangert wurden. «Wir fordern die gleichen Löhne, die gleichen Rechte und die gleichen Verträge für alle. Ob wir das durchsetzen können, hängt nicht nur von den Managern ab. Wenn wir zusammen agieren, können wir ein Wort bei der Organisation unserer Arbeit mitreden», hieß es im Aufruf der IP. Dort wurde auch auf den Kampf bei Amazon Bezug genommen und eine transnationale Perspektive gefordert. Die IP hat im Amazon-Werk in Poznan zahlreiche Beschäftigte organisiert.
In Deutschland gab es am 1.März nur in wenigen Städten Aktionen. In Dresden organisierte die FAU eine Diskussionsrunde zum Thema «Verteidigung des politischen Streiks» auf einem öffentlichen Platz. In Berlin war der Spaziergang durch die prekäre Arbeitswelt die zentrale Aktion. Startpunkt war die Mall of Berlin, die zum Symbol von Ausbeutung migrantischer Arbeit, aber auch des Widerstands dagegen wurde. Seit 15 Monaten kämpfen acht rumänische Bauarbeiter um den ihnen vorenthaltenen Lohn für ihre Arbeit auf der Baustelle (siehe SoZ 2/2015). Eine weitere Station war ein Gebäude der Berliner Humboldt-Universität. Dort sprach ein Mitglied einer studentischen Initiative, die sich für einen neuen Tarifvertrag für studentische Hilfskräfte einsetzt, über die prekären Arbeitsbedingungen im Wissenschaftsbetrieb.
An dem Spaziergang beteiligten sich auch Beschäftigte des Botanischen Gartens der FU Berlin mit einem eigenen Transparent mit Verdi-Logo. Sie sorgten in den letzten Wochen für Aufmerksamkeit, weil sie gegen die Outsourcingpläne der Unileitung kämpfen. Dazu hat sich ein Solikreis gebildet, an dem Studierende verschiedener Berliner Hochschulen beteiligt sind. In den letzten Wochen organisierte Ver.di zwei Warnstreiks im Botanischen Garten.
Es wurden am 1.März also Beschäftigte mit unterschiedlicher Gewerkschaftsorganisation angesprochen, die sich gerade in Auseinandersetzungen um Arbeitsbedingungen oder Löhne befinden. In Berlin will das kleine Vorbereitungsteam weiterarbeiten. Die nächste Aktion ist am 1.Mai geplant.
Peter Nowak
Pogida dreht sich im Kreis
Beim zehnten „Spaziergang“ der Potsdamer Pegidisten fanden sich lediglich an die 60 Abendlandretter ein – unklar ist, ob es die Aufmärsche überhaupt weiter geben wird.
Am Donnerstag war die Potsdamer Innenstadt wieder einmal weiträumig abgesperrt. Grund war der Potsdamer Pegida-Ableger „Pogida, der am 7. April knapp 60 Teilnehmer zum zehnten Mal zum „Abendspaziergang“ mobilisierte. Darunter waren auch Unterstützer aus Dresden wie Jens Lorek, der einer der Redner auf der Abschlusskundgebung war. Ein Mann, der sich als Max aus Potsdam vorstellte, wetterte gegen Geflüchtete. Ihm sei ein Bescheid zugespielt worden, aus dem hervorgehen soll, dass ein Mohammed, der in einer Unterkunft in Bad Doberan leben soll, 1004 Euro monatlich bekomme. Diese Story wurde allerdings schon vor Monaten bei Pegida-Aufmärschen in Mecklenburg-Vorpommern verbreitet.
Während die Teilnehmerzahl und der Ablauf des Pogida-Aufmarsches ebenso wie die weit höhere Zahl der Gegenproteste sich nicht von den vorherigen Pogida-Veranstaltungen unterschieden (bnr.de berichtete), wurde die Aktion erstmals von dem Potsdamer Holger Schmidt geleitet. Der bisherige Anmelder Christian Müller, der bisher alle Pogida-Aufmärsche angemeldet hatte, übertrug Schmidt, von dem nur bekannt ist, dass er im Sicherheitsgewerbe gearbeitet hat und zurzeit erwerbslos ist, diese Aufgaben.
Rat vom rechten Szeneanwalt
Er sei mit der Organisierung der Pogida-Aufmärsche überfordert und wollte sich ins Privatleben zurück ziehen, begründete Müller seine Demission. Tatsächlich droht dem mehrmals verurteilten Mann erneut Haft. Wegen Körperverletzung ist er vom Amtsgericht Potsdam zu einer einjährigen Haftstrafe verurteilt worden, die noch nicht rechtskräftig ist. Müller hofft darauf, dass die Strafe zur Bewährung ausgesetzt wird.
Bei dem Verfahren wird er von einem rechten Szeneanwalt vertreten, der ihm auch zur dazu geraten habe, seine exponierte Position bei Pogida aufzugeben. „Ich will dem Gericht beweisen, dass ich mich geändert habe“, begründete Müller gegenüber den „Potsdamer Neuesten Nachrichten“ (PNN) seinen Rückzug aus der ersten Reihe. Als Pressesprecher von Pogida will er allerdings weiterhin fungieren.
Der bisherige Sprecher Herbert Heider wurde am 7. April abgesetzt und von dem neuen Organisationsleiter Schmidt von dem gestrigen Aufmarsch ausgeschlossen. Dahinter stecken offensichtlich Querelen über die Frage, wie rechts Pegida künftig sein soll. Heider wollte den Aufmarsch auf ein neues Fundament stellen und aus dem Dunstkreis der Neonazi-Szene lösen, um anschlussfähiger zur seriösen Rechten zu werden.
Doch der Postenstreit bei Pogida könnte bald obsolet werden, weil unklar ist, ob es die Aufmärsche weiter geben wird. Gegenüber der „Märkischen Allgemeinen Zeitung“ (MAZ) bestätigte Müller: „Pogida löst sich auf“. Daher ist auch offen, ob der für den 11. Mai angekündigte erneute Aufmarsch in Potsdam überhaupt noch stattfinden wird.
aus:
http://www.bnr.de/artikel/aktuelle-meldungen/pogida-dreht-sich-im-kreis
Peter Nowak
Kann Respekt vor Staatsbediensteten gesetzlich verordnet werden?
Die aktuelle Debatte über Strafverschärfung bei Angriffen auf Polizisten und anderen staatlichen Funktionsträgern hat vordemokratische Züge
In den letzten Tagen sorgen die Machtallüren des türkischen Präsidenten Erdogan für Schlagzeilen. Dabei dürfte er von hiesigen Sicherheitspolitikern sicher beneidet werden. Auch hierzulande wird ganz deutlich mehr Respekt vor Polizei, Soldaten, Beamten aller Art gefordert. Doch dabei soll es nicht bleiben. Auch die Gesetze sollen wieder verschärft werden. Standesverbände der Polizei fordern das schon lange.
In der ARD hatte Innenminister De Maizière kürzlich härtere Strafen gegen Menschen, die Staatsbedienstete verbal beleidigen oder tätlich angreifen, ins Gespräch gebracht. Die CDU-Länderinnenminister drängen ebenfalls auf diese Verschärfungen. So erhält De Maizière Zuspruch vom Sprecher der unionsgeführten Länder. Der CDU-Innenminister von Mecklenburg-Vorpommern Lorenz Caffier, der sich gerne via Pressmitteilung als Law- and Order-Politiker präsentiert [1], ließ sich die Möglichkeit zur Profilierung nicht entgehen. Ihm sind Gesetzesverschärfungen bei Angriffen auf Polizisten schon lange ein wichtiges Anliegen.
„Damit senden wir ein klares Signal an alle potenziellen Gewalttäter in unserem Land, dass weder Politik noch Gesellschaft ihrem feigen Treiben tatenlos zusehen“, schrieb [2] Caffier bereits im Jahr 2010 zu einer von der damaligen Bundesregierung geplanten Gesetzesverschärfung für Angriffe auf Polizisten und Feuerwehrleute. Sechs Jahre später wiederholt er diesen Satz und bringt ihn erneut in die Debatte über Gesetzesverschärfungen ein.
Wertediskussion wird seit Jahrzehnten geführt
Damit wird deutlich, das Thema ist ein Dauerbrenner zur Profilierung konservativer Law- and Order-Politiker und zwar aller Parteien. Immer wieder wird von Medien und Standesorganisationen [3] moniert, dass viele Zeitgenossen der Polizei zu wenig Respekt entgegenbringen.
Das Lamento begann eigentlich schon Ende der 1960er Jahre. Die Außerparlamentarische Bewegung wurde von Konservativen für den nachlassenden Respekt gegenüber Polizisten und anderen Staatsbediensteten verantwortlich gemacht. Später waren dann die Grünen für den Werteverfall verantwortlich.
Im aktuellen Diskurs werden häufig Menschen mit Migrationshintergrund beschuldigt, keinen Respekt vor der deutschen Polizei zu haben. Dabei werden teilweise reale Vorfälle zum Aufhänger genommen, teilweise werden sie aufgebauscht, teilweise auch erfunden, um die Stimmung anzuheizen.
Body-Cams statt Namenschilder
Als scheinbare Wunderwaffe beim Kampf gegen Polizeigewalt werden nun Body-Cams als Erfolgsstory [4] angepriesen. Die bisher mit den Kameras gemachten Erfahrungen seien positiv, daher soll die gesamte Polizei damit ausgerüstet [5] werden.
Erstaunlich ist aber, dass sich die Polizeiorganisationen, die sich so vehement für Body-Cams einsetzen, sehr dagegen wehren, wenn an einem Konflikt Unbeteiligte einen Polizeieinsatz filmen oder fotografieren. Erst vor kurzem beschrieb Laura Meschede in der Taz [6], wie die Polizei verhinderte, dass sie am Münchner Hauptbahnhof einen Polizeieinsatz beobachtete und filmte. Bei dem Einsatz wurde ein Mann festgenommen. Er lag am Boden und vier Polizeibeamte saßen auf ihm.
Später erfährt sie, dass er ebenfalls eine Festnahme filmen wollte und sich trotz eines Platzverweises nicht vom Ort des Einsatzes entfernt hat. „Die Polizei überwacht den Bürger. Aber wer überwacht die Polizei?“
Diese Frage von Laura Meschede stellt sich angesichts der aktuellen Diskussion umso dringlicher. Denn die Befürworter von Body-Cams, die Gewalt gegen Polizisten dokumentieren soll, wenden sich oft auch mit großer Vehemenz gegen Namensschilder, aufgrund derer die Polizisten strafrechtlich besser zur Verantwortung gezogen werden könnten, wenn sie beim Einsatz Gesetze missachten.
Wenn nun aber in der aktuellen Debatte über Gewalt gegen die Polizei die Gewalt nicht berücksichtigt wird, die von der Polizei rührt – die hier nur als Opfer, aber nicht auch als Täter dargestellt wird – so entspricht dies einem antiquierten Staatsverständnis. Dem zufolge werden Aktionen, die von staatlicher Seite ausgehen, zunächst erst einmal als legitim angesehen. Es geht schließlich um die Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols.
Alle, die es kritisieren und sei es nur, indem sie die Polizeiaktion beobachten und transparent machen wollen, gelten als potentielle Störer, die notfalls selbst mit Polizeimaßnahmen rechnen müssen. Die völlig einseitige Diskussion über die Polizei als Opfer von Gewalt fördert eine solche vordemokratische Einstellung noch.
Wertedebatte statt Kritik an Sozialpolitik
Dabei fällt immer wieder auf, dass hier zwei Ebenen vermischt werden. Gewalt gegen Polizisten und andere Staatsbedienstete ist selbstverständlich ein Straftatbestand. Doch kann Respekt gegen staatliche Funktionsträger staatlich durchgesetzt und mangelnder Respekt strafrechtlich sanktioniert werden? Wird da nicht eher der Weg in einen Untertanenstaat beschritten?
Schließlich gab es Zeiten, wo es schon reichte, einen Polizisten böse anzuschauen oder nicht zu grüßen, um sanktioniert zu werden. Wenn der Bundesinnenminister nun erklärte, dass die geplanten Gesetzesverschärfungen nicht in diese Zeiten zurückführen sollen, ist allein das Dementi schon verräterisch. Denn warum muss das überhaupt betont werden?
Antwort: Weil hier eine Wertedebatte geführt wird und nicht Gewalt gegen Personen allgemein sanktioniert werden soll. Hier soll ein soziales Problem mit Gesetzesverschärfungen behoben werden. Das zeigt sich auch daran, dass von konservativer Seite beklagt wird, dass neben Polizisten, auch Mitarbeiter von Jobcentern und andere staatliche Institutionen beschimpft und beleidigt werden. Auch hier soll die staatliche Sanktionierung verschärft werden.
Die gesellschaftlichen Umstände werden dabei natürlich komplett ausgeblendet. Auf Jobcentern spielten sich tagtäglich Tragödien ab, wenn Hartz-Bezieher erfahren, dass sie wieder einmal sanktioniert werden, dass ihnen Geld für die Miete verweigert wird etc. Die Reaktionen sind unterschiedlich, äußerten sich auch in Wut, die dann an den Mitarbeitern ausgelassen wird. Wenige wehren sich kollektiv und gehen beispielsweise nur noch mit Begleitpersonen ihrer Wahl zum Amt. Damit sollen die Ohnmachtsgefühle auf Seiten der Betroffenen zumindest minimiert werden.
Eine solche gemeinsame Reaktion auf den Umgang der Behörden kann auch individuelle Verzweiflungstaten verhindern, die sich in Beleidigungen und Wutausbrüchen ausdrücken. Eine öffentliche Diskussion über die Ursachen, die in einer Sozialpolitik liegen, die viele Betroffene als Entrechtung begreifen, findet kaum statt.
Stattdessen wird daraus ein Problem des mangelnden Respekts gemacht, dem mit Gesetzesverschärfungen begegnet werden soll. Die Folgen wären aber nur, dass Menschen, die gesellschaftlich schon diskriminiert wird, noch mehr unter Druck geraten. Sie wären mit Gerichtsprozessen und mit Strafbefehlen, die sie nicht bezahlen können, konfrontiert. Am Ende bliebe nur das Gefängnis als Ort, wo die delinquenten Menschen verwahrt werden.
Vom Wert des Menschen
Aktuell läuft in Programmkinos der sehenswerte Film Der Wert des Menschen [7], der gut zeigt, wie Menschen in der Verwertungsmaschinerie zugerichtet werden. Am Beginn beschwert sich der Protagonist, ein Familienvater über 50 bei seinem Fallmanager vom Jobcenter über die sinnlosen Bewerbungsmaßnahmen. Mehrmals betont er, dass er Monate damit vergeudet habe, obwohl außer ihm allen klar war, dass er damit keinen Job bekommen kann.
„So können sie nicht mit Menschen umgehen“, sagt er mehrmals. Er wird laut. Dem Jobcenter-Mitarbeiter gelingt es, ihn zu beruhigen, er hat aber keinen anderen Rat für ihn, als jetzt nach vorne zu blicken und sich erneut zu bewerben.
Schließlich wird der Mann Kaufhausdetektiv und muss Menschen, die kein Geld haben für eine ausreichende Ernährung der Polizei ausliefern. Hätte der erwischte Ladendieb das Geld, um die Ware zu bezahlen, blieb ihm die Anzeige erspart. Am Ende muss er auch noch die Kaufhausmitarbeiterinnen kontrollieren. Jede kleine Verfehlung bedeutet die Kündigung.
Nachdem eine langjährige Kassiererin daraufhin an ihrem Arbeitsplatz Selbstmord verübte und das System des Überwachens und Strafens einfach weiterläuft, reicht es dem Protagonisten und er verlässt seinen Arbeitsplatz. Er hatte den Respekt vor sich selber verloren und erkannt, dass er trotz der vielen Zwänge des Alltags, durch Kredite und Hypotheken einen Bruch machen musste. Für ihn ist der Satz „So können sie mit Menschen nicht umgehen“ gültig, universell. Dieser Film ist ein guter Kommentar zur aktuellen Wertedebatte und zeigt, dass die Durchsetzung von Gesetzen staatlich verordnet werden kann, nicht aber Respekt.
Zudem könnte die beobachtete Zunahme von Gewalt gegen Funktionsträger des Staats auch Anlass für die Frage sein, die der Filmprotagonist am Anfang stellt: Können wir so mit Menschen umgehen?
http://www.heise.de/tp/news/Kann-Respekt-vor-Staatsbediensteten-gesetzlich-verordnet-werden-3164931.html
Peter Nowak 07.04.2016
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„Es ist nur eine weitere Etappe im Kampf der EU gegen Geflüchtete“
Das EU-Abkommen mit der Türkei steht in einer Tradition, die zeigt, dass es für Europa Wichtigeres gibt als Menschenrechte
Am 4.April wurde die zwischen der EU und der Türkei vereinbarte Übereinkunft zur Flüchtlingsrückführung erstmals umgesetzt [1]. Warnungen von zahlreichen Menschenrechtsorganisationen [2], aber auch von UN-Organisationen wurden ignoriert. Denn für den Großteil der verantwortlichen Politiker, einschließlich der bis weit ins linke Milieu mit Lob bedachten Bundeskanzlerin Merkel, ist das Abkommen dann ein Erfolg, wenn die Zahlen der Migranten in Kerneuropa zurückgehen.
Der Verweis auf die vorenthaltenen Menschenrechte schlägt schon deshalb fehl, weil diese Rechte schon lange keine große Rolle mehr in der Flüchtlingsfrage spielen. Es ist dem vielfältigen Widerstand der Migranten zu verdanken, dass die Umsetzung des Abkommens schon am zweiten Tag ins Stocken geriet, weil sie Asylanträge gestellt haben, die dann erst noch abgelehnt werden müssen, was wohl eher eine bürokratische Formsache als ein echter Schutz der Menschen ist.
Dass das EU-Türkei-Abkommen sich in die Politik der europäischen Flüchtlingsabwehr der vergangenen Jahre einreiht, wurde am Montagabend auf einer von der Zeitschrift Bürgerrechte & Polizei/ CILIP [3] organisierten Veranstaltung deutlich. Sie stand unter dem bezeichnenden Motto „Europas Staatsgewalten gegen Migration“.
Dort hat Cilip-Redakteur Heiner Busch deutlich gemacht [4], dass das Ziel der EU schon seit Jahren die Flüchtlingsabwehr [5] ist und nicht die Wahrung der Menschenrechte von Geflüchteten. Auch ein Geflüchteter, der in verschiedenen Netzwerken aktiv ist, erklärte: „Der Vertrag der EU mit der Türkei ist nur die Fortsetzung des jahrelangen Kampfes der EU gegen Geflüchtete.“
Zahlreiche afrikanische Diktaturen als Schutzraum für die Festung Europa
So hat die Vereinbarung der EU mit der Türkei viele Vorläufer. Mit zentralen nord- und westafrikanischen Staaten hat die EU ähnliche Vereinbarungen geschlossen, welche die Migranten stoppen sollen. Vor dem sogenannten arabischen Frühling hat auch Libyen unter Gaddafi für einige Zeit die Rolle des Grenzwächters gespielt. Wobei man Berichten von in dieser Zeit in Libyen lebenden Migranten, die sich später in den Gruppen Lampedusa Berlin [6] und Lampedusa Hamburg [7] organisiert hatten, entnehmen kann, dass ihr Leben unter Gaddafi in Lybien wesentlich besser war als danach und auch besser als in vielen von der EU hofierten nordafrikanischen Ländern, einschließlich Marokko aktuell.
Die Menschenrechte wurden in den meisten der Grenzwächterstaaten nicht sonderlich ernst genommen und EU störte sich nicht daran. Daher ist es auch nicht besonders verwunderlich, dass bei den EU-Türkei-Vereinbarungen die diktatorischen Momente in der türkischen Innenpolitik kein Hinderungsgrund waren. Die Referenten bei der Cilip-Veranstaltung beklagten eine historische Amnesie, die den aktuellen Deal zwischen EU und Türkei zum Sündefall der EU stempeln und die Vorgeschichte unterschlagen.
Remember 06.Februar 2014
Ein Grund dafür ist das Fehlen eines gemeinsamen europäischen Gedächtnisses, das sich der Gewalt gegen Migranten bewusst ist. Es sei daher auch nicht gelungen, gemeinsame europäische Gedenktage zu etablieren. So ist in Spanien der 6. Februar 2014 für Flüchtlingsorganisationen und Antirassismusgruppen ein solcher Gedenktag. In Deutschland ist der Termin kaum bekannt.
An diesem Tag hatten Migranten versucht, die Grenze der spanischen Enklave Ceuta zu überwinden. Die spanische Polizei schoss auf die Menschen und tötete mindestens 14 Migranten [8]. Bis heute ist keiner der verantwortlichen Polizisten strafrechtlich zur Verantwortung gezogen worden. Doch die Flüchtlingsorganisationen und die Angehörigen der Getöteten geben ihren Kampf um Gerechtigkeit nicht auf.
Spätestens im Jahr 2017 wollten sie erneut die Initiative ergreifen, um die Verantwortlichen für das Blutbad im Jahr 2014 zur Verantwortung zu ziehen. Schon Jahre vorher war bekannt geworden, dass die spanische Polizei immer wieder brutal gegen Migranten vorgeht. Die Grenze zwischen Spanien und Marokko wird auch der tödliche Zaum von Melilla [9] genannt.
Grenzsicherung statt Menschenrettung
Am Beispiel des Programms Mare Nostrum, das wesentlich von der italienischen Regierung getragen und finanziert wurde, zeigte Heiner Buch die Grundlage der EU-Flüchtlingspolitik auf. Mare Nostrum hatte die Rettung der Menschen in den Mittelpunkt gestellt und war darin auch sehr erfolgreich Es lief aus, weil außer Italien kein weiterer EU-Staat sich an der Finanzierung beteiligen wollte.
Danach lag der Fokus wieder bei der Grenzsicherung und Flüchtlingsabwehr. Diesem Ziel dient auch das Abkommen mit der Türkei. Daher kann man der EU nicht vorwerfen, sie habe nicht eine klare Agenda in der Flüchtlingspolitik. Das Gerede über den europäischen Sündenfall erweist sich dagegen als inhaltslose Phrase.
http://www.heise.de/tp/news/Es-ist-nur-eine-weitere-Etappe-im-Kampf-der-EU-gegen-Gefluechtete-3162749.html
Peter Nowak
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Bundeswehr und ihre Gegner liefern sich Schlacht um die Plakatwände
Die Bundeswehr sucht mit „starken Antworten“ nach Mitarbeitern und hat unter dem Motto „Bunte Vielfalt nicht nur im Schuhregal“ auch Frauen im Visier
Auf Litfaßsäulen, in Zeitungen und auf Häuserwänden findet sich nicht nur Werbung für Reisen und Handys. Auch die Bundeswehr ist unter die Werbeträger gegangen. Seit die Wehrpflicht abgeschafft wurde, will sie via Werbung neue Mitarbeiter gewinnen. Daher präsentiert sich die Bundeswehr als Arbeitgeber[1].
Dort wird der Verantwortliche für die neue Kampagne mit den sinnigen Namen Dirk Feldhaus so zitiert. „Junge Menschen fragen heute immer mehr nach dem Sinn ihrer Arbeit und was ihnen diese neben einem Einkommen eigentlich bringt. Darauf haben wir in der Bundeswehr starke Antworten.“ Allerdings sind vor allem junge Menschen angesprochen, die schon das neoliberale Leistungsdenken verinnerlicht haben. Denn Feldhaus erinnert daran: „Kaum ein anderer Arbeitgeber bildet ein so breites Aufgabenspektrum ab und fordert zugleich so viel von seinen Arbeitnehmern.“ Dass der Job sogar das eigene Leben kosten könnte, braucht dann nicht extra erwähnt zu werden.
Da man in der Bundeswehr natürlich mit der Zeit geht, gehören auch Frauen zu der Zielgruppe der Bundeswehr-Werbung. Unter dem Motto „Bunte Vielfalt nicht nur im Schuhregal“[2] soll gezeigt werden, dass die Bundeswehrstiefel durchaus neben bunten Stöckelschuhen stehen können. Dabei kann der Bundeswehr zumindest Ehrlichkeit nicht abgesprochen werden. So wird gleich am Anfang klargestellt, dass es der Bundeswehr nicht um Frauenemanzipation geht, wenn sie Frauen für mehr weibliche Bundewehrmitarbeiterinnen werben lässt.
Die Bundeswehr braucht Nachwuchs. Seit der Aussetzung der Wehrpflicht muss sie sich wie ein ziviler Arbeitgeber auf dem Markt behaupten und um Nachwuchskräfte werben. Dabei setzt sie gezielt auch auf qualifizierte, junge Frauen, denn ihr Anteil in den Streitkräften soll größer werden.
Diese Offenheit soll natürlich einerseits den Kritikern den Wind aus den Segeln nehmen. Das Argument, dass es der Bundeswehr nur um ihren Nachwuchs geht, brauchen sie gar nicht zu bemühen, wenn sie genau zum Ausgangspunkt ihrer Werbung macht. Damit kann ihr eben auch nicht mehr vorgeworfen werden, sie verberge ihre Interessen hinter Phrasen von Emanzipation. Zudem wissen die Menschen, die die Bundeswehrwerbung koordinieren, dass sie damit ihre Zielgruppe eher verprellen würden. Es sind sicher nicht die Frauen, für die Emanzipation wichtig ist, die sich bei der Bundeswehr bewerben.
Bundeswehr-Werbung nicht modern genug?
Wie in großen Unternehmen schreibt auch Generalleutnant Born von der Personalabteilung beim Verteidigungsministerium den Frauen, „ganz eigene Qualitäten und Stärken von denen wir als Bundeswehr gerne mehr profitieren möchten“ zu. Interessant ist dann auch, wie die Geschlechterrollen bei der Werbung funktionieren. Für die allgemeine Erklärung ist ein Mann zuständig. Gezielt angesprochen werden sollten Frauen für den Arbeitgeber Bundeswehr allerdings von schon aktiven Soldatinnen. “ Frauen werben Frauen“ lautete das Motto, schließlich wissen Frauen am besten, was Frauen wollen, heißt es auf der Bundeswehr-Homepage. Die Kampagne wurde in Medien wie dem Spiegel[3] ein antiquiertes Frauenbild vorgeworfen.
Die Kampagne suggeriert zwei Dinge: Frauen werden nicht wegen ihrer Fähigkeiten gesucht, sondern weil sie gut aussehen. Zweitens: Frauen interessieren sich nur für Schuhe, Kleider und ihr Aussehen. Sie sind immer auch als Mutter im Einsatz. Und: Frauen sind nicht im normalen Arbeitsalltag, in der Normalität mit Männern und anderen Frauen abgebildet. Hinzu kommt: Dass auch um einen Dienst an der Waffe geworben wird, dass Frauen auch Panzer fahren oder Kampfjets fliegen, davon findet sich in der Kampagne nichts. Die Werber scheinen sich bemüht zu haben, dass dieser Gedanke bei der Betrachterin möglichst gar nicht erst aufkommt. Die Bundeswehr als Wellnessveranstaltung.Spiegel
Doch fraglich ist, ob sich die Bundeswehrwerber bei der Klientel wirklich blamiert haben, wie das Magazin unterstellt. Vielleicht sollen ja gerade Frauen mit einen eher konservativen Rollenbild angesprochen werden? Außerdem erschöpft sich die Spiegel-Kritik darin, sie erreiche mit ihrer zu konservativen Kampagne nicht das weibliche Reservoire in Gänze aus, weil sich ja Frauen mit modernen Rollenbildern nicht angesprochen fühlen könnten. Das ist nun keine Kritik an der Bundeswehr, sondern im Gegenteil ein Aufruf auf einen noch erweiterten Zugriff.
Bundeswehr-Werbung mit Binnen-I und auf Umweltschutzpapier?
Nun ist die Frage wahrscheinlich für die Bundeswehr-Werbeabteilung, die über einige Geldmittel verfügt[4] so irrelevant nicht. Schließlich druckte auch die linksliberale Taz Bundeswehrwerbung und da könnte eine geschlechtersensible Sprache und Darstellung den gewünschten Erfolg erhöhen.
Vielleicht sollte auch noch auf ökologische Aspekte eines Jobs bei der Bundeswehr hingewiesen werden Allerdings hat die Mehrheit der kritischen Taz-Leser nicht etwa das große Binnen-I- in den Anzeigen vermisst, sondern sieht den angeblich antimilitaristischen Grundkonsens des Blattes verletzt[5]. Sollte es den je gegeben haben, dürfte der aber spätestens der Vergangenheit angehören, seit Kommentatoren Militäreinsätze in Jugoslawien und anderswo befürworteten.
Einem antimilitaristischen Grundkonsens verpflichtet sind eher die unbekannten Menschen, die in den letzten Monaten verstärkt, Bundeswehrwerbung sabotieren[6]. Die Aktionen reichen von Farbattacken auf Bundeswehrplakate[7] bis zur Kreierung eigener Plakate, die den kritisierten Werbeproduktenähneln[8]. Manchmal sind Original und Kopie auf den ersten Blick zu erkennen, aber es gibt auch Plakate, die für Irritationen sorgen.
Es gibt Bundeswehrgegner die auf Aufklärung setzen und auf Blogs[9] Argumente liefern, warum die Bundeswehr ihrer Meinung nach kein Arbeitgeber wie jeder andere ist. Oft wird allerdings nur mitgeteilt, dass ein Bundeswehr-Plakat entfernt wurde. Erst vor wenigen Tagen haben sich unbekannte Bundeswehrgegner zu einer solchen Aktion in mehreren Berliner Stadtteilen bekannt[10].
Die Vielfalt der Aktionen gegen die Bundeswehr-Werbung, die unter dem Schlagwort Adbusting zusammengefasst wird, zeigt, dass hier ein ganz neues Aktionsfeld für Bundeswehrkritiker entstanden ist. Es wird seit Jahren festgestellt, dass die Ostermärsche, die auch letzte Woche in vielen Städten Abrüstung forderten, Schwierigkeiten haben, junge Menschen anzusprechen Die Gründe sind vielfältig. Manchen sind die Aktionen zu traditionell. Manche wollen da nicht neben Menschen mitlaufen, die das russische Militär nicht genau so kritisieren, wie das der USA. Doch die Adbusting-Aktionen machen auch deutlich, dass sich längst neue Felder einer Militarismuskritik im Allgemeinen und einer Bundeswehrkritik im Konkreten aufgetan haben.
http://www.heise.de/tp/artikel/47/47854/1.html
Peter Nowak
Anhang
Links
[1]
http://www.bundeswehr.de/portal/a/bwde/!ut/p/c4/NYu7DsIwEAT_yGfLBYIuIQ0FDUUgNMhJTuGEH9FxwQ0fj12wK00zu3CH0ug-tDihFJ2HGwwTHcasxjyjci_Z0Ht8q4wkyPiQJwaMcK3HMphSRKkUjEKFCztJrNbE4qvZmItRNMOgTdeanf7HfBvbH_dna3V3ai-whtD8AJn_ogo!/
[2]
http://www.bundeswehr.de/portal/a/bwde/!ut/p/c4/NYu7DsIwEAT_yBfLRQQdwQ0tDcQNcpJTOOFHdFxww8djF-xK08wuOKhN_kOrF8rJB7jDONNxKmoqCyr_kh1DwLcqSIKMD3lixAS3dqyDOSeURsEkVLmyl8xqyyyhmZ25GkULjJ22g-67f_T3YJw9u94YexmusMV4-gEvUKXx/
[3]
http://www.spiegel.de/politik/deutschland/bundeswehr-werbekampagne-fuer-frauen-blamiert-von-der-leyen-a-994997.html
[4]
http://www.fr-online.de/politik/-mach–was-wirklich-zaehlt–so-viel-kostet-die-bundeswehr-werbung,1472596,32889988.html
[5]
http://schuleohnemilitaer.com/2015/11/13/keine-werbung-fuer-die-bundeswehr-in-der-taz/
[6]
https://chronik.blackblogs.org/?p=1918
[7]
https://chronik.blackblogs.org/wp-content/uploads/sites/109/2015/12/160034.jpg
[8]
http://maqui.blogsport.eu/2016/01/11/bundeswehr-werbung-zerstoert-was-bringt-es/
[9]
http://www.machwaszaehlt.de/
[10]
http://linksunten.indymedia.org/en/node/174391
Tarifeinheit: Gesetz ohne Anwendung
Ende 2016 entscheidet Karlsruhe über umstrittene Regelung
»Hände weg vom Streikrecht, für volle gewerkschaftliche Aktionsfreiheit«, lautete im letzten Jahr das Motto einer Kampagne von Sparten- und Basisgewerkschaften gegen das Tarifeinheitsgesetz. Es sieht vor, dass bei konkurrierenden Gewerkschaften in einem Betrieb, nur die Organisation mit den meisten Mitgliedern einen Tarifvertrag abschließen kann. Den Minderheitengewerkschaften bleibt dieses Recht versagt. Dagegen mobilisierten die Kritiker, doch ohne Erfolg. Am 22. Mai 2015 beschloss der Bundestag das Tarifeinheitsgesetz.
Heute, ein Dreivierteljahr nach Inkrafttreten, ist nicht viel damit passiert. »Das Gesetz wurde bisher nicht angewendet. Daher planen wir im Augenblick keine Aktionen«, bestätigte Willi Hajek gegenüber »nd«. Der Basisgewerkschafter war im letzten Jahr an der Kampagne gegen das Tarifeinheitsgesetz beteiligt. »Die Diskussion wird wieder aufflammen, wenn Gewerkschaften außerhalb des DGB für einen Tarifvertrag kämpfen«, ist Hajek überzeugt.
»GDL droht die Entmachtung«, hatte die »Frankfurter Rundschau« bald nach der Verabschiedung des Gesetzes getitelt. Damals befand sich die Lokführergewerkschaft in einer Tarifauseinandersetzung mit der Deutschen Bahn und hatte mehrfach zum Streik aufgerufen. Die GDL konnte letztlich eine Vereinbarung durchsetzen, die die Anwendung des Tarifeinheitsgesetzes bis 2018 ausschließt. Die DGB-Eisenbahnergewerkschaft EVG hat in den meisten Bereichen des Unternehmens mehr Mitglieder.
Spätestens Ende 2016 wird das Gesetz noch einmal Thema. Dann will das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe über die Verfassungsbeschwerden entscheiden, die Spartengewerkschaften wie der Marburger Bund, die GDL und der Deutsche Journalistenverband gegen das Gesetz eingereicht hatten.
Rolf Geffken ist zuversichtlich, dass das Tarifeinheitsgesetz gekippt wird. In einer im VAR-Verlag erschienenen Broschüre unter dem Titel »Streikrecht, Tarifeinheit, Gewerkschaften« hat der Arbeitsrechtsanwalt Argumente für seine Position zusammengetragen. Er weist den Monopolanspruch des DGB zurück. Eine einheitliche Gewerkschaftsbewegung könne im Tarifkampf durchaus von Vorteil sein. Doch die müsse von den Mitgliedern getragen an der Basis entstehen und könne nicht durch gesetzliche Maßnahmen verordnet werden, betont Geffken.
Folgen die Richter seiner Argumentation, könnte das Tarifeinheitsgesetz juristisch gestoppt werden. Die Mobilisierung dagegen hatte auch darunter gelitten, dass Vorstände der DGB-Einzelgewerkschaften außer der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di, der NGG und der GEW das Tarifeinheitsgesetz unterstützt hatten. Die Gegenkampagne wurde von Gewerkschaftslinken, den Spartengewerkschaften aber auch Basisgewerkschaften wie der Freien Arbeiterunion (FAU) getragen.
Die Berliner FAU-Sekretärin Jana König weist gegenüber »nd« darauf hin, dass es neben der Tarifeinheit zahlreiche Möglichkeiten gibt, Gewerkschaftsrechte einzuschränken. So wurde der Berliner FAU Ende März unter Androhung von bis zu 250 000 Euro Strafe oder ersatzweiser Haft von bis zu sechs Monaten für die amtierende Sekretärin untersagt, den Namen eines Restaurants in Berlin-Mitte zu nennen, von dem ein Gewerkschaftsmitglied ausstehende Löhne einfordert.
Peter Nowak