Das Buch ermöglicht vielseitige Einblicke in kurdische Kämpfe rund um Rojava – auf allen Ebenen.
Der Kampf um die kleine Grenzstadt Kobanê in der Provinz Rojava hat vor einigen Monaten auch hierzulande der schon tot geglaubten internationalen Solidarität neue Impulse gegeben. Allein in Berlin sammelten nicht nur zwei Bündnisse Geld „Waffen für Rojava“: Zahlreiche Clubs und Veranstaltungslokalitäten schlossen sich zum Bündnis „Nachtleben für Rojava“ zusammen, um zivile Projekte in der syrischen Provinz zu unterstützen.
Der Kampf der YPG-Einheiten brachte nicht nur dem sogenannten Islamischen Staat (IS) die erste wichtige Niederlage. Er zeigte einer Linken, die sich von dem Ende des Nominalsozialismus noch immer nicht erholt hat, dass die viel beschworene andere Welt nicht nur eine Floskel ist. Mittlerweile hat das Interesse an Rojava zumindest in Deutschland wieder nachgelassen. Es ist eine gute Zeit, um ein erstes Resümee zu ziehen. Der Politwissenschaftler Ismail Küpeli hat im Verlag Edition Assemblage kürzlich unter dem Titel „Kampf um Kobanê“ ein Buch herausgegeben, das diesen Anspruch einlöst. 16 Autorinnen und Autoren schreiben über sehr unterschiedliche politische und soziale Aspekte, die mit dem Kampf um Kobanê im Zusammenhang stehen.
Leider gehört gleich der erste Aufsatz des Sozialökonomen Sebahattin Topçuoğlu nicht zu den stärksten Beiträgen des Buchs. Schließlich konzentriert er sich in seinem kurzen Einblick in die kurdische Geschichte auf die Historie der „großen Männer“, statt die Kämpfe der unteren Klassen in den Blick zu nehmen.
Auch was der Autor zur aktuellen Situation schreibt, ist höchst zweifelhaft. So schreibt er über Abdullah Öcalans Vorstellungen von Selbstverwaltung und Feminismus:
„Die Ideen Öcalans werden unter anderem auch deshalb international in linksgerichteten Kreisen diskutiert, weil sie sich klar gegen Kapitalismus und Nationalstaat positionieren. In Bezug auf Staatlichkeit nehmen seine Ideen zum Teil unrealistische bzw. utopische und anarchistische Züge an“ (S. 22).
So bleib Topçuoğlu am Ende der nun wahrlich nicht besonders analytische Gedanke: „Kurd_innen waren die Verlierer des 20. Jahrhunderts in der Region. Das 21. Jahrhundert bietet ihnen nun die Möglichkeit, bei der Neugestaltung der Region als Gewinner_innen hervorzugehen“ (S.23). Informativer ist der Beitrag von Ulf Petersen, der die auch in linken Kreisen häufig verbreitete Behauptung wiederlegt, dass die PYD (die kurdische „Partei der Demokratischen Union“) sich nicht an der Opposition gegen das Assad-Regime beteiligt habe. Dabei habe diese sich nur geweigert, das Regime auch um den Preis einer islamistischen Herrschaft zur stürzen. „Seit dem Kampf um Kobanê 2014/15 ist allerdings deutlich geworden, dass die PYD und die Selbstverwaltung wirklich einen eigenen Weg gehen“, (S.28) schreibt Petersen.
Der Kampf der Frauen geht nicht um westliche Werte
Eine Stärke des Buches besteht darin, dass die große Mehrheit der AutorInnen aus Türkei und Kurdistan kommen und daher sehr wichtige Detailinformationen vermitteln, die in der Diskussion hierzulande kaum bekannt sind. Das gilt beispielsweise für den Aufsatz der Soziologin Dinar Direkt, die sich mit der Rolle der Frauen in Rojava befasst und dabei eine scharfe Kritik an einer romantisierenden Berichterstattung vieler Medien äußert:
„Indem die Frauen als mysteriöse Amazonen erotisiert werden, werden sie dem kapitalistischen Wertesystem entsprechend politisch sterilisiert und vermarktet. Doch in Anbetracht der radikal-demokratischen politischen Ziele der in Rojava kämpfenden Frauen, ist es fraglich, ob der Mainstream und seine Modezeitschriften, die den Kampf kurdischen Frauen nun für ihre eigenen Zwecke aneignen, auch die Gedanken dieser mutigen Kämpferinnen zu unterstützen bereit sind. Immerhin steht die Ideologie, die diese Frauen antreibt, auf der Terrorliste der Türkei, USA und EU“ ( S. 38).
Direkt erinnert auch daran, dass der Kampf der Frauen in Kobanê in einer längeren Tradition steht.
„Erst wenn man sich mit der Position und den organisatorischen Praktiken der PKK befasst, ist es möglich, die Massenmobilisierung der Frauen in Kobanê zu verstehen. Sie ist nicht aus dem Nichts entstanden, sondern beruht auf bestimmten Prinzipien und betrachtet sich als die Weiterführung der Tradition, die die Frauen der PKK angefangen haben“ (S. 47).
Direk kritisiert auch eine Position, wie sie in feministischen Kreisen zu hören ist. Demnach kämpfen die Frauen in Rojava, um einer patriarchalen Gesellschaft zu entkommen. Für die Soziologin wird damit oft vergessen, dass die Frauen klare politische Positionen haben, die sie zu ihren Kampf motivieren. Allerdings kann eine Frau sich eine feministische Perspektive in der Auseinandersetzung mit der patriarchalen Gesellschaft, in der sie lebt, erarbeitet haben. Scharf zurückweist Direk auch die These, mit den feministischen Bezügen würden die Frauen in Rojava um westliche Werte kämpfen. Die Autorin erinnert daran, dass die kurdischen TheoretikerInnen der Frauenbefreiung sich explizit gegen den westlichen Feminismus wenden, den sie als ungenügend und unvollständig bezeichnen.
Der Wissenschaftler Lokman Turgut geht in seinem kurzen Abriss über die Geschichte der PKK bis in die späten 1960er Jahre zurück, als Versammlungen des Osten, in verschiedenen Städten stattfanden. Diese Versammlungen, die 1967 in verschiedenen kurdischen Städten organisiert wurden. Einberufen wurden sie von linken kurdischen Gruppen. Thematisiert wurde die Unterentwicklung der Osttürkei. Gefordert wurde die politische und ökonomische Gleichheit mit den anderen Teilen des Landes.
Damals wurde erstmals in größerem Umfang thematisiert, dass Kurdistan eine türkische Kolonie ist. Diese Ansätze spielten in verschiedenen linken Gruppen, die es in den 1970er Jahren in der Türkei und Kurdistan gab, und später dann auch in der PKK, eine wichtige Rolle. Die kurz zusammengefasste Übersicht über die Vorgeschichte der PKK könnte LeserInnen dazu ermutigen, hier weiter zu forschen. Bisher gab es auch in PKK-nahen Kreisen oft nur eine etwas mythologische Geschichtsschreibung, die mit dem Beginn des bewaffneten Kampfes 1984 begann, als ein Großteil der türkischen Linken von der Militärdiktatur ermordet, verfolgt, ins Gefängnis geworfen oder ins Exil getrieben worden war.
PKK eine stalinistische Organisation?
In seiner Zusammenfassung geht Turgut mit einer auch in Teilen der hiesigen Linken häufig bemühten PKK-Rezeption hart ins Gericht. „Die Bewertung der PKK als stalinistische oder marxistisch-leninistische Organisation, oder Versuche sie durch ihre jeweiligen einzelnen Ziele zu beschreiben, würde es verfehlen, die PKK umfassend und treffend einzuordnen“ (S. 64). Einige Seiten später vertritt der Journalist Christian Jakob in seinem Aufsatz über die PKK in den ersten zwei Jahrzehnten nach ihrer Gründung folgende Klassifizierung: „eine kurdisch-nationalistische, autoritäre, zentralistische Kaderpartei“. Allerdings betont Jakob, wie zahlreiche andere AutorInnen, dass die PKK später einen Bruch mit autoritären Politikvorstellungen vollzogen hat, die wesentlich von Öcalan vorangetrieben wurden, der wiederum von den Ideen des Anarchisten Muray Bookchyn beeinflusst ist. Die Lesart von der autoritären, ja stalinistischen PKK hatte sich bereits vor mehr als 30 Jahren in großen Teilen der außerparlamentarischen Linken in der BRD durchgesetzt. So stehen sich in dem Buch zwei Positionen gegenüber. Kurdische und türkische Linke, sehen schon in der Politik der frühen PKK viele Elemente enthalten, die die Politik bis heute bestimmen. Deutschsprachige Linke betonen den Bruch zwischen der stalinistischen und der libertären Phase. Hier spielt sicher die notwendige Kritik an autoritären oder stalinistischen Politikmodellen eine Rolle. Aber ein anderer Aspekt darf dabei nicht vernachlässigt werden. Die außerparlamentarische Linke der BRD kann sich über die sicher notwendige Zerstörung von Diskursen kaum andere Aktionsfelder vorstellen. Wie aber mehrere AutorInnen in dem Buch gut darstellen, war das Ziel der PKK ein Bruch mit dem Kolonialstatus in Kurdistan, aber auch eine innerkurdische Revolution, die sich gegen die eigene Bourgeoisie richtete. Ein solches Ziel setzt auch eine gewisse politische Organisierung voraus, die schnell als autoritär kritisiert werden kann. Es sollte aber nicht vergessen werden, dass auch bewaffnet kämpfende anarchistische Verbände wie die FAI in der spanischen Revolution keine basisdemokratischen Strukturen hatten.
Auch die Journalistin Hanna Wettig begründet in ihrem ansonsten informativen Aufsatz über die syrische Opposition in einer Fußnote, warum sie den Begriff Rojava in ihren Text nicht verwendet.
„Die Eigenbezeichnung ‚Rojava‘ wird hier nicht benutzt, da es sich nach Ermessen der Autorin nicht um eine Eigenbezeichnung der kurdischen Bevölkerung handelt, sondern um einen von der PYD in die politische Debatte eingeführten Begriff. Kurdinnen und Kurden, die sich jenseits der PYD politisch engagieren, benutzen diesen Begriff nicht oder nur spöttisch, einige lehnen ihn vehement ab“ (S. 126).
Nun hat Wettig aber nicht ausgeführt, wie hoch der Teil der Bevölkerung ist, die diesen Terminus ablehnt. Allerdings ist es auch ein Pluspunkt des Buches, das es eben auch solch kritische Beiträge neben Aufsätzen stehen lässt, die sehr eindeutig für den politischen Prozess in Rojava Partei ergreifen. Die LeserInnen haben so die Möglichkeit, sich selber ein Bild zu machen. Zudem hat die Geschichte von gesellschaftlichen Umbrüchen und Revolutionsversuchen gezeigt, dass eine kritiklose Betrachtungsweise schnell zu Enttäuschungen und oft zum Rückzug aus dem politischen Engagement führt. Eine Solidarität, die um diese Probleme weiß, die schon von Beginn an auch den kritischen Blick auf die eigene Seite wirft, ist heute notwendig. Das von Küpeli herausgegebene Buch kann einen Beitrag dazu leisten. Allerdings hätte man sich noch ein Kapitel gewünscht, dass die fortdauernde Repression gegen linke kurdische Strukturen in Deutschland noch einmal thematisiert. Neben der Türkei ist Deutschland mit dem PKK-Verbot das Land, das bis heute die kurdische AktivistInnen heftig bekämpft und kriminalisiert.
Zum Buch
Ismail Küpeli (Hg.) 2015:
Kampf um Kobanê. Kampf um die Zukunft des Nahen Ostens.
Edition Assemblage, Münster.
ISBN: 978-3-942885-89-8.
168 Seiten. 16,80 Euro.
http://kritisch-lesen.de/rezension/biji-rojava-biji-kobane
Peter Nowak