Studie verbindet Fußballpatriotismus mit prekären Arbeitsverhältnissen
Je bedrohter die eigene soziale Situation, desto stärker ist die Identifikation mit Fußball-Deutschland. Zu diesem Ergebnis kommt die Berliner Sozialpsychologin Dagmar Schediwy in ihrer Studie zum wieder erstarkten Patriotismus rund um den deutschen Fußball.
Wenn heute Abend die deutsche Elf in Charkow gegen die Niederlande spielt, werden Deutschlands Straßen wieder in Schwarz-Rot-Gold getaucht sein. Anders als bei den vergangenen großen Fußball-Events ist die Beflaggung aber heute in den Medien kein großes Thema mehr.
Da ist es besonders bemerkenswert, dass die Berliner Sozialpsychologin Dagmar Schediwy kürzlich im Lit-Verlag den deutschen Fußballpatriotismus aus sozialpsychologischer Perspektive untersucht. Der Anlass war ein Schock, als die damalige Studentin während der WM 2006 zwischen feiernde Fußballfans geriet und mit Erschrecken die nationalen Symbole entdeckte. „Ich konnte mich noch an die WM 1974 erinnern, als es diese Flaggen nicht gab und wollte die Gründe für die Veränderung untersuchen“, erklärte die Autorin gegenüber nd ihre Motive für das Thema, obwohl sie sich nicht als Fußballbegeisterte versteht.
Schediwy hat Interviews auf Fanmeilen in verschiedenen deutschen Städten bei den Weltmeisterschaften 2006 und 2010 sowie den Europameisterschaften 2008 durchgeführt.
Sie hat bei der Fußball-WM 2006 insgesamt 113 Person, bei der EM 2008 78 und bei der Fußball-WM 2010 55 Personen befragt. Einziges Kriterium für die Auswahl der Interviewpartner, waren schwarz-goldene Fahnen, Wimpel, Schals oder andere Accessoires.
Wissenschaftliche Pionierarbeit leistete Schediwy mit ihren Link zwischen dem Anwachsen des Fußballnationalismus seit 2006 und der zunehmenden Entsicherung der Lebens- und Arbeitsverhältnisse vieler Menschen, die mit der Einführung der Agenda 2010 einen Höhepunkt erreichten. Dabei erinnert die Autorin daran, dass nicht nur Erwerbslose und Menschen im Niedriglohnsektor, sondern auch viele Selbstständige diese Prekarisierung in ihrem Alltag immer mehr zu spüren bekommen. .
Fußball und Nation werden dann zur Zuflucht. Mit Rückgriff auf die Theorien der Frankfurter Schule schreibt Schediwy: „Die Abhängigkeit von ökonomischen Zwängen denen sich die Mehrheit der Arbeitenden aus Gründen des wirtschaftlichen Überlebens anpassen muss, lässt sie zum Ausgleich für ihre gekränkte Selbstachtung zum Opium des Kollektivstolzes greifen“. Schließlich habe die Nation in Krisenzeiten den psychologischen Vorteil, dass Zugehörigkeit nicht verloren gehen kann, so die Autorin. „Während eine Stelle gekündigt und ein Vermögen verschwinden kann, bleibt die Zugehörigkeit zur Nation für die bereits Zugehörigen bestehen“, so Schediwy
Wenn die befragten Fußballfans ganz selbstverständlich erklären, wir werden Weltmeister, dann wird deutlich, wie die Mechanismen funktionieren. Mit dem „Wir“ ist dann nicht nur die Fußball-Elf sondern Deutschland. Daher beteuern die fahnenschwenkenden Fans auch immer zu Deutschland zu stehen. Schediwys durch die Befragungen unterfütterten Thesen zum Zusammenhang von Krisenbewusstsein und Fußballnationalismus sollten auch nach der EM weiter diskutiert werden, denn der nächste Event zum Flagge zeigen kommt bestimmt.
https://www.neues-deutschland.de/artikel/
229548.fahnenschwenken-als-krisenbewaeltigung.html
Peter Nowak
Dagmar Schediwy, Ganz entspannt in Schwarz-Rot-Gold?
Der Neue deutsche Fußballpatriotismus aus sozialpsychologischer Perspektive, Lit-Verlag,
Bd. 1, 2012, 384 S., 34.90 EUR, br., ISBN 978-3-643-11635-2
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