»Nicht nur auf Europa und die USA sehen«

MAX HENNINGER ist Redakteur der Netzzeitschrift »Sozial.Geschichte Online«. Gemeinsam mit dem Historiker Peter Birke hat er im Verlag Assoziation A das Buch »Krisen Proteste« herausgegeben. Darüber sprach mit ihm PETER NOWAK.

nd: Der Titel Ihres Buches hat eine ungewöhnliche Schreibweise: »Krisen Proteste«. Will die Getrenntschreibung ausdrücken, dass Sie keinen Zusammenhang zwischen beidem sehen?
HENNINGER: Es gibt jedenfalls keinen mechanischen Zusammenhang. In dem Buch geht es auch um Regionen, beispielsweise Ostafrika, die zwar stark von den sozialen Folgen der Krise betroffen sind, bislang aber nicht durch Proteste von sich reden gemacht haben. Gleichzeitig stellt sich in manchen Ländern auch die Frage, wie sich Protestbewegungen, die bereits vor Ausbruch der Krise aktiv waren, im Zuge der Krise verändern. Das gilt beispielsweise für die in vielen Ländern seit Beginn des Jahrtausends zu verzeichnenden Studierendenproteste.

nd: Ein Aufsatz widmet sich der Ernährungskrise in Afrika südlich der Sahara. Gibt es die nicht viel länger als die Finanzkrise?
M.H.: Zu oft wird nur auf Europa und die USA gesehen. Dabei waren die Proteste gegen die Verteuerung von Grundnahrungsmitteln, zu denen es 2007 und 2008 in mehr als dreißig asiatischen, afrikanischen und lateinamerikanischen Ländern gekommen ist, die erste globale Antwort auf die sich aus der Krise ergebenden Hunger- und Spardiktate. Auf Haiti führten die Proteste im April 2008 zum Sturz der Regierung von Jacques-Édouard Alexis. Die Food Riots gehören aber auch zur Vorgeschichte der Aufstände in Tunesien, Ägypten und anderen arabischen Ländern

nd: Als Beispiel für Krisenprotste in Deutschland wird im Buch e die Hamburger Recht auf Stadt-Bewegung und die Besetzung des Gängeviertels in den Mittelpunkt gestellt. Wo ist der Zusammenhang zu den Krisenprotesten?
M.H.: Aus meiner Sicht reagieren nicht nur Bewegungen, deren Themen ausdrücklich die Krise thematisieren, auf die Krisenfolgen. Das Protestgescheneh in Deutschland ist relativ zersplittert. Anhand dieser stadtpolitischen Bewegung lässt sich zeigen, wie die Kris hierzulande in einer eher schleichenden Verschlechterung der Lebensverhältnisse vieler Menschen spürbar wird.

nd: Man kann die verschiedenen Proteste in der Welt in einem Buch zusammenbringen, die realen Krisenproteste noch hauptsächlich nationalstaatlich organisiert. Sehen Sie transnationale Bezugspunkte?
M.H.: Es gibt eine transnationale Diffusion der Proteste. Die Food Riots von 2007/08 und das Übergreifen der tunesischen Revolte auf andere arabische Länder sind Beispiele dafür. Die US-amerikanische Occupy-Bewegung hat auch Impulse aus Ländern wie Ägypten und Spanien aufgenommen. Dennoch scheitern Versuche, die Übertragung von Protestbewegungen aus einem nationalen Kontext in den anderen zu organisieren, oft an der Unterschiedlichkeit der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse. Allein in Europa besteht ein sehr ausgeprägtes Gefälle zwischen Zentrum und Peripherie. Um nur ein Beispiel herauszugreifen: In Spanien liegt die Jugenderwerbslosigkeit bei rund 40 Prozent, in Deutschland unter zehn Prozent. Diese unterschiedliche Ausgangslage erschwert zunächst einmal gemeinsame Kämpfe.

nd: Ein Kommentar zu den Krisenprotesten hierzulande?
M.H.: Die raum-zeitliche Entkoppelung von Krisenpolitik und Krisenfolgen für die Linke ein zentrales Problem darstellt, das keineswegs durch bloße Appelle zu bewältigen ist.
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229587.nicht-nur-auf-europa-und-die-usa-sehen.html
Interview: Peter Nowak