Die Berliner Sozialpsychologin Dagmar Schediwy erklärt das verstärkte Nationalfahnenschwenken mit der Zunahme prekärer Arbeits- und Lebensbedingungen
Seit Freitag ist Deutschland wieder Schland geworden. Schwarzrotgolde Fähnchen sind mittlerweile Alltag. Nachdem in den letzten Jahren viele Artikel verfasst wurden, die sich mit dem nun nicht mehr so neuen Fußballpatriotismus befassen, scheint das Interesse nachzulassen. Deswegen ist es besonders bemerkenswert, dass die Berliner Sozialpsychologin Dagmar Schediwy auch im Jahr 2012 ein Buch zum neuen deutschen Fußballpatriotismus aus sozialpsychologischer Perspektive herausbringt. Die Wissenschaftlerin hat dort die Ergebnisse zahlreicher Befragungen von Fußballfans veröffentlicht. Sie hat die Interviews auf Fanmeilen in verschiedenen deutschen Städten bei den Weltmeisterschaften 2006 und 2010 sowie den Europameisterschaften 2008 durchgeführt.
Mythos vom postmodernen Fußballnationalismus?
Dabei hat sie einige der Thesen hinterfragt, die in den letzten Jahren auch von kritischen Intellektuellen zum Thema Fußballnationalismus verfasst worden sind. Es handele sich um einen postmodernen, spielerischen Umgang mit dem Nationalfahnen, so eine der Thesen. Schediwys Interviewpartner meinten es überwiegend sehr Ernst mit dem Patriotismus. Das zeigte sich schon an der Wortwahl, mit der sie ihr Fahnenschwenken begründen. Häufig wurde die Formulierung gewählt, dass man mit damit zu seinem Land stehe. Vor allem in der Bildzeitung wurden die Fans darauf mit Tönen eingestimmt, die die Metapher vom lockeren Patriotismus in Frage stellen. „In einer Art Selbstaffirmations-Offensive propagierte Deutschlands auflagenstärkstes Boulevardblatt eine ‚Ja zu Deutschland‘-Haltung, die gegen alle historischen Zweifel immunisieren sollte“, schreibt Schediwy und liefert einige Beispiele. So hieß es in einem Kommentar in Gedichtform am 8.6.2006:
„Die Welt kommt zu uns,
Wer sind wir?
Wir sind wir!
Wir sind Deutschland!
Ja zu Schwarz-Rot-Gold!“
Wenige Tage später veröffentlichte die Bildzeitung In- und Out-Listen, die keinen Zweifel ließen, dass deren Deutschlandbekenntnis nicht von postmodernen Anwandlungen angekratzt ist. Out waren demnach „Snobs, die zu eitel sind, sich die Deutschlandfahne ins Gesicht zu malen oder „Zwitter-Fans, die auf der linken Wange für die eine, auf der rechten für die andere Mannschaft sind“, denn „echte Fußballliebe kennt keine 50 Prozent“ liefert das Blatt gleich die Begründung nach. Welche Folgen ein solches unbedingtes Freund-Feinddenken haben kann, zeigte sich bei der letzten WM in Hannover, als ein deutscher Fußballfan zwei Italiener erschossen hat, mit denen er zuvor in Streit geriet, weil einer ein Trikot der italienischen Teams trug. Zudem konnte der Deutschlandfan auch den Fakt nicht ertragen, dass das italienische Fußballteam insgesamt viermal und Deutschland dreimal Weltmeister war.
Fußball und Nation, die letzte Zuflucht?
Wissenschaftliche Pionierarbeit leistete Schediwy mit der von ihr gezogenen Verbindung zwischen dem Anwachsen des Fußballnationalismus seit 2006 und der fast zeitgleichen Entsicherung der Lebens- und Arbeitsverhältnisse vieler Menschen, die mit der Einführung der Agenda 2010 einen Höhepunkt erreichten. Aber auch viele Selbstständige bekommen die Verunsicherung zu spüren. Je bedrohter die eigene soziale Situation, desto stärker ist die Identifikation mit Fußball-Deutschland, so Schediwys Fazit. „Die Nation hat in Krisenzeiten den psychologischen Vorteil, dass Zugehörigkeit nicht verloren gehen kann. Während eine Stelle gekündigt und ein Vermögen verschwinden kann, bleibt die Zugehörigkeit zur Nation für die bereits Zugehörigen bestehen“, so die Sozialpsychologin.
Man kann kritisieren, dass Schediwy bei ihrer Erklärung für das nationale Fußball-Coming-out den Fall der Mauer und die Wiedervereinigung vernachlässigt, obwohl damals schon Schwarz-Rot-Gold auch ohne Fußball auf den Straßen zu sehen war. Zudem überbewertet sie die kritische Haltung zur deutschen Nation, wie sie in Teilen der Nach-68er-Generation anzutreffen war. Sie spricht dabei sogar von einer „Nie wieder Deutschland“-Haltung, die allerdings nie eine relevante gesellschaftliche Strömung gewesen ist. Doch ihre durch die Befragungen unterfütterten Thesen zum Zusammenhang von Krisenbewusstsein und Fußballnationalismus sollten weiter diskutiert werden.
http://www.heise.de/tp/blogs/6/152165
Peter Nowak