Über die Herbstmonate war auf dem Mittelstreifen des Boulevards Unter den Linden in Berlin-Mitte eine aufschlussreiche Open-Air-Ausstellung zu sehen: …
… „Immer modern – Berlin und seine Straßen“. Am Beispiel verschiedener Berliner Straßen wurde gezeigt, wie Politik und Wirtschaft den Fußverkehr immer mehr an den Straßenrand gedrängt haben, damit das Automobil freie Fahrt hat. In der Ausstellung war zu erfahren, dass es Ende der 1920er Jahre noch weiter gehende Pläne gab, Berlin automobilgerecht umzubauen. Die Weltwirtschaftskrise verhinderte die Durchführung dieser menschenfeindlichen Vorhaben.
Doch das NS-Regime, das von Anfang an die Unterstützung der Automobilkonzerne hatte, führte den rigorosen Automobilkurs dann fort. Nach der Niederlage des Nationalsozialismus, auch das zeigte die Ausstellung, gingen Ost- und Westberlin zunächst getrennte Wege. Während im Westteil der Stadt bald wieder Vorfahrt für das Auto auf allen Straßen das Motto war, gab es im Ostteil zumindest Versuche, dem öffentlichen Nahverkehr Vorrang vor dem Automobil zu geben. Die großen Boulevards waren eher für die Aufmärsche des demobilisierten und verstaatlichen Proletariats als für den Autoverkehr vorgesehen. Doch spätestens seit den 1970er Jahren setzte auch die DDR-Nomenklatura vermehrt auf die Autoproduktion, was sicher auch dem Druck aus der Bevölkerung geschuldet war.
Vom Hassobjekt zum Statussymbol
Als Ergänzung zu der Ausstellung, die seit Ende November nur noch online zu sehen ist, empfiehlt sich die Lektüre des Buches „Das Auto und die ökologische Katastrophe“. Der in Wien lebende Philosoph Kilian Jörg legt die Hintergründe dar, die dazu führten, dass sich der Automobilismus weltweit durchsetzen konnte. Dabei war das Auto noch zu Anfang des 20. Jahrhunderts in großen Teilen der Bevölkerung überhaupt nicht beliebt, wie Jörg anhand zeitgenössischer Texte zeigt. Vor über 100 Jahren war es gefährlich, in proletarische Gegenden mit dem Auto zu fahren. Denn dort galt das Auto als Symbol der Mächtigen und Reichen, die man möglichst nicht bei sich haben wollte.
Hier hätte sich gerade für die aufsteigende Bewegung der ArbeiterInnen und ihre Organisationen eine Alternative zum kapitalistischen Automobilismus geboten: ein öffentliches Verkehrssystem, in dem statt auf Egoismus auf Gemeinschaftlichkeit gesetzt wird. So hätte auch der Irrweg der Erdölnutzung vermieden werden können, was technisch durchaus möglich gewesen wäre. „In London gab es bereits 1897 eine gesamte Taxiflotte, die komplett elektrisch lief, und 1900 war ein gutes Drittel aller amerikanischen Autos elektrisch – ein weitaus höherer Wert als heute“, schreibt Jörg.
Wie das noch bis in die 1920er Jahre vom Proletariat gehasste Auto trotzdem zum weltweiten Statussymbol werden konnte, und das auch noch mit Benzin und Diesel als besonders umweltzerstörenden Energiequellen, schildert der Autor in seinem Buch mit profundem historischem und philosophischem Wissen. Dabei verschweigt er nicht die Rolle der Autokonzerne wie Daimler und Ford und deren Einfluss auf die Politik. Einige wie Ford waren frühe Förderer von Faschismus und Nationalsozialismus, die den Automobilismus besonders vorantrieben.
Noch bis in die 1980er Jahre wurde von Teilen der westdeutschen Bevölkerung den Nazis – und oft Hitler persönlich – positiv angerechnet, er habe ja immerhin die Autobahnen gebaut. Davon abgesehen, dass es Zwangsarbeiter und zum Arbeitsdienst gepresste Proletarier waren, die für die Autobahn schuften mussten, zeigt Kilian Jörg, dass die historischen Fakten auch sonst diesen Nazimythos widersprechen. „Die Pläne für das heute meistens Hitler zugesprochene Autobahnnetz Deutschlands lagen bereits seit den 1920er Jahren in den Schubladen der Weimarer Republik“, so der Autor, es habe aber in der von den Sozialdemokraten dominierten demokratischen Ordnung nie genug Stimmen für die Umsetzung gegeben.
Faschismus als Förderer
Jörg zeigt, dass die faschistische Herrschaft den automobilen Kapitalinteressen im wahrsten Sinne des Wortes mit brutaler Gewalt den Weg bahnte. Aber damit allein ließe sich der Siegeszug des Automobilismus nicht erklären, der ja auch in anderen Ländern stattfand und nach der Zerschlagung des Nationalsozialismus in Westdeutschland fortgesetzt wurde. Jörg verweist auf die philosophischen Grundlagen, nach denen der Automobilismus als „modern“ galt. Hier sind wir wieder bei der eingangs erwähnten Ausstellung „Immer modern“. Was wahrscheinlich vielen zunächst als positive Beschreibung erscheint, wird ideologiekritisch gewendet, wenn man das Buch liest.
Jörg beschreibt, wie die Nazis es schafften, „den Bau des weltweit ersten nationalen Autobahnnetzwerks als gesamtdeutsches Projekt mit großer populärer Zustimmung zu verkaufen“. Der Autor geht dabei auf „mechanistisch-faschistoide Männlichkeitsbilder“ ein, die weltweit zum Siegeszug des Automobilismus gehörten (Rabe Ralf August 2023, S. 23). Es ist ein Vorzug des Buches, dass der Autor nicht nur aus seinem philosophischen Wissen schöpft. Er verweist auch öfter auf Filme und Songtexte, in denen die Ideologie des Automobilismus gut zum Ausdruck kommt.
Zudem streut Jörg immer wieder seine ganz persönlichen Beziehungen zum Automobilismus ein. Denn er ist kein Autohasser und beschreibt sehr plastisch, wie er manchmal auch selbst der Faszination des Automobils erliegt. In einem eigenen Kapitel geht er sogar darauf ein, dass in den USA das Auto für Schwarze eine emanzipatorische Funktion hat, weil sie sich damit ohne die Gefahr rassistischer Angriffe bewegen können. Das ist auch die Grundlage für ihre politischen Aktionen in verschiedenen Städten. Man könnte natürlich fragen, ob das nicht auch für arme und proletarisierte Menschen gilt, die damit Möglichkeiten zur Mobilität haben, die sie ohne Auto kaum hätten, solange das öffentliche Verkehrssystem so heruntergewirtschaftet ist.
Generalkritik an der Aufklärung
Auch Jörgs Generalkritik an der Aufklärung könnte Gegenstand kritischer Debatten sein. Stellenweise wird recht unkritisch einem Naturmythos das Wort geredet: „Während unzählige AufklärerInnen die Abkehr von Animismus und Spiritualismus predigen, ist es heute schwer, noch irgendetwas Animistisch-Lebendiges oder Spirituelles in den endlosen Monokulturfeldern und Autobahndreiecken des Homogenozäns zu entdecken.“ Auch der positive Bezug auf den reaktionären Dampfplauderer Peter Sloterdijk fällt auf.
Die von Jörg formulierten Utopien, die sich vor allem auf temporäre autonome Zonen und besetzte Plätze beziehen, sind keine Alternativen für die große Mehrheit der Menschen auf unserem Planeten. Die Utopie einer nichtkapitalistischen Gesellschaft, die von einem Rätesystem getragen wird, das über die Produktion von Gütern und die Nutzung von Bodenschätzen rational entscheidet, ist bei Jörg nicht zu finden. Trotzdem ist das Buch auch für die KritikerInnen lesenswert und wäre eine gute Diskussionsgrundlage über die Utopie einer Gesellschaft jenseits des Kapitalismus und seinem Automobil.
Peter Nowak
Kilian Jörg:
Das Auto und die ökologische Katastrophe
Utopische Auswege aus der autodestruktiven Vernunft
Transcript Verlag, Bielefeld 2024
390 Seiten, 24 Euro
ISBN 978-3-8376-7408-8
Kostenloser Download: www.transcript-verlag.de/978-3-8376-7408-8
https://www.grueneliga-berlin.de/publikationen/der-rabe-ralf/aktuelle-ausgabe/rezensionen-29/