Susanne Torka ist seit Jahrzehnten engagiert für das nachbarschaftliche Zusammenleben in Moabit und hat sich in diversen Initiativen mit Nachbar/innen für den Kiez eingesetzt.

Den Politiker/innen auf die Füße treten

Es ist vor allem schwieriger, Menschen für eine länger dauernde Aktivität zu gewinnen. Sie engagieren sich für ganz bestimmte Ziele, gucken aber oft nicht darüber hinaus und fragen sich nicht, was für den Stadtteil gebraucht wird, auch über die unmittelbar eigenen Interessen hinaus. Da fragte ein Bewohner, der sich für mehr Verkehrsberuhigung einsetzte, warum überhaupt noch ein Bus durch die Lehrter Straße fahren muss. Da dachte ich mir: Weiß er denn nicht, wie wichtig der öffentliche Nahverkehr für viele Menschen ist?

MieterEcho: Der Trägerverein des B-Ladens hat den ungewöhnlichen Namen „Verein für eine billige Prachtstraße – Lehrter Straße e.V.“. Wann war die Lehrter Straße denn eine Prachtstraße oder ist das Ironie?

Susanne Torka: Der Name hat eine geschichtliche Dimension, weil die Lehrter Straße vor dem Zweiten Weltkrieg sehr lebendig war. Es gab damals mehr als 40 Kneipen in der Straße. Dafür sorgte u. a. das preußische Militär, das hier stationiert war. Teile der Militärgebäude stehen heute noch. 

Wie lebten denn damals die Mieter/innen in der „Prachtstraße“ Lehrter Straße?

Das war nicht anders als in anderen Berliner Kiezen. Es gab die typischen Bürgerhäuser. In den Vorderhäusern gab es die „Belle Etage“ mit Fabrikanten und Offizieren, aber auch Handwerker, Kneipen und viele Geschäfte. In den Hinterhäusern lebten arme Menschen in erbärmlichen, ungesunden Wohnungen, wie damals überall in Berlin. Mit dem Vereinsnamen, den sich Klara Franke ausgedacht hat, wollten wir ausdrücken: „Die Lehrter Straße muss nach der Sanierung eine Prachtstraße mit bezahlbaren Mieten werden.“ Das war und ist uns immer noch ganz wichtig. 

Wer ist diese Frau, auf deren Namen man rund um die Lehrter Straße gleich zweimal stößt?

Klara Franke wird auch liebevoll Kiezmutter genannt, weil sie sich über Jahrzehnte für die Lehrter Straße und Moabit eingesetzt hat. Sie lebte über 60 Jahre in der Straße und engagierte sich in vielen Initiativen. Sie war Betriebsrätin bei Gegenbauer. Dort lernte sie Frauen aus der Türkei kennen, die dort putzten und in der Lehrter Straße wohnten. Franke konnte gut mit Menschen kommunizieren und spielte eine zentrale Rolle dabei, sie zum Engagement zu motivieren. In der geteilten Stadt war die Gegend in Mauernähe nicht besonders attraktiv. So zog sie z. B. in den 1980er Jahren durch Studentenkneipen in Kreuzberg und informierte junge Menschen, dass es in der Lehrter Straße viele leere Wohnungen gibt. Einige Kreuzberger ließen sich überzeugen und zogen dann hier ein. Das war ihr Beitrag, sich gegen Leerstand der Wohnungen einzusetzen und die Straße wieder lebendig zu machen. Sie starb 1995 beim Essen in der damals neuen Pizzeria in der Lehrter Straße.

Wie wird die Erinnerung an Franke lebendig gehalten?

In der Lehrter Straße ist der Spielplatz neben der Kulturfabrik, der durch ihre Beharrlichkeit entstanden ist, nach ihr benannt. Auch die Erschließungsstraße des Neubauquartiers „Mittenmang“ im Mittelbereich östlich der Lehrter Straße trägt ihren Namen. Zudem vergibt der Verbund für Nachbarschaft und Selbst­hilfe Moabit alle zwei Jahre den Klara-Franke-Preis an Personen, die sich wie sie für den Stadtteil engagieren – als Anerkennung der Frau, deren Motto lautete: „Wenn Du was erreichen willst, musst Du den Politikern auf die Füße treten.“ Davon lassen wir uns in unserer Arbeit bis heute leiten.

Der B-Laden wurde 1988 gegründet. Was war damals in der Lehrter Straße los?

Die Häuser sollten für den Bau der Westtangente und die Erweiterung des Polizeistandorts abgerissen werden. Sie wurden von der Stadt Berlin aufgekauft. An den Häusern wurde nichts mehr repariert, aber sie hatten günstige Mieten. So zogen damals auch viele Menschen mit „migrantischem Hintergrund“ hier ein. Doch die Westtangente – seit 1965 im Flächennutzungsplan – ist nie gebaut worden. Es gab massiven Widerstand dagegen, vor allem in Schöneberg, aber auch in anderen Teilen der Stadt. Nachdem das Projekt Westtangente vom Tisch war, fiel auch der geplante Abriss weg. 1985 gab es das erste selbstorganisierte Straßenfest in der Lehrter Straße. Ab 1988 war Stadterneuerung das Thema und die sollte unter Beteiligung der Bewohner/innen stattfinden. 1989 wurde der erste Betroffenenrat gewählt. Der B-Laden ist 1990 als Ort entstanden, wo sich die Menschen aus der Nachbarschaft treffen können. Ein Jahr später eröffnete in unmittelbarer Nähe die Kulturfabrik.

Was hat sich nach der Maueröffnung für Sie geändert? 

Zunächst nicht viel. Wir sahen nur in den ersten Tagen erstaunte Menschen aus dem Osten, die bei uns vorbeikamen und nicht wussten, ob sie schon im Westen oder noch in der DDR waren, wegen der alten noch unsanierten Häuser mit Balkonen ohne Boden. Dann wurde die geplante Sanierung des Poststadions bei uns zurückgestellt, weil es nach 1989 andere Prioritäten gab. Doch die Sanierung der Häuser und der Umbau der Lehrter Straße fanden in den 1990er Jahren statt. Und neue Sozialwohnungen wurden durch EVM eG und GEHAG gebaut.

Wann haben Sie gemerkt, dass auch hier die Gentrifizierung beginnt?  

Im Kleinen begann das schon vor 2006, als der Berliner Hauptbahnhof eröffnet wurde. Mein Haus wurde in Eigentumswohnungen umgewandelt, die GEHAG wurde privatisiert. Es gab viele Proteste gegen Hotels, besonders beim Bau des a&o-Hotels. Unsere Forderung war: „Die Lehrter Straße soll eine Wohnstraße bleiben.“ Damit konnten wir uns nicht durchsetzen, aber verhindern, dass noch weitere Hotels errichtet wurden.

Da war sicher die Heidestraße in der unmittelbaren Nachbarschaft ein Negativbeispiel.

Die Grundstücke dort wurden von der Bahn verkauft. Es gab Zwischennutzung durch Galerien, aber hauptsächlich war dort Gewerbe, mindestens 200 Arbeitsplätze in der Logistik, Autoschrauber, Lebensmittelhändler. Wir wollten die Gewerbetreibenden noch interviewen, aber das kam nicht mehr zustande, weil die dann ganz schnell verschwanden. Die Heidestraße ist tatsächlich ein Beispiel, wie es keinesfalls laufen darf. 

Warum haben Sie die Initiative „Wem gehört Moabit?“ gegründet?

Sie trifft sich nicht mehr in der ursprünglichen Zusammensetzung. Aber sie beteiligt sich seit Ende 2011 am Runden Tisch gegen Gentrifizierung in Moabit, der jeden zweiten Dienstag im Monat diskutiert, wie die Selbstorganisation der Mieter/innen in Moabit vorangetrieben werden kann. Dort geht es auch immer um konkrete Probleme von Bewohner/innen im Stadtteil. Wir versuchen sie zu unterstützen und planen Öffentlichkeitsarbeit und Aktionen. 

Was ist aktuell Ihr größtes Problem bei der Stadtteilarbeit?

Wir Aktiven sind alle schon älter und wollen unsere Erfahrungen weitergeben. Wir brauchen jüngere Menschen, die unsere Arbeit fortsetzen. Wir hoffen mit der Einrichtung einer Nachbarschaftsküche neue Menschen anzusprechen. Die Vorbereitungen für den Bau laufen demnächst an. Neue Gruppen können den B-Laden nutzen.

Ist es heute schwerer Menschen für die Mitarbeit zu gewinnen als bei der Gründung?

Es ist vor allem schwieriger, Menschen für eine länger dauernde Aktivität zu gewinnen. Sie engagieren sich für ganz bestimmte Ziele, gucken aber oft nicht darüber hinaus und fragen sich nicht, was für den Stadtteil gebraucht wird, auch über die unmittelbar eigenen Interessen hinaus. Da fragte ein Bewohner, der sich für mehr Verkehrsberuhigung einsetzte, warum überhaupt noch ein Bus durch die Lehrter Straße fahren muss. Da dachte ich mir: Weiß er denn nicht, wie wichtig der öffentliche Nahverkehr für viele Menschen ist?

Wie sieht es mit der Finanzierung der Arbeit aus?

Wir arbeiten von Anfang an alle ehrenamtlich. Die ersten paar Jahre gab es Aufwandsentschädigungen für Arbeiten wie Protokolle schreiben, Kasse führen und Laden putzen. Aber das haben sich die Vereinsmitglieder nie auszahlen lassen, sodass wir 10 Jahre später auch zwei Haushaltssperren überstehen konnten. Bis 2007 konnten wir auch Gelder für ein Straßenfest beantragen. Die Finanzierung der Ladenkosten von danach 3.400 Euro im Jahr aus dem Etat für Stadtentwicklung des Bezirks wurde durch die BVV 2016 aufgestockt. Seitdem sind es im Jahr 6.000 Euro. Leider ist diese Finanzierung ab Jahresbeginn 2025 nicht mehr gesichert, wie uns mitgeteilt wurde. Wir hoffen, dass die Finanzierung über eine andere Schiene weiterlaufen wird. Aber es ist ärgerlich, dass wir uns jetzt auch noch darum kümmern müssen.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Peter Nowak.

Susanne Torka ist seit Jahrzehnten engagiert für das nachbarschaftliche Zusammenleben in Moabit und hat sich in diversen Initiativen mit Nachbar/innen für den Kiez eingesetzt.

Der „Runde Tisch gegen Gentrifizierung“ trifft sich jeden 2. Dienstag um 19 Uhr im Stadtschloss Moabit, Rostocker Straße 32, 10553 Berlin