Auch in den europäischen Städten sind die Versammlungsräume überfüllt, wenn der japanische Philosophieprofessor Kohei Saito seinen in vielen Sprachen übersetzten Bestseller „Systemsturz. Der Sieg der Natur über den Kapitalismus.“ vorstellt. Als der auch zeitweise an der Berliner Humboldtuniversität lehrende Saito Anfang September das Buch in Berlin vorstellte, waren die Plätze schnell ausgebucht. Tausende verfolgten die Ausführungen des japanischen Professors digital. Darunter sind auch viele Klima-Aktivist*innen, die bisher Marx und seine Theorien eher mit den umweltschädlichen Produktivismus als mit Umweltbelangen in Verbindung brachten. Ganz falsch, sagt Kohei Saito. In Wirklichkeit sei Marx ein …
… Degrowth-Kommunist. Dabei stützt sich der Philosoph auf die schon längere bekannte Tatsache, dass sich Marx, nachdem der erste Band des Kapitals veröffentlicht worden war, wieder in die Bibliothek begab und dort auch zahlreiche zeitgenössische Schriften von Naturwissenschaftlern gelesen hat. Vor allem mit den Schriften des Chemikers Justus von Liebig beschäftigte sich Marx sehr viel, wie aus seinen schriftlichen Aufzeichnungen hervorgeht, die sich Marx von der Lektüre machte. Aus den Exzerpten zitiert Kohai Saito in dem Buch ausführlich.
Weniger bekannt ist, dass der Biologe Karl Nikolas Fraas, ein Zeitgenosse von Marx, auch von diesem ausgiebig gelesen wird. Saito vertritt die These, dass sich der späte Marx durch diese Lektüre eine ökologische Perspektive verschaffte, die es ihm unmöglich gemacht hätten, die weiteren Bände des Kapital in der geplanten Form zu veröffentlichen. Über den Überlegungen, wie er seine neuen Erkenntnisse in sein Werk einbauen könnte, wäre er gestorben. Friedrich Engels habe aber diese ökologische Wende von Marx ignoriert, als er den zweiten und vor allem dem dritten Band des Kapital zusammenstellte.
So wurde Marx als grosser Freund der grösstmöglichen Entwicklung der Produktivkräfte bekannt und nicht als Degrowth-Kommunist, als der ihn Kohai Saito vorstellt. Gleich mehrmals erwähnt er, dass er der erste sei, der ihm dieses Etikett verpasste. Da wird man den Eindruck nicht los, dass sich der Autor mit Marx im Hintergrund selber besonders in den Mittelpunkt stellt. Dem Buchverkauf ist das auf jeden förderlich. Was durchaus positiv zu bewerten ist, denn die Lektüre des Buches führt auch dazu, dass vor allem jüngere Klima-Aktivist*innen sich verstärkt mit Marx zu beschäftigten beginnen, die vorher wenig mit ihm anfangen konnten. Sie sollten auf jeden Fall nicht versäumen, auch die Texte von Marx zu lesen, die Kohai Saito verwirft oder kritisiert. Dann können sie selber nachvollziehen, ob Marx nun zum Degrowth-Kommunisten wurde, oder ob das nur eine nichtbegründete These ist.
Es stimmt auf jeden Fall und ist auch schon länger bekannt, dass Marx sich im letzten Lebensabschnitt mit Fragen von Natur und Umwelt intensiv befasst hat. Dass er dann aber zu Antworten gekommen sein soll, die wie der Degrowth-Kommunismus erst in den letzten Jahrzehnten entwickelt wurden, muss doch bezweifelt werden. Hier geht der Autor wenig materialistisch davon aus, dass Modelle, die als Ausweg für eine hoch entwickelte Industriegesellschaft diskutiert werden, schon im Frühkapitalismus ihre Bedeutung gehabt haben sollen. Welche Wirtschaft aber sollte in einer Zeit geschrumpft werden, als der Kapitalismus noch in den Anfängen war? Und welche Bedeutung hatten solche Konzepte des Degrowth-Kommunismus in der frühen Sowjetunion, wo eine Industrialisierung ja auch ein wichtiger Schritt aus der Verarmung war.
Kohai Saito zitiert berechtigterweise den Brief von Marx an die russische Sozialrevolutionärin Vera Sassulitsch, in der er klarstellte, dass die russische Mir, eine Art Dorfgemeinschaft, am Weg zum Sozialismus eine wichtige Rolle spielen kann. Das bedeutet aber umgekehrt nicht, dass auf die gesamte Industrialisierung hätte verzichtet werden können. Eine rein agrarische Gesellschaft wäre auf jeden Fall aus der blossen Subsistenz nicht herausgekommen. Erst in einer Gesellschaft, in der unmittelbare Grundbedürfnisse befriedigt sind, kann sinnvoll über einen Degrowth-Kommunismus diskutiert werden. Ein grosser Pluspunkt von Kohai Saito ist es, dass er seine Thesen in einer gut verständlichen Sprache rüberbringt. Das Buch kann auch problemlos von Menschen gelesen werden, die noch nie einen Marx-Text gelesen haben.
Kohei Saito begründet auch sehr gut, warum es keinen grünen Kapitalismus geben kann. Auch Saitos Kritik am Akzelerationismus, der linken Technikbegeisterung, ist sehr gelungen.
Konkrete Vorschläge sehr allgemein
Das Problem des Buches liegt darin, dass die konkreten Schritte beim Weg zum Kapitalismus im letzten Teil sehr beliebig sind. Es wird nicht begründet, was die Forderungen nach Bürgerräten wie in Frankreich praktiziert oder die Ausrufung des Klimanotstands in Barcelona mit dem Kommunismus zu tun haben sollen. Das spricht natürlich überhaupt nicht gegen diese Forderungen. Man könnte sie als Übergangsforderungen definieren, mit denen grössere Bevölkerungsteile registrieren, dass der Kapitalismus keine Lösung ist.
Doch was im Buch fehlt, ist eine kommunistische Strategie und Taktik, die verhindert, dass die Bürgerräte wie in Frankreich einfach ignoriert werden oder das im Buch hoch gelobte Modell Barcelona nach den Wahlen von konservativen Parteien wieder abgewickelt wird. Es ist eine merkwürdige Diskrepanz in dem Buch zwischen der im ersten Teil begründeten Option für den Degrowth-Kommunismus und den reformerischen Vorschlägen im Anschluss. Ein Schwachpunkt ist auch, dass die Lohnabhängigen in dem Buch nur eine untergeordnete Rolle haben.
Sicherlich finden sich in den fünf Säulen zum Degrowth-Kommunismus sinnvolle Forderungen nach Verkürzung der Arbeitszeit und auch der Arbeiter*innenkontrolle im Betrieb. Doch über die notwendige Organisierung der Lohnabhängigen, um diese Forderungen durchzusetzen, liest man nichts. Vielleicht liegt das auch daran, dass sich Saito mehrmals positiv auf den Ökosozialisten Andre Gorz bezieht, der in den 1970er Jahren mit dem Bestseller „Abschied vom Proletariat“ bekannt und auch bei den Grünen der ersten Jahre viel rezipiert wurde. Doch ein Degrowth-Kommunismus müsste gerade nicht Abschied vom Proletariat nehmen sondern im Gegenteil eine transnationale Organisierung des Proletariats propagieren. Davon liest man bei Saito ebenso wenig wie darüber, wie man mit den militanten Verteidiger*innen des Kapitalismus im Allgemeinen und der fossilen Produktionsweise im Besonderen umgehen soll.
So lässt das Buch immerhin die Chance, dass sich viele junge Menschen und Klima-Aktivist*innen mit Marx und dem Kommunismus beschäftigten. Über den Weg dahin wird dann kollektiv in konkreten Kämpfen entschieden.
Peter Nowak