Hien Wolfgang, Obenland Herbert, Birke Peter, Das andere 1968 – von der Lehrlingsbewegung zu den Auseinandersetzungen am Speyer-Kolleg 1969-72, Verlag Die Buchmacherei, Berlin 2022, ISBN: 978-3-9823317-37

Linke Geschichte dem Vergessen entrissen

In Speyer erinnerten Autoren an 1968 und die widerständige Zeiten in der Stadt Wenn von 1968 die Rede ist, wird mit dieser Zeit zumeist die Studentenbewegung assoziiert. Doch auch Arbeiter*innen stritten damals für eine andere Gesellschaft – so auch in Speyer.

Die Innenstadt im pfälzischen Speyer ist von dem imposanten Dom geprägt – politische Renitenz ist in einem solchen Ambiente kaum zu vermuten. Und doch existiert mitten in der Altstadt, in der Pistoreigasse, mit dem »Eckpunkt« seit mehreren Jahren eine linke Adresse, wo auch Widerstandsgeschichte aus der Region vermittelt wird. Am Freitagabend stellten dort Wolfgang Hien und Herbert Obenland ihr …

… kürzlich veröffentlichtes Buch »Ein anderes 1968« vor, in dem die beiden Protagonisten berichten, wie der gesellschaftliche Umbruch vor mehr als 50 Jahren auch das Speyer-Kolleg erfasst hatte. »Es war eine soziale Bewegung, die nicht von der Jugend der Mittelklasse, sondern von Arbeiter*innen gemacht wurde. Sie hatte nicht in den Hochschulen, sondern in den Fabriken ihren Ausgangspunkt«, erklären Hien und Obenland, was so anders an diesem 1968 war. Im Gespräch mit dem »nd« betont Hien, dass seine Motivation für das Buch darin bestanden habe, am Beispiel Speyers deutlich zu machen, dass 1968 eben nicht nur Akademiker*innen, sondern auch Lohnabhängige für eine andere Gesellschaft kämpften.
Das Speyer-Kolleg gehörte zu den damals eröffneten Bildungseinrichtungen, mit denen Lohnabhängigen ein Einstieg in die akademische Laufbahn ermöglicht werden sollte, weil dort dringend Nachwuchskräfte gebraucht wurden. Doch Hien und Obenland träumten von einer Emanzipation durch kollektive Bildung und wurden schnell enttäuscht. Sie hatten sich als Auszubildende bei den BASF-Werken auch im Kampf gegen den gesundheitsgefährdenden Arbeitsalltag in der Chemiefabrik politisiert. »Wir hatten uns im Speyer-Kolleg beworben, weil wir mit Bildung die Gesellschaft erkennen wollten, um sie verändern zu können. Doch wir fanden uns in den Status von Schülern zurückversetzt, die sich melden mussten, wenn sie etwas sagen wollten«, schildert Obenland seine Ernüchterung.
Damit waren Obenland und Hien nicht allein. Daher bildete sich schnell ein Kreis von Kollegiat*innen, die aus der vorher einflusslosen Studierendenvertretung (SV) im Speyer-Kolleg einen Ort der Selbstverwaltung machen wollten. Als sie dann in ihren Forderungskatalog das Fach Philosophie als Alternative zum Religionsunterricht aufnahmen und auch bei der Einstellung der Lehrer*innen mitentscheiden wollten, witterte die Kollegleitung eine Unterwanderung durch Linksextremist*innen. Die regionale Presse stellte sich ebenso gegen die jungen Reformer*innen. »Keine Steuermittel für Revolutionäre«, erklärte 1971 der damalige CDU-Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz, Helmut Kohl, im Landtag. Spätestens da wurde die radikale Reformbewegung am Speyer-Kolleg für die Konservativen zum Feind, den sie bekämpften.
Die Landesregierung fand einen Hebel in der fehlenden Genehmigung für die Selbstverwaltungssatzung durch das Kultusministerium von Rheinland-Pfalz. Dass diese Einschüchterung nicht zu mehr Widerstand führte, erklären sich Hien und Oberland mit dem Druck, der auf den Kollegiat*innen lastete, die um ihren Schulabschluss fürchteten. Doch auch wenn sie mit dem Kampf um eine grundlegende Reform des Speyer-Kollegs schnell an Grenzen gestoßen sind, als verlorene Jahre betrachten Hien und Obenland diese Zeit nicht.
Schließlich bekamen sie auch viel Solidarität, unter anderem vom linksdemokratischen Republikanischen Klub in Speyer, aber auch von Gewerkschafter*innen, Betriebsrät*innen und Vertrauensleuten von Fabriken aus der Region. »Es wurden Weichen gestellt, zwischen unserer intentionalen Orientierung zwischen Arbeitswelt und Wissenschaft und, wenn man so will, zwischen Gesellschaft und Emanzipation«, fasst Hien seine Zeit am Speyer-Kolleg zusammen.

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