Gedenken ohne Gewissheit

Deutschland Im April jährt sich der Todestag von Burak Bektas zum fünften Mal

Enver Simsek, Abdurrahim Özüdogru, Abdurrahim Özüdogru, Mehmet Turgut, Ismail Yasa, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubas?k, Süleyman Tasköprü, Habil K?l?ç und Halit Yozgat. Noch immer sind die Mordopfer des NSU, die nicht in Deutschland geboren wurden, nur wenigen Menschen bekannt. Beate Zschäpe hingegen mit ihrer Medienpräsenz war und ist in aller Munde. Dazu kommt: Hätte sich die neonazistische Terrorzelle nicht selber enttarnt, würden die Angehörigen und Freund_innen der Opfer noch immer verdächtigt, an deren Tod schuld zu sein.

Die Polizei hatte systematisch Hinweise auf einen Neonazihintergrund der Mordserie ignoriert. Sowohl in Polizeikreisen als auch in den Medien wurde die rassistische These verbreitet, eine solche Mordserie passe nicht in den »deutschen Kulturkreis«. Doch selbst nachdem sich die Hinweise auf die Urheber_innen in Neonazikreisen bestätigt hatten: Der Diskurs über den NSU bleibt auf die Täter_innen zentriert. Die Selbstinszenierung von Beate Zschäpe wird von vielen Medien durch ihre Berichterstattung unterstützt. Die Sozialwissenschaftlerin Charlie Kaufhold hat im Jahr 2014 in ihrer Studie »In guter Gesellschaft« den Mediendiskurs um die Neonaziaktivistin analysiert. Die Angehörigen der Opfer werden darin nur am Rande wahrgenommen. Dabei sind sie die Mahner_innen, die bereits von einem Neonazihintergrund des NSU ausgegangen waren, als ein großer Teil der Gesellschaft in Deutschland – die meisten Antifagruppen eingeschlossen – eine solche Möglichkeit nicht einmal ernsthaft in Betracht zog.

Die Initiative für die Aufklärung des Mordes an Burak Bektas hat aus diesem Versagen innerhalb der deutschen Verhältnisse die richtigen Konsequenzen gezogen. Sie fordert seit nunmehr fünf Jahren, dass im bis heute unaufgeklärten Mord an Burak Bektas die Spuren ins Neonazimilieu untersucht werden müssen.

Der 22-jährige war am 5. April 2012 im Neuköllner Ortsteil Britz von einem Unbekannten erschossen worden, als er sich am späten Abend mit Freund_innen auf der Straße unterhielt. Der Täter, von den Überlebenden als »unbekannter weißer Mann« beschrieben, ging auf die Jugendlichen zu und feuerte mehrere Schüsse auf sie ab. Zwei junge Männer konnten durch eine Notoperation gerettet werden, Burak Bektas starb noch am Tatort.

Buraks Mutter, weitere Angehörige des Ermordeten, Antifaaktivist_innen und zivilgesellschaftliche Gruppen fanden sich in der Initiative, die seinen Namen trägt, zusammen. Sie wollten damit vermeiden, dass erneut die Freund_innen und Angehörigen der Opfer zu Täter_innen gemacht und Spuren nach rechts ausgeschlossen werden. Es soll nicht wieder, wie im Fall des NSU, auf einen fast unwahrscheinlichen Zufall gewartet werden, bis die rechten Hintergründe aufgedeckt werden.

Ermittlungen in alle Richtungen

Dabei gibt es auch beim Mord an Burak Bektas genügend Anhaltspunkte, die ins rechte Milieu weisen. So macht die Initiative darauf aufmerksam, dass Bektas genau 20 Jahre nach dem Tod des Neonazifunktionärs Gerhard Kaindl ermordet wurde, der bei Auseinandersetzungen mit Antifaschist_innen in einem Kreuzberger Restaurant ums Leben kam. Der 20. Jahrestag wurde 2012 in verschiedenen rechten Medien thematisiert, in einem Internetforum wurde »Rache für Kaindl« gefordert.

Zudem existiert in Neukölln eine militante Neonaziszene, die seit Jahren immer wieder mit Angriffswellen auf Geflüchtete und Nazigegner_innen in Erscheinung tritt. In den letzten Monaten waren durch die aktuelle Serie von Angriffen linke Kneipen wie das k-fetisch, Mitglieder der sozialdemokratischen Organisation Die Falken, DKP-Kandidat_innen und engagierte antifaschistische Forscher_innen wie Claudia und Christian Gelieu betroffen.

Im September 2015 wurde der Oxford-Absolvent Luke Holland in Neukölln auf offener Straße vor einer Kneipe erschossen. Der Täter Rolf Z. hatte sich zuvor aufgeregt, dass in dem Lokal nicht deutsch gesprochen wurde. Er war in der Nachbarschaft als rechter Waffennarr bekannt. Obwohl sein Name in der Akte von Burak Bektas als möglicher Täter aufgeführt wird, konnten die Vorwürfe nicht verifiziert werden. Rolf Z. hatte vor Gericht die Aussage verweigert und konnte nur wegen des Mordes an Luke H. verurteilt werden – Rassismus als Tatmotiv konnte und wollte das Gericht trotz der bei ihm gefundenen Nazi-Devotionalien allerdings nicht feststellen.

Dass der Mord an Burak nach nunmehr fünf Jahren unaufgeklärt bleibt, ist für die Initiative Anlass zur Kritik an den Polizeiermittlungen. Bisher konnte die Initiative trotz vielfältiger Bemühungen nicht erreichen, dass die Polizei die Ermittlungen auf die rechte Szene fokussiert. Es wird weiterhin »in alle Richtungen« ermittelt, wie es im Polizeijargon heißt. Erfahrungswerte, dass eine Aufklärung schwieriger ist, je länger die Tat vergangen ist, helfen da nicht weiter.

Am Tatort erinnern

Erfolgreich war die Initiative allerdings in zwei Punkten. Sie konnte mit ihrer schnellen und professionellen Öffentlichkeitsarbeit verhindern, dass, wie beim NSU, die Opfer und ihr Umfeld zu Täter_innen gemacht werden. Und sie konnte einen Gedenkort in einem kleinen Park in der Nähe des Tatorts durchsetzen. Am fünften Jahrestag des Mordes, dem 4. April 2017, soll der Grundstein dafür gelegt werden. Die Initiative betont mit dem Motto »Gedenken ohne Gewissheit«, dass damit die Forderung nach der Aufklärung des Mordes nicht in den Hintergrund tritt.

Der Wunsch nach einem Gedenkort in der Nähe der Tat kam von Burak Bektas‘ Mutter. Die Initiative fand damit auch offene Ohren bei politisch Verantwortlichen im Bezirk, die mit großer Mehrheit den Platz für den Gedenkort zur Verfügung stellten. Lediglich die CDU und die AfD stimmten dagegen. Eine finanzielle Unterstützung für den Gedenkort ist von der Initiative nicht erwünscht. Sie sammelt dafür Spenden und will damit ihre Unabhängigkeit bei der Gestaltung bewahren. Der Erinnerungsort soll neben dem Gedenken an Burak Bektas auch bundesweit Maßstäbe für ein Gedenken im Interesse der Opfer und ihrer Angehörigen setzen.

In mehreren Städten wurden Initiativen, Straßen und Plätze an den Tatorten nach den Mordopfern des NSU zu benennen, abgelehnt. Bei einer Podiumsdiskussion zum Gedenkort für Burak Bektas sprach auch Ibrahim Arslan, der als Kind den rassistischen Mordanschlag in Mölln im Jahr 1992 überlebte, bei dem mehrere seiner Verwandten verbrannten. Die Verantwortlichen der Stadt hatten bei ihren jährlichen Gedenkveranstaltungen die Überlebenden nicht einbezogen. Als Ibrahim Arslan als Jugendlicher eigene Forderungen stellte, wurden er und die ihn unterstützende Initiative ausgegrenzt. Mittlerweile halten sie ihre »Möllner Rede im Exil« an unterschiedlichen Orten, an denen Opfer rechter Gewalt gedacht wird, wie am Gedenkort von Burak.

Peter Nowak

Informationen zur Initiative und zur Spendenkampagne unter burak.blogsport.de.

aus: ak – analyse & kritik – zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 625 / 21.3.2017

Auf-Ruhrgebiet

Nach seinem Film »Mietrebellen« hat der Regisseur Matthias Coers nun einen Dokumentation über widerspenstige Projekte im Ruhrgebiet vorgestellt. Sie schaffen Utopien en miniature.

Die Senioren sind in Feierlaune. Mit ihrer Mieterinitiative Zinkhüttenplatz haben sie den Abriss einer historischen Arbeitersiedlung verhindert. Dabei hatten sie nicht einmal von der Mehrheit der Linkspartei Unterstützung.

Ihr inspirierender Kampf ist in der Dokumentation »Das Gegenteil von Grau« zu sehen, der in dieser Woche Premiere hat. Knapp 20 außerparlamentarische Initiativen werden im Film vorgestellt. Das Spektrum reicht von Graffiti-Sprüherinnen – es sind tatsächlich nur Frauen – über einen anarchistischen Infoladen, über Projekte mit Geflüchteten bis zum Leerstandskino in Dortmund-Nord.

»Alle Projekte leisten Pionierarbeit im Ruhrgebiet, einer Region mit starkem Strukturwandel aus der Industriegesellschaft in eine krisenhafte Dienstleistungs- und Freizeitgesellschaft«. So beschreibt der Regisseur Matthias Coers gegenüber »nd« das Verbindende der vorgestellten Initiativen. Besonders das Oberhausener Projekt Kunst im Turm (kitev) und die Initiative Refugees‘ Kitchen, eine mobile Küche, in der Geflüchtete und Künstler zusammenarbeiten, haben Coers beeindruckt. Der Regisseur war durch den Film »Mietrebellen«, der den Widerstand gegen Vertreibung und Mieterhöhungen in Berlin dokumentiert, auch über Deutschland hinaus bekannt geworden.

Zur Entstehungsgeschichte: Bei einer Filmveranstaltung im Ruhrgebiet hatte Coers Aktive der Initiative »Recht auf Stadt Ruhr« kennengelernt. »Gemeinsam haben wir überlegt, wie man für das Ruhrgebiet auch eine Art Bewegungsfilm für das Recht auf Stadt machen kann«, so Coers. Die Filmarbeiten haben sich dann zwei Jahre in die Länge gezogen, weil Coers den Film nicht über sondern mit den Initiativen gemeinsam drehte.

Es werden Menschen vorgestellt, die in den Nischen der Städte ihre Utopien umsetzen wollen. Das kann ein »Reparaturladen« oder ein besetztes Gewächshaus sein, in dem sich Senioren ganz selbstverständlich darüber unterhalten, wie sie ein Schloss geknackt haben. Die kurzen Filmgespräche dokumentieren die Unterschiedlichkeit der einzelnen Projekte: Während einige mit linken Politikern kooperieren, betonen andere die Autonomie von Staat und Parteien. Ein Mitarbeiter des Bochumer Straßenmagazins »bodo« erläutert, wie ein Arbeiterstadtteil vor Jahrzehnten zum Zufluchtsort von Migranten wurde und bis heute geblieben ist. Die von Berlin nach Oberhausen »migrierten« Künstler von kitev fragen sich, ob ihr Projekt nicht gegen ihren Willen zur Gentrifizierung beitragen könnte.

Die Dokumentation ist ein aktueller Bewegungsmelder für ein anderes Ruhrgebiet. So hätte der Film mit dem vagen Titel »Das Gegenteilgenteil von Grau« vielleicht passender »Auf-Ruhrgebiete« heißen können. Auf jeden Fall macht er neugierig auf mehr und Lust, die Entwicklung der vorgestellten Projekte weiter zu beobachten.

vDer Film hat seine Premieren an den folgenden Tagen
Do., 23.03., 19:00 Uhr | Roxy Kino, Münsterstraße 95, Dortmund
Fr., 24.03., 19:00 Uhr | Alibi, Gladbecker Straße 10, Essen
Sa., 25.03., 19:00 Uhr | kitev, Willy-Brandt-Platz 1, Oberhausen
So., 26.03., 19:00 Uhr | Lokal Harmonie, Harmoniestraße 41, Duisburg
Mo., 27.03., 19:00 Uhr | Endstation Kino, Wallbaumweg 108, Bochum

www.gegenteilgrau.de

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1045514.auf-ruhrgebiet.html

Peter Nowak

«Tschikweiber haums uns g’nennt»


Eine Studie über Zigarrenarbeiterinnen in Österreich wurde neuaufgelegt. Diese haben zwei Weltkriege, die Herrschaft der AustrofaschistInnen und der Nazis erlebt. Die Autorin Ingrid Bauer hat mit ihnen ausführliche Gespräche über Zwänge und Hoffnungen, Anpassung und Widerstand geführt.
«Jene Mütter, die selbst schon Tabakarbeiterinnen gewesen waren und dem Staate frühzeitig ihre Gesundheit opferten, mögen es nicht unterlassen, ihren Töchtern, die heute in der Tabakfabrik die Plätze ihrer frühzeitig zugrunde gerichteten Mütter einnehmen, die Notwendigkeit der Organisation vor Augen zu halten, damit sie nicht das gleiche Schicksal ereile.» Mit diesem pathetischen Aufruf in einer sozialdemokratischen Zeitung sollten die Tschikweiber von Hallein in der Nähe vom österreichischen Salzburg zum Eintritt in die Gewerkschaft mobilisiert werden. Tschikweiber wurden die Beschäftigten der Zigarrenfabrik zunächst von den bürgerlichen HalleinerInnen genannt, die halb verächtlich, halb ängstlich von einer Lawine sprachen, wenn die Frauen nach Arbeitsschluss zu Hunderten aus der Fabrik strömten. Bald nahmen die Frauen den Namen selber an.

Im österreichischen Dialekt

«Tschikweiber haums uns g’nennt» lautet auch der Titel einer im Jahr 1988 von der österreichischen Historikerin Ingrid Bauer veröffentlichten Studie über die letzte Generation der Halleiner Zigarrenarbeiterinnen, die von 1921 bis zur Schliessung der
Fabrik im Jahr 1940 dort beschäftigt waren. Bauer gehörte zu einer Generation von jungen Wissenschaftlerinnen, die aus feministischem Interesse an ihre Arbeit heranging. Schliesslich war die Halleiner Zigarrenfabrik in ihrer Zeit eine absolute Ausnahme, weil für die Herstellung der Zigaretten ausschliesslich Frauen beschäftigt waren, die zudem dort eine Vollzeitarbeit hatten. Jetzt hat der Berliner Verlag «Die Buchmacherei» mit der Neuauflage dieser Studie ein wichtiges Zeitdokument erneut zugänglich gemacht. Die Passagen der 18 interviewten Frauen, wovon 12 Zigarrenarbeiterinnen waren, wurden im österreichischen Dialekt belassen. «Das Beibehalten der dialektgefärbten Umgangssprache in der Verschriftlichung der Interviews verlangt zwar eine gewisse Leserarbeit ab, ermöglicht es aber, sich sehr unmittelbar auf die Erfahrungszusammenhänge dieser Frauen einzulassen, die unter anderem auch in ihrer ganz spezifischen Ausdrucksweise bestehen», beschreibt Bauer im Vorwort ihre sehr gute Entscheidung. Tatsächlich gelingt es mit den Interviewpassagen
und den kundigen Erläuterungen der Autorin einen guten Einblick in das Leben dieser Frauen zu bekommen, das in erster Linie aus Arbeit bestanden hat. Sie mussten bereits als Kinder im Haushalt helfen, wurden oft schon in jungen Jahren als Bedienstete zu reichen Leuten gegeben und den kargen Lohn bekamen die Eltern. So empfanden fast alle Frauen die Fabrikarbeit als Befreiung. Sie konnten über ihren Lohn selber verfügen. Doch noch wichtiger war der ständige Austausch unter den Frauen. Sie sangen miteinander, besprachen damalige Tabuthemen wie die Sexualität und vor allem die Vermeidung von Schwangerschaften. Dabei spielten die wenigen politisch in der Sozialdemokratie aktiven Kolleginnen eine wichtige Rolle der Vermittlung.

Streik gegen Faschismus

Eine wichtige Rolle spielte die Gewerkschafterin Agnes Primocic, die als Kommunistin auch die Nazis Widerstand geleistet hat. Ihrem Leben ist eine DVD gewidmet, die dem Buch beiliegt. Doch sie war die Ausnahme. Bauer zeigte, dass der eingangs zitierte Aufruf Erfolg hatte und die Frauen sich für bessere Löhne oder auch gegen die Frechheiten von Direktoren,

die natürlich männlich waren, wehrten und im Jahr 1934 sogar für einen Tag gegen den Austrofaschismus streikten. Darauf waren viele der interviewten Frauen noch mehr als 50 Jahre später stolz und vergassen auch nicht zu erwähnen, dass sie von den Kollegen im Stich gelassen wurden. Denn die Männer haben in Hallein an diesem Tag nicht gestreikt, die Frauen blieben allein und der eintägige Streik blieb so eine wichtige Episode im Leben der Frauen, die sich ihnen eingeprägt hatte, aber für ihr weiteres Leben nur begrenzte Konsequenzen hatte. «Gleichzeitig werden aber die Grenzen dieser emanzipatorischen Prozesse sichtbar, vor allem beim Blick auf Arbeiterinnen über «ihre» Fabrik hinaus. Vielen erschien die «grosse Politik» als etwas von ihrem Leben Getrenntes, das einfach über sie verhängt wurde.

Die Grenzen aktiver Betriebsarbeit

Zur Situation während der Nazis befragt, hiess es von den meisten Frauen: «Hauptsach, dass maunsa Oarbeit ghobt haum.» Für viele der Frauen kam erst dann der Bruch, als sie diese Arbeit verloren haben. Im Jahr 1940 wurde die Zigarrenfabrik
geschlossen und musste der Rüstungsproduktion weichen. Diese Schliessung haben viele Frauen den Nazis übel genommen, doch die NS-Terrorpolitik haben viele nicht zur Kenntnis genommen, denn sie geschah ausserhalb der Fabrik und dort, so die Überzeugung vieler der Frauen, können sie als kleine Leute sowieso keinen Einfluss ausüben. So liefert das Buch auch eine Bestätigung von Lenins umstrittener These vom lediglich tradeunionistischen Bewusstsein, dass Arbeiterinnen und Arbeiter entwickeln, wenn sie sich lediglich auf betrieblicher und gewerkschaftlicher Ebene engagieren. Der Fall der Halleiner Zigarrenarbeiterinnen liefert dafür ein anschauliches Beispiel. Selbst Frauen, die sich noch mit Verve a  die emanzipatorischen Momente ihres Engagements in der Fabrik erinnern, bleiben seltsam stumm, wenn es um die Politik ausserhalb der Fabrik geht. Die Minderheit der Frauen, die sich in der Sozialdemokratie oder in der kommunistischen Partei engagieren, betätigte sich auch politisch ausserhalb der Fabrik und ist auch im antifaschistischen Widerstand aktiv. Allerdings muss dabei bedacht werden, dass die Zeit, in denen die Halleiner Frauen offene Gewerkschaftspolitik machen konnten, relativ kurz war. Das austrofaschistische Dollfuss-Regime vor dem Anschluss an Nazi-Deutschland setzte klassenkämpferischer gewerkschaftlicher Tätigkeit schnell enge Grenzen. Die Neuauflage des Buchs ist ein Glücksfall, weil keine der Zigarrenarbeiterinnen heute mehr lebt. Dank Bauers wissenschaftlicher Arbeit blieben ihre Selbstzeugnisse der Nachwelt erhalten.
INGRID BAUER: TSCHIKWEIBER HAUMS UNS G’NENNT. DIE BUCHMACHEREI. BERLIN 2016. 20 EURO

aus: vorwärts – 17. März 2017

Peter Nowak

BND erklärt Gülenbewegung zu den guten Islamisten

Soll eine Kooperation zwischen der Gülen-Bewegung und dem deutschen Staat vorbereitet werden?

Als gäbe es nicht schon genug vordergründige Streitpunkte zwischen der türkischen und der deutschen Regierung hat der BND-Chef Bruno Kahl eine weitere Baustelle aufgemacht. Er widersprach[1] im Spiegel der offiziellen Version der Erdogan-Regierung, nach der die islamistische Gülen-Bewegung die Drahtzieher hinter dem Putschversuch vom Juli letzten Jahres in der Türkei war. Letztlich sind beide Versionen nicht nachzuprüfen und sollten kritisch nach Belegen abgefragt werden.

Von der türkischen Regierung ist bekannt, dass ihre Feindbilder schnell wechseln oder auch kombiniert werden. So konnten Oppositionelle erst gemeinsam mit der Gülen-Bewegung als Linke oder Kemalisten verfolgt werden, um dann später als Gülen-Sympathisanten erneut vor dem Kadi zu landen. Auch neostalinistisch anmutende Vorwürfe sind unter Erdogan zu hören, wenn er den Journalisten Deniz Yücel gleichzeitig als deutschen Agenten und PKK-Anhänger bezeichnet.

Zudem sind politische Beobachter schon länger davon ausgegangen, dass der Putschversuch im letzten Sommer eher von den entmachteten kemalistischen Eliten ausging, die schließlich noch vor 15 Jahren so stark waren, dass sie sogar ein gerichtliches Verbot der AKP androhen konnten. Wieweit es eine Kooperation von Teilen der Gülenbewegung mit diesen kemalistischen Eliten beim Putschversuch gegeben hat und dieser dann als „Geschenk Gottes“ vom türkischen Regime instrumentalisiert wurde, wird sich wohl erst klären lassen, wenn Erdogan und sein Regime endgültig Geschichte ist.

Doch auch die BND-Version sollte kritisch hinterfragt werden. Wenn Kahl vage erklärt, dass es den türkischen Behörden nicht gelungen sei, den BND von ihrer Version zu überzeugen, müsste weiter gefragt werden, welche direkten Quellen der BND in der Türkei sowohl in Kreise des Militärs, in die Gülen-Bewegung als auch in die AKP hinein hat. Denn es ist klar, dass das Interview auch eine neue Kooperation zwischen der Gülen-Bewegung und dem deutschen Staat vorbereiten soll. Das wird vor allem deutlich, wo Kahl diese Bewegung als weder islamistisch-extremistisch noch terroristisch bezeichnet.

Nun stammt vor allem letztere Klassifizierung aus der Sprache der Geheimdienste und kann begründet zurückgewiesen werden. Doch wenn Kahl die Gülenbewegung als „zivile Organisation zur säkularen und religiösen Weiterbildung“ bezeichnet, merkt man die Absicht. Hier werden wieder einmal gemäßigte Islamisten gesucht, mit denen deutsche Stellen kooperieren wollen. Dabei hat die Gülen-Bewegung lange Zeit gemeinsam mit der Erdogan-AKP den autoritären türkischen Staat reif für die islamistische Herrschaft gemacht. Gemeinsam gingen sie gegen Oppositionelle vor, darunter Kemalisten in den unterschiedlichen Spielarten, aber auch gegen Linke aller Couleur. Die Kooperation zwischen der Gülenbewegung und der AKP funktionierte lange gut, bis sich die islamistischen Brothers in Crime zerstritten.

Dadurch wird die Gülenbewegung nicht zu einer zivilen Organisation, sondern zu einer islamistischen Organisation, die im Machtkampf mit der islamistischen AKP unterlegen ist. Es gibt mittlerweile auch wissenschaftliche Arbeiten[2], die sich damit befassen, warum die Gülen-Bewegung zeitweise so erfolgreich war. Schließlich agierte sie international. Dort heißt es: „Seit den 1990er Jahren begann sich das Netzwerk, welches nunmehr die Bereiche Medien, Bildung, Dialog, Charity und Business umfasste, auch außerhalb der Türkei auszubreiten – zunächst in Staaten Zentralasiens und des Balkans und später bei weitem darüber hinaus. Heute ist die Gülen-Bewegung in ca. 160 Ländern der Welt aktiv und hat sich somit zu einem globalen Netzwerk mit einer starken Türkeizentrierung entwickelt. Fethullah Gülen, der seit 1999 in den USA lebt, richtet sich in erster Linie durch seine Videobotschaften und Schriften an seine Anhängerschaft.“

Auch der Historiker und erklärte AKP-Kritiker Nikolas Brauns befasst sich ausführlich mit der Gülen-Bewegung[3] und kommt zu dem Fazit:

Die millionenstarke „Hizmet-Bewegung“ des in den USA lebenden türkischen Imam Fethullah Gülen mit ihrem Wirtschafts-, Bildungs- und Medienimperium stellt sich in der Öffentlichkeit als unpolitische und tolerante Gemeinschaft da. Doch in der Türkei kontrollierten Gülen-Anhänger lange Zeit Schlüsselpositionen im türkischen Staatsapparat. Kritiker werfen ihnen vor, hinter den Massenverhaftungen von prokurdischen Politikern, regierungskritischen Journalisten, aber auch hochrangigen Militärs gesteckt zu haben.

Nikolaus Brauns

Nun könnte die deutsche Regierung der Gülenbewegung in Deutschland besondere Protektion erfahren. Kurdische Oppositionelle wie türkische Linke hingegen werden in Deutschland und der Türkei weiterhin gleichermaßen verfolgt. Erdogan erregte sich über eine kurdische Demonstration vom Wochenende[4] , auf der auch Poster des inhaftierten PKK-Vorsitzen Öcalan gezeigt wurden.

Aber auch diese Symbole werden mittlerweile in Deutschland als terroristisch eingestuft und sind verboten[5]. Bei der Demonstration vom Wochenende sei man aus taktischen Gründen nicht gegen die Symbole eingeschritten, doch mit Videoaufnahmen will man die Träger ermitteln und juristisch zur Verantwortung ziehen. Das macht noch einmal deutlich, dass die Verfolgung von kurdischen[6] und türkischen Oppositionellen[7] in Deutschland nicht einer Erpressung durch Erdogan geschuldet ist, wie auch Linke gerne behaupten. Die deutschen Justizbehörden haben ein eigenes Interesse an der Verfolgung und kooperieren dabei trotz allen Streits weiterhin mit der türkischen Justiz.

Die Gülen-Bewegung könnte nun auch in Deutschland als zusätzlicher Akteur bei ihrer Verfolgung auftreten. Deshalb muss der Versuch, die Gülenbewegung als gemäßigte Islamisten in Deutschland zu protegieren, kritisch beobachtet werden.


https://www.heise.de/tp/features/BND-erklaert-Guelenbewegung-zu-den-guten-Islamisten-3658634.html

Peter Nowak

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http://www.heise.de/-3658634

Links in diesem Artikel:
[1] http://www.spiegel.de/politik/ausland/tuerkei-putschversuch-laut-bnd-chef-wohl-nur-vorwand-fuer-radikalen-kurs-erdogans-a-1139271.html
[2] http://www.remid.de/blog/2016/11/hizmet-in-tansania-und-deutschland-feldforschung-in-der-bewegung-des-fethullah-guelen/
[3] http://www.nikolaus-brauns.de/html/gulen.html
[4] http://www.spiegel.de/politik/deutschland/frankfurt-kurden-demonstrieren-gegen-erdogan-a-1139436.html
[5] http://www.spiegel.de/politik/deutschland/thomas-de-maiziere-verbietet-portraets-von-pkk-anfuehrer-abdullah-oecalan-a-1138207.html
[6] http://civaka-azad.org/ein-verbot-unserer-symbole-kommt-einem-verbot-unserer-identitaet-gleich/
[7] http://www.atik-online.net/deutsch/

Lobbyismus, getarnt als Stadtteilinitiative

Betreiber von Ferienwohnungen versuchen trickreich, das Zweckentfremdungsverbot auszuhebeln

»Deine Stimme für den Erhalt von Ferienwohnungen« heißt eine Anfang März online gestellte Petition, die sich gegen das vor drei Jahren in Berlin verabschiedete Zweckentfremdungsverbot wendet, das die Vermietung von Ferienwohnungen stark einschränkt.

»Wir haben die Petition ›Pro Vacation Homes‹ ins Leben gerufen, um das große Interesse an dem Fortbestand von Ferienwohnungen zu zeigen und somit die Aufmerksamkeit des Senates zu bekommen«, sagt Stephan La Barré gegenüber »nd«. Er ist Vorsitzender des Vereins Apartment-Allianz Berlin (AAB).

Die 2013 von Vermietern von Ferienwohnungen gegründete AAB hat mittlerweile 60 Mitglieder. Dass die Petition zur Internationalen Tourismusbörse ITB in Berlin geschaltet wurde, ist kein Zufall. Die Initiatoren sehen durch das Zweckentfremdungsverbot die Reisefreiheit gefährdet. »Berlinbesucher können die Art der Unterkunft nicht frei wählen«, heißt es zur Begründung.

Stephan La Barré bestreitet, dass Ferienwohnungen das Wohnungsproblem verschärfen. »Die Existenz von Ferienwohnungen ist nicht die Ursache der Mangelsituation. Dafür ist die Anzahl zu klein, da Ferienwohnungen gerade einmal 0,2 Prozent am gesamten Wohnungsmarkt in Berlin ausmachen«, sagt er.

Auch juristisch gehen die Interessenverbände der Ferienwohnungsvermieter gegen die Einschränkungen vor. Bereits im September 2016 hat der Dachverband der Europäischen Ferienwohnungsbetreiber (EHHA) eine Beschwerde bei der EU-Kommission eingereicht. »Wir wollen auf die rechtliche Überregulierung im Bereich der Ferienwohnungsvermietung aufmerksam machen«, erklärt La Barré, dessen AAB Mitglied im europäischen Dachverband ist. Er sieht durch die Zweckentfremdungsverbot eine Gefährdung sowohl des »langjährig etablierten Wirtschaftszweigs Ferienwohnungen« als auch des noch jungen Wirtschaftszweigs des »Homesharings«.

Am 11. Oktober 2016 hat sich in Berlin bereits der 100. Homesharing Club von Airbnb gegründet. Zur Zielgruppe gehören Anbieter von Ferienwohnungen aber auch von Einzelzimmern. Auf der Homepage homesharing.berlin heißt es: »Mit dem neuen Zweckentfremdungsgesetz kann niemand in Berlin seine Wohnung privat mehr als einmal im Jahr vermieten. Das finden wir unfair. Du auch?« Damit werden die Vermieter auf der Homepage direkt angesprochen. So wird der Eindruck erweckt, als sei die Homesharing-Bewegung eine Bürgerinitiative, die sich in der Stadtteilarbeit engagieren.

Doch diese angebliche Nachbarschaftsinitiative wird vom Konzern Airbnb massiv unterstützt. »Das Unternehmen kümmert sich um die Aktivisten und finanziert Gruppenaktivitäten. Sie bieten eigens eine Anleitung an«, heißt es in einen Recherchebericht der »taz«. Demnach bildet Airbnb sogenannte Community-Organizer aus, die bei der Gründung von Homesharing-Clubs mit Rat und Tat zur Seite stehen.

Zu den Aktivitäten gehören auch Spaziergänge zu Orten, die als Geheimtipp für Touristen gehandelt werden. Anfang Februar 2017 beteiligte sich Wolfang Halbermann an einem solchen »Airbnb-Walk« in Neukölln. Halbermann, der sich in der Stadtteilinitiative Kiezversammlung Neukölln engagiert und die Lobbyarbeit der Homesharing-Bewegung kritisch beobachtet, berichtet: »Am frühen Nachtmittag trafen sich etwa 30 überwiegend junge Leute. Mit dabei waren zwei oder drei angestellte Organisatoren von Airbnb Berlin und ein von Airbnb bezahltes Marketing-Filmteam.«

Kürzlich hatten Homesharing-Lobbyisten aus Neukölln und Pankow einen Termin bei der Stadtentwicklungsverwaltung, wo sie ihre Kritik an der Zweckentfremdungsverordnung vortrugen. Die Neuköllner Mieteraktivisten reagierten mit einem Schreiben an Senatorin Katrin Lompscher (LINKE). Im Brief wenden sie sich gegen Lobbyarbeit hinter verschlossenen Türen und fordern die Senatorin auf, jeder Verwässerung der Zweckentfremdungsverordnung eine Absage zu erteilen.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1045316.lobbyismus-getarnt-als-stadtteilinitiative.html

Peter Nowak

Gute Populisten – schlechte Populisten

Nach der Hollandwahl werden wir noch öfter hören, eine Erfolg sei gut oder schlecht für Europa. Doch welches Europa ist eigentlich damit gemeint? – Ein Kommentar

„Der Europäische Frühling ist nah“ titelte[1] die ökoliberale Taz vor zwei Monaten. Gestern ist für das Blatt der Europäische Frühling angebrochen. Kalendarisch hat das ja seine Richtigkeit, doch für die Zeitung ist es natürlich eine Metapher, dass nach Brexit und Trump-Wahl die Anhänger der realexistierenden EU angeblich in die Offensive gehen.

Da wird die Tatsache, dass auch die Liberalen wieder mal den Straßenprotest entdeckt haben und mit EU-Fahne und den gesamten Phrasenapparat des neoliberalen Kapitalismus die EU auf den Straßen und Plätzen verteidigen[2] wollen, als europäischer Frühling verkauft. Doch wer außer überzeugten Eurokraten kann sich eigentlich von dieser Mischung aus liberalem Politik-Sprech und einem Schuss Esoterik angesprochen fühlen?

Wir sind überzeugt, dass die Mehrzahl der Menschen an die Grundidee der Europäischen Union und ihre Reformierbarkeit und Weiterentwicklung glaubt und sie nicht nationalistischen Tendenzen opfern möchte. Es geht um nichts Geringeres als die Bewahrung eines Bündnisses zur Sicherung des Friedens und zur Gewährleistung von individueller Freiheit, Gerechtigkeit und Rechtssicherheit. Leider sind aber in der Öffentlichkeit vor allem die destruktiven und zerstörerischen Stimmen zu hören! Deshalb: Lasst uns lauter und sichtbarer werden! Wir alle müssen jetzt positive Energie aussenden, die den aktuellen Tendenzen entgegenwirkt. Der europäische Pulsschlag soll allenthalben wieder spürbar werden!

Pulse of Europe

Da die liberale Klientel bestimmt nicht vor hat, viel in diese affirmativen Straßenaufzüge zu investieren, müssen schnelle Erfolge her. Und so hat man sich die diesjährigen Wahltermine in mehreren europäischen Ländern herausgepickt, dort die Rechtspopulisten zum Popanz aufgeblasen, um damit zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen.

Wenn die Rechten nicht so stark werden, wie sie erst durch die Propaganda gemacht werden, dann ist das natürlich ein Sieg. Gleichzeitig kann man einen Teil der rechten Politik in die eigene Agenda integrieren. Denn die Liberalen und Sozialdemokraten aller Länder haben schon immer klargestellt, dass sie sich das Monopol auf Flüchtlingsabwehr, die Festung Europa, beim Schleifen von Grundrechten etc., nicht von irgendwelchen dahergelaufenen Wilders, Le Pens oder Grillos nehmen lassen wollen. Als Stichwortgeber sind sie aber tauglich. Denn wie lässt sich besser rechte Politik verkaufen als mit der Drohung, dass die bösen Rechtspopulisten an die Regierung kommen und dann alles noch schlimmer wird, wenn wir es nicht selber machen.

Das Spiel funktionierte schon in Deutschland in den 1970er Jahren, als F.J. Strauß von jener Sozialdemokratie als gefährlicher rechter Demagoge aufgebaut wurde, die ihn nach seinem Sturz durch die Spiegel-Affäre in der großen Koalition überhaupt erst wieder regierungsfähig gemacht hat. Aber mit der Drohung, wenn ihr nicht mitmacht, kommt der böse F.J. Strauß an die Macht, hatte die SPD unter Helmut Schmidt der SPD die Flausen ausgetrieben, dass Reformen den Subalternen mehr Einfluss und ein etwas besseres Leben garantieren könnten. Diese Idee gab es bei der SPD unter Willi Brandt schließlich noch, wie es der Journalist Rainer Balcerowiak in seinem Buch „Die Heuchelei von der Reform“[3] gut darlegt.

Wilders wurde zum Popanz aufgebaut, um dann seine Politik modifiziert umzusetzen

Auch bei der Holland-Wahl konnte man den Mechanismus gut beobachten: Baue einen rechten Popanz auf, verkünde den erfolgreichen Kampf gegen Rechts, wenn der Popanz platzt, und erzeuge so einen Rechtsruck.

Politische Beobachter wussten schon lange, dass Wilders nicht holländischer Ministerpräsident wird und dass es einen EU-Austritt von Holland, einen Nexit, nicht geben wird. Dafür gäbe es in Holland auch gar keine Mehrheit. Dass doch immer der Eindruck erweckt wurde, es handele sich um eine Schicksalswahl und Wilders könne zum Ministerpräsidenten von Holland werden, hat eine Grundstimmung im Land erzeugt, die keine wirklichen Alternativen mehr zuließ. Es ging nur noch um den schlechten Populismus à la Wilders und den vermeintlich guten Populismus à la Rutte. Nach seinen Wahlerfolg erklärte[4] Rutte: „Nach dem Brexit und nach den Wahlen in den USA haben die Niederlande Stopp gesagt zu einer falschen Sorte Populismus.“ Den richtigen Populismus hingegen scheint er für sich monopolisieren zu wollen und damit hatte er Erfolg. Es gab einen massiven Rechtsruck bei den Wahlen in Holland und der Motor war nicht die Wilders-Partei, sondern es waren die Rechtsliberalen von Rutters.

Linke oder zumindest sozialdemokratische Alternativen wurden weitgehend marginalisiert. Eine grün-soziale Partei hatte noch Erfolg. Zu den guten Populisten gehört auch christliche Kleinstparteien[5], die bis heute nicht akzeptieren, dass Frauen gleichberechtigt sind. Obwohl ihr Programm zumindest in diesem Punkt wesentlich reaktionärer als das von Wilders ist, werden sie zu den Guten gerechnet, denn sie gelten als proeuropäisch. Das können letztlich auch offen Rechtsaußenparteien sein, wie sich in der Ukraine oder in Kroatien zeigte.

Wann ist ein Wahlergebnis gut für Europa?

Nach der Hollandwahl hörten wir eine Bewertung des Ergebnisses, das wir in diesem Jahr noch häufiger lesen werden. Die Wahl sei ein Sieg für Europa oder gut für die Europäer gewesen. Nur wer ist damit gemeint? Eine Bewohnerin Russlands, Albaniens oder Serbiens sicher kaum. Geographisch leben sie in Europa, doch der politische Begriff des Europas, das hier gemeint ist, bezeichnet die EU unter der Hegemonie Deutschlands.

Wenn also in der nächsten Zeit wieder einmal eine Wahl gut oder schlecht für Europa ist, dann sollte man wissen, was gemeint ist. Die von Deutschland dominierte EU sieht ihre Interessen gewahrt oder nicht. Wer kein Freund dieses deutschen Europas ist, ist eben ein schlechter Populist, wer mit dem deutschen EU-Block harmoniert, hingegen ein guter Populist.

Die nationalkonservative polnische Regierung hat in der letzte Woche, als sie sich gegen den Kandidaten der Deutschen-EU wehrte, zu spüren bekommen, was es heute heißt, sich gegen den Hegemon zu stellen. Wie schnell auch die liberalen Freunde der EU die Unterscheidung in gute und schlechte Populisten verinnerlicht haben, zeigt ein Interview mit dem stets wendigen ökoliberalen Claus Leggewie. Im Deutschlandfunkinterview[6] rief er nach der Hollandwahl eine Trendwende auf und begrüßte eindeutig, dass der holländische Ministerpräsident Wilders mit rechter Rhetorik die Grenzen gesetzt hat.

Rechte Politik als Mittel gegen Rechtspopulismus

Auch der Publizist Robert Misik, der anders als Leggewie auch mal Marx zitiert, nennt in einem Taz-Beitrag[7] zwei Gegenmodelle gegen den Rechtspopulismus aufgeführt.

Die große Frage, die die demokratischen Parteien beinahe überall zerreißt, ist, wie der Rechtspopulismus denn bekämpft werden solle. In Österreich präsentierte der Ex-Grüne van der Bellen als klares proeuropäisches, weltoffenes, menschenrechtlich orientiertes Gegenmodell zu seinem Rechtsrivalen – und gewann. Mark Rutte, der rechtsliberale Premier in den Niederlanden, verfolgte exakt das Gegenmodell: Er rückte scharf nach rechts, bekundete, „niederländische Interessen kommen für mich zuerst“, antieuropäische Ressentiments umgarnte er und der xenophoben Stimmung im Land gab er Zucker: „Wer unsere Werte nicht teilt, soll gehen“, inserierte Rutte. Und auch er gewann mit dieser Strategie, jedenfalls in dem Sinn, dass Wilders bei den Wahlen klein gehalten wurde und über 13 Prozent kaum hinauskam.

Robert Misik

Nun könnte man denken, Misik wird die Strategie Ruttes klar kritisieren. Doch dem ist nicht so:

Nun kann man den sozial-liberalen Heroismus des entschiedenen Dagegenhaltens für sympathischer, die Anbiederung an das rechte Narrativ für unsympathischer halten. Darüber hinaus kann man auch noch die Frage stellen, was eigentlich die Anforderung der Stunde ist? Das rechte Agenda-Setting auch noch stärken, indem man ihre Thematiken übernimmt, ist nicht sonderlich empfehlenswert, sagen die einen. Wenn in der Migrationspolitik eine liberale, humanitäre Haltung absolut nicht mehr mehrheitsfähig ist, dann wäre es sträflich dumm, diese Tatsache zu ignorieren, sagen die anderen. Es ist, unter rein wahltaktischen Gesichtspunkten, nicht von vornherein klar, welches der beiden Argumente das richtigere ist – oder das weniger falsche. Und beide Strategien haben nun Erfolgsbeispiele, auf die sie verweisen können, und natürlich gibt es zwischen beiden auch eine Art Mittelweg. Eines sollte man jedenfalls nicht übersehen: Auch wenn der Aufstieg des Rechtspopulismus gerade eingebremst ist, gibt es weder Einigkeit noch einen Königsweg hinsichtlich der Frage, wie er am besten gestoppt wird.

Robert Misik

Damit hat auch Misik jede linke oder sogar nur sozialdemokratische Perspektive aufgegeben. Er hält es auch durchaus für einen Weg gegen den Rechtspopulismus, selber rechte Politik zu machen. Damit befinden sich Misik und Leggewie ganz im Fahrwasser eines deutsch-europäischen Konzepts, das als Alternative gegen den Rechtspopulismus eine rechtsbürgerliche Politik propagiert. Soziale Fragen und eine politische Linke sollen dort gar nicht mehr vorkommen.

Deshalb wird in Frankreich auch der Kandidat Macron so gehypt, der sich als besonders deutschfreundlich geriert und auch gleich die Agenda 2010 nach Frankreich exportieren will. Schließlich hat es ja dieses Deutsch-Europa auch geschafft, mit seinem Troika-Diktat über Griechenland die soziale Frage in Europa erst einmal zum Schweigen zu bringen und so den Rechtspopulismus erst stark gemacht.

Als Syriza gewählt wurde, hat man auch schon von einer Wahl gegen Europa und gegen die Märkte geredet. Nun hat mit der Unterwerfung von Syriza hat der deutsch-europäische Block scheinbar gesiegt und überall wurde behauptet, die Unterwerfung sei gut für die Märkte und Europa. Dabei wurde die Öffentlichkeit in den letzten Tagen mit den Sprengstoffpaketen an das deutsche Wirtschaftsministerium an die Rolle Deutschlands beim Troika-Diktat über Griechenland erinnern.

Mögen solche Sprengstoffpakete auch nur von kleinen anarchistischen Gruppen versandt werden, so ist in der griechischen Bevölkerung die Wut auf die deutschen Politiker mit Schäuble an der Spitze sehr groß. Neue soziale Proteste in diesem Land genauso wenig ausgeschlossen, wie in anderen Ländern der Peripherie. Und was wird passieren, wenn ein französischer Präsident Marcron tatsächlich ernst damit macht, die Agenda 2010 mit all ihren Zumutungen in Frankreich zu implementieren? Damit es dann nicht wieder zu sozialen Protesten kommt, werden die Rechtspopulisten gebraucht. Um diese zu begrenzen, soll dann noch mehr rechte Politik gemacht werden. So bleibt alles beim Alten, weil über die wirklichen Alternative gar nicht mehr geredet wird.


https://www.heise.de/tp/features/Gute-Populisten-schlechte-Populisten-3658324.html

Peter Nowak

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[1] http://www.taz.de/!5371885/
[2] http://pulseofeurope.eu/
[3] http://buch-findr.de/buecher/die-heuchelei-von-der-reform/
[4] http://diepresse.com/home/ausland/aussenpolitik/5184322/NiederlandeWahl_Niederlande_Stopp-gesagt-zu-einer-falschen-Sorte%20title
[5] http://www.christenunie.nl/
[6] http://www.deutschlandfunk.de/rechtspopulismus-wir-haben-es-in-ganz-europa-mit-einer.694.de.html?dram:article_id=381413
[7] http://www.taz.de/!5389753/

Wie Zuwanderer dem deutschen Arbeitsmarkt nützen sollen

Die Frage nach Qualifikationen, die ihnen auch in ihren Herkunftsländern nützt, wird gar nicht gestellt

„Deutsche Arbeitgeber zufrieden mit Migranten“[1], so fasste Telepolis einen OECD-Bericht[2] zusammen, der die „Arbeitsmarktintegration von Flüchtlingen in Deutschland“ untersucht. Die Kollegen von der Zeit titelten fast wortgleich: „Arbeitgeber meist zufrieden mit Flüchtlingen“[3].

Schon im Vorwort wird klargemacht, worum es den Verfassern der Studie geht: „Ein frühzeitiger Arbeitsmarkteintritt ist ein entscheidender Faktor für die langfristigen Arbeitsmarktergebnisse. Was dies anbelangt, hat Deutschland eine Reihe von Maßnahmen ergriffen, die einen frühzeitigen Arbeitsmarkteintritt erleichtern, und die derzeitigen Rahmenbedingungen für den Arbeitsmarktzugang von Asylbewerbern sind im OECD-Vergleich relativ liberal.“

Tatsächlich gehen sie von der Prämisse aus, dass die Flüchtlinge möglichst schnell in den deutschen Arbeitsmarkt integriert werden sollen. Dabei werden auch Probleme von Unternehmen angesprochen. Sicher werden nicht alle Migranten zu Facharbeitern. Doch viele der Zuwanderer werden in Sektoren mit niedrigschwelligen Arbeitsgelegenheiten gebraucht.

Dieser Begriff ist ein Euphemismus und meint Jobs im prekären Niedriglohnsektor, wo die Beschäftigten wenig Qualifikationen benötigen und schnell geheuert und gefeuert werden. Hier wird eine alte Tradition fortgesetzt.

Schon die Arbeitsmigranten der 1960er und 1970er Jahre wurden oft in Sektoren angestellt, wo die Arbeit schlecht bezahlt und besonders schmutzig war. So wurde allenthalben berichtet, dass Zuwanderer aus Italien, der Türkei oder aus Jugoslawien die Jobs erledigten, die viele Beschäftige mit deutschem Pass damals nicht mehr machen wollten. Mit der neuen Zuwanderung scheint sich das fortzusetzen.

Es ist verständlich, dass die Unternehme zufrieden sind. Schließlich erhoffen sie sich durch die Zuwanderung die billigen Arbeitskräfte, die das Lohnniveau senken, nach denen die deutsche Wirtschaft schon länger händeringend sucht. Dass die kurze Zeit der durchlässigen Grenzen also durchaus im Gesamtinteresse der deutschen Wirtschaft war, können die Rechtspopulisten nicht verstehen, die deshalb aktuell bei der Mehrheitsströmung des deutschen Kapitals auch wenig Unterstützung haben.

Es ist erstaunlich, dass auch die OECD nur in eine Richtung denken kann – wie können die Zuwanderer in den deutschen Arbeitsmarkt integriert werden … „In der kommenden Zeit wird die Herausforderung darin bestehen, die häufig etwas isolierten ersten Integrationsmaßnahmen in eine koordinierte längerfristige Strategie einzubinden“, schreiben die Autoren. Dabei gehe es nicht nur um „berufsbezogene Sprachkenntnisse und Kompetenzen, sondern auch um die Kenntnis der Funktionsweise des Arbeitsmarkts“, schreibt die Zeit.

Dabei wird überhaupt nicht die Frage gestellt, ob die Mehrzahl der Migranten überhaupt mittel- und langfristig in den deutschen Arbeitsmarkt integriert werden will. Es wird fast selbstverständlich davon ausgegangen. Übersehen wird aber, dass es viele Berichte und Erklärungen von Migranten gibt, die mittel- und langfristig in ihre Herkunftsländer zurückkehren wollen. Das betrifft unterschiedliche Gruppen von Zuwanderern.

So kann man von Geflüchteten aus Syrien oft lesen, dass sie so schnell wie möglich wieder zurückkehren wollen, wenn es die politischen Verhältnisse zulassen. Ähnliche Statements kann man auch von Migranten aus anderen sogenannten Krisenländern hören. Vor allem Migranten, die vor einer unmittelbaren Bedrohung fliehen, seien es Kriege, Bürgerkriege oder politischer oder religiöser Terror betonen oft, dass sie nicht dauerhaft in Deutschland bleiben wollen.

Aber auch die Menschen, die sich durch die Migration vor allem ein etwas besseres Leben erhoffen, was für viele Zuwanderer aus Nordafrika zutrifft, wollen oft nicht dauerhaft in Deutschland bleiben. Oft hoffen sie hier Geld zu verdienen, um dann wieder in ihre Herkunftsländer zurückzukehren oder auch zwischen den Ländern zu pendeln. Doch diese Bedürfnisse vieler Geflüchteter werden in der OECD-Studie nicht berücksichtigt.

Der bestimmende Blickwinkel sind die Interessen der deutschen Wirtschaft, die Arbeitskräfte braucht und die relative Zufriedenheit deutscher Unternehmer mit der Integration der Migranten. Deren Bedürfnisse und Befindlichkeiten kommen hingegen kaum vor.

So wird auch nicht die Frage gestellt, ob es angesichts der erklärten Bereitschaft vieler Zuwanderer, dauerhaft oder zeitweise in ihre Herkunftsländer zurückzukehren, nicht das Ziel sein müsste, Beschäftigungsverhältnisse zu schaffen, die den Menschen in diesen Ländern nützen können und vielleicht sogar in diesen Ländern noch politische Impulse schaffen könnten.

Die niedrigschwelligen Arbeitsverhältnisse sind es zumindest nicht. Es müssten Ausbildungs- und Arbeitsverhältnisse sein, mit denen die Menschen sich in Deutschland qualifizieren und die ihnen in ihren Herkunftsländern den Aufbau einer Existenz ermöglichen. Das könnten Arbeiten im Handwerk, der Industrie oder in der Landwirtschaft sein. So würde auch verhindert, dass die Zuwanderer nur einseitig den deutschen Arbeitsmarkt nutzen.

Die Folgen für die Herkunftsländer, die oft Teil der zweiten oder dritten Welt sind, werden oft gar nicht thematisiert. Besonders dramatisch ist die Situation, wenn Menschen, die in Afrika oder Asien studiert oder die Berechtigung für einen Hochschulabschluss erlangt haben, in Deutschland oder anderen europäischen Ländern dann im Niedriglohnsektor ihr Dasein fristen müssen. So werden die sowieso schon unterentwickelt gehaltenen Länder noch weiter wirtschaftlich und auch kulturell marginalisiert.

Folglich wäre es auch ein zentraler Punkt, die schulische oder berufliche Qualifikation der Migranten zur Grundlage zu machen und nicht die Interessen des deutschen Arbeitsmarkts. Daraus könnten dann Projekte entstehen, in denen sich die Menschen weiter qualifizieren und auch Grundlagen schaffen, um sich eben in ihren Heimatländern eine eigenständige Existenz aufzubauen.

Blinder Fleck der Flüchtlings- und Migrationsbewegung

Es dürfte nicht überraschen, dass solche Forderungen nicht im Interesse der deutschen Wirtschaft stehen und daher von ihren Lobbyverbänden nicht vertreten werden. Erklärungsbedürftiger ist schon, warum auch die Flüchtlingsbewegung diese Forderungen kaum stellt. Auch dort wird eher der Schwerpunkt auf die Integration der Zuwanderer in die deutsche Gesellschaft gelegt und die Integration in den deutschen Arbeitsmarkt gehört dazu.

Diskussionen über eine Qualifikation, die den Migranten auch in ihren Herkunftsländern nützen könnten, hört man weniger. Das könnte daran liegen, dass man fürchtet, mit einer solchen Diskussion Kräfte zu bestätigen, die sich gegen die Aufnahme von Migranten richten. Aber die Befürchtung ist dann gegenstandslos, wenn man die Bedürfnisse der Zuwanderer zur Grundlage nimmt.

Diejenigen, die dauerhaft in Deutschland bleiben wollen, sollen natürlich die Möglichkeit dazu haben. Aber die Interessen, derjenigen, die das gar nicht wollen, sollten auch besser berücksichtigt werden. In der Flüchtlingsbewegung und bei den Unterstützern wird sehr berechtigt das Recht auf Flucht und Migration propagiert. Doch es sollte ergänzt werden durch das Recht aller Menschen, auch in ihren Herkunftsländern ein Leben ohne Angst und Not führen zu können.

Die Frage nach den Arbeitsbedingungen, der Höhe der Löhne und der Arbeitsrechte ist dabei ein wichtiger Bestandteil. Das betrifft Arbeitsverhältnisse in Deutschland ebenso wie in den Heimatländern der Menschen. Doch das waren nie Geschenke und Zugeständnisse, sondern immer Ergebnisse von Kämpfen in Gewerkschaften und anderen Organisationen der Arbeiterbewegung.

Es ist klar, dass Unternehmer wenig Interesse an starken und durchsetzungsfähigen Gewerkschaften haben. Aber Organisationen und Menschen, die Geflüchtete und Migranten unterstützen, müssten dieses Interesse haben.

Es gibt ein gutes Beispiel einer solchen transnationalen Gewerkschaftsarbeit. Es war der Masseneintritt von Geflüchteten[4] in die Dienstleistungsgewerkschaft verdi in Hamburg 2013, der die die Diskussion um eine Gewerkschaftsmitgliedschaft ohne Migrationskontrolle[5] angeregt und auch die Grenzen der DGB-Gewerkschaften[6] aufgezeigt hat.

Es müsste ein zentraler Teil von solidarischer Flüchtlingsarbeit sein, die Position der kämpferischer transnationalen Gewerkschaftsarbeit in- und außerhalb des DGB stark zu machen. Dann würden die niedrigschwelligen Arbeitsgelegenheiten für die Unternehmen nicht mehr so attraktiv, es würde auch ein Dumpingwettbewerb im Lohnsegment verhindert und die Migranten hätten eine Erfahrung gemacht, die ihnen in Deutschland genauso wie in ihren Heimatländern nützlich ist: Solidarität ist unabhängig von der Herkunft möglich. Die Arbeitgeber in Deutschland und anderswo dürften mit den Arbeitnehmern dann nicht mehr so zufrieden sein.


https://www.heise.de/tp/features/Wie-Zuwanderer-dem-deutschen-Arbeitsmarkt-nuetzen-sollen-3655970.html

Peter Nowak

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[1] https://www.heise.de/tp/features/OECD-Deutsche-Arbeitgeber-zufrieden-mit-Migranten-3652951.html
[2] http://www.oecd.org/berlin/publikationen/Arbeitsmarktintegration-von-Fluechtlingen-in-Deutschland-2017.pdf
[3] http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2017-03/oecd-studie-arbeitgeber-meist-zufrieden-mit-fluechtlingen
[4] http://www.labournet.de/interventionen/asyl/arbeitsmigration/gewerkschaften-und-migrantinnen/fluchtlinge-und-ver-di-am-bsp-lampedusa-in-hamburg/
[5] https://www.facebook.com/lampedusainhamburg/posts/604720162896588
[6] http://www.taz.de/!5052397/

100 Jahre Staatskapitalismus

Neue Literatur zum hundertsten Jahrestag der Oktoberrevolution

Charles Bettelheim: Klassenkämpfe in der UdSSR. Die Buchmacherei, Berlin 2016, 666 Seiten, 24 Euro, ISBN 978-3-00-052633-6

Anté Ciliga: Im Land der verwirrenden Lüge. Die Buchmacherei, Berlin 2016, 304 Seiten, 15 Euro, ISBN 9783000314681

Rabinowitch Alexander: Die Revolution der Bolschewiki 1917. Mehring-Verlag, Essen 2016, 602 Seiten, 34,90 Euro, ISBN 978-3-88634-097-2

Rabinowitch Alexander: Das erste Jahr. Mehring Verlag, Essen 2016, 677 Seiten, 34,90 Euro, ISBN 978-3-88634-090-3

Zum hundertsten Jahrestag der Oktoberrevolution wird uns eine Flut von Büchern erwarten, deren AutorInnen uns erklären werden, dass deren Scheitern nur beweist, dass es jenseits von Kapitalismus und Marktwirtschaft keine Alternativen gibt.

Alle Versuche, aus der Kapitallogik auszubrechen, würden nur in Despotie und letztlich im Stalinismus enden. So wird mit dem autoritären Staatssozialismus jede anarchistische, räte- und linkskommunistische Kritik gleich mit beerdigt. Daher ist dem kleinen Berliner Verlag „Die Buchmacherei“ zu danken, dass sie ein zentrales Buch des französischen Soziologen Charles Bettelheim ins Deutsche übersetzt haben.

Der 1913 in Paris geborene und dort 2006 verstorbene Intellektuelle hatte sich in den 1970er Jahren als linker Kritiker der Sowjetunion einen Namen gemacht. Lange Zeit hat er sich auch deutlich gegen den Nominalsozialismus und Kapitalismus gewandt. Dabei bewegte er sich aber, um gleich auch den zentralen Kritikpunkt anzusprechen, im Gedankengebäude des autoritären Sozialismus. So kritisiert Bettelheim in den 1970er Jahren die Sowjetgesellschaft vom maoistischen Standpunkt aus, unterstützte einige Jahre die Kulturrevolution in China, bevor er in den 1980er Jahren mit den sogenannten Neuen Philosophen in China die autoritären Sozialismusvorstellungen selber einer kritischen Prüfung unterzog. Die aber suchten dann den Ausweg ebenfalls nicht in anarchistischen oder dissidenten kommunistischen Vorstellungen, sondern wurden oft zu VerteidigerInnen der Totalitarismustheorie und zu ApologetInnen des Kapitalismus. Diese kritische Entwicklung kann man in den von Andreas Förster ins Deutsche übersetzten Bänden 3 und 4 von Bettelheims Monumentalwerk „Die Klassenkämpfe in der UdSSR“ gut nachverfolgen.

Bettelheims besondere Stärke waren seine profunden Kenntnisse der ökonomischen Verhältnisse in der Sowjetunion und den nominalsozialistischen Staaten. Er argumentierte nicht moralisch, sah den Widerspruch zwischen Anspruch und Realität in der nominalsozialistischen Ökonomie. Wer heute das nur noch antiquarisch erhältliche, 1970 erschienene Buch „Ökonomisches Kalkül und Eigentumsformen“ liest, bekommt eine gute Einführung in die präzise Argumentationsweise von Bettelheim. Dort weist er überzeugend nach, dass es falsch ist, Sozialismus mit Planwirtschaft und Verstaatlichung und Kapitalismus mit Markt gleichzusetzen. Bettelheim erklärt, dass die formaljuristische Ebene noch keinen Aufschluss über die realen Produktionsverhältnisse gibt und Staatseigentum keine wirkliche Vergesellschaftung bedeute. Es können auch in einer verstaatlichen Ökonomie kapitalistische Produktionsverhältnisse vorherrschen, so Bettelheims Argumente, die sich auf Texte von Marx und Engels stützten.

graswurzelrevolution


417 märz 2017

http://www.graswurzel.net/417/oktober.php

Peter Nowak

Eine besondere Form von Staatskapitalismus

In den nun in der Buchmacherei herausgegebenen Bänden 3 und 4 der „Klassenkämpfe in der UDSSR“ spitzt Bettelheim seine Kritik am sowjetischen Modell zu. Er bezeichnet es als einen Staatskapitalismus, der weiterhin auf Ausbeutung von Arbeitskraft basiert. Dabei kann sich der Soziologe nicht nur auf Marx berufen, sondern auch auf Lenin. Der hat mehrmals erklärt, dass die Bolschewiki in der Sowjetunion nicht den Sozialismus aufbauen, sondern den Kapitalismus entwickeln. Dabei argumentierte er rein ökonomisch. Nachdem alle anderen Räterepubliken, die in den Jahren 1918 bis 1920 entstanden waren, von den alten Mächten blutig zerschlagen worden waren, war es natürlich absurd zu glauben, dass ausgerechnet das kapitalistisch noch kaum entwickelte Russland das Modell für den Aufbau des Sozialismus werden konnte. Wie weit die zentralistischen Revolutionsvorstellungen der Bolschewiki diesen Versuch von Anfang an verunmöglichten, ist eine Streitfrage, die unter den linken KritikerInnen der Entwicklung in der Sowjetunion (SU) seit 100 Jahren diskutiert wird. Für die Diskussion dieser Frage empfiehlt sich die Lektüre der beiden im Mehring-Verlag auf deutsch erschienenen Bände „Die Revolution der Bolschewiki 1917“ und „Das erste Jahr“, in denen die Entwicklung akribisch und mit viel Quellenmaterial nachgezeichnet wird.

Bettelheim analysiert, wie mit der Etablierung eines besonderen Typs von Staatskapitalismus in der UdSSR die ArbeiterInnen mehr und mehr entmachtete. Dabei macht er aber auch deutlich, dass dieser Prozess keineswegs reibungslos verlief und sich große Teile der bolschewistischen Basis gegen diesen Kurs wehrten. Darin sieht Bettelheim auch einen Grund für die Schauprozesse und den Terror gegen KommunistInnen der ersten Stunde, die sich bald mit anderen KritikerInnen in den Gefängnissen wiederfanden. Bettelheim zeigt in dem Buch auf, dass nach der Revolution die Macht der ArbeiterInnen enorm ausgeweitet worden war. Er sieht im Stalinismus den großen Rollback am Werk, mit dem die ArbeiterInnen wieder zu Rädchen in der nun staatskapitalistischen Maschine gemacht worden sind.

Seine Kenntnisse der sowjetischen Verhältnisse und besonders der Ökonomie zeigen sich da, wo Bettelheim die Debatte über die BetriebsleiterInnen nachzeichnet. Die hatten nach der Revolution massiv an Autorität eingebüßt. Stattdessen haben die Arbeiterkomitees viel Einfluss gehabt. Der wurde immer mehr beschnitten, doch auch dieser Prozess war keineswegs linear. Es gab noch in den 1930er Jahren Widerstand gegen die Einschränkung der ArbeiterInnenrechte, auch in den Reihen der Bolschewiki.

Klassengesellschaft neuen Typs

Differenziert betrachtet Bettelheim auch die Stachanow-Bewegung. Dabei habe es sich zunächst um eine Initiative gehandelt, die bei Segmenten der FacharbeiterInnen entstanden ist, die die Möglichkeiten der ArbeiterInnenmacht nutzten, die es nach der Oktoberrevolution gegeben hat. Doch bald wurde diese Initiative von der Staatspartei vereinnahmt und verfälscht. Auf einmal wurden überall Stachanow-Wettbewerbe ausgerufen, die meist keinerlei Erfolge brachten.

So wurde eine Initiative von Unten abgewürgt. Teile des Proletariats reagierten darauf allergisch, weil damit die Arbeitsnormen erhöht wurden. Bettelheim kommt zu dem Schluss, dass die bolschewistische Basis durchaus aus einem Teil der FacharbeiterInnen bestand. Es gab erfolgreiche Kampagnen, um mehr ArbeiterInnen in die Partei aufzunehmen. Allerdings sei ein Teil der Neumitglieder gleich in Funktionärsposten aufgerückt und habe sich so von der proletarischen Herkunft entfernt. Bettelheim zeigt auch auf, dass das Nomenklaturasystem hierarchisch gegliedert war und es unterschiedliche Zugänge zu Vergünstigungen aller Art gab. So bildete sich eine Klassengesellschaft neuen Typs heraus. Ein Teil der alten FacharbeiterInnen wurde zur Nomenklatura und beutete andere ArbeiterInnen aus, die oft erst aus der Landwirtschaft mehr oder weniger freilich abwanderten. Die rigide Politik gegen die Bäuerinnen und Bauern erinnert auch an die ursprüngliche Akkumulation im Kapitalismus, wo das Bauernleben ein wichtiger Bestandteil war. Diese Aspekte werden von Bettelheim in klarer Diktion benannt. Sie werden für eine hoffentlich kontroverse Debatte sorgen.

Propaganda und Realität der Zwangsarbeit in der Sowjetunion

Eindringlich schildert Bettelheim den Prozess der Herausbildung des Fabrikdespotismus der Zwangsarbeit in der SU. Die massenhafte Verwendung von ZwangsarbeiterInnen setzte in den Jahren 1930 und 1931 beim Bau des Kanals zwischen der Ostsee und dem Weißen Meer ein. „Seinerseits wird die Erfüllung dieser Arbeit von gewissen sowjetischen Schriftstellern als Epos dargestellt, aber sie schwiegen über die viele Toten, die es auf dieser und auf so vielen anderen Baustellen gegeben hat“, kritisiert Bettelheim Schriftsteller wie Gorki. Die offizielle Parteigeschichte zitiert Bettelheim mit dieser Apologie der Zwangsarbeit: „Der grandiose Sieg des Sozialismus an allen Fronten macht die breite Beschäftigung der Arbeitskraft von Kriminellen in der Hauptstraße des sozialistischen Aufbaus möglich. Mit dem Eintritt der UdSSR in die Periode des Sozialismus ist die Möglichkeit der Anwendung von Strafmaßnahmen durch Zwangsarbeit unendlich angewachsen.“ Kein erklärter Antikommunist hätte die Idee des Sozialismus mehr pervertieren können, als die VerfasserInnen dieser Zeilen.

Von den neuen Philosophen kontaminiert

Das Erschrecken über die Erkenntnis, einen Sozialismusmodell angehangen zu haben, das sich selber damit preist, die Möglichkeiten der Zwangsarbeit unendlich ausgeweitet zu haben, hat wohl dazu beigetragen, dass in den 1980er Jahren manche der ex-stalinistischen und exmaoistischen Intellektuellen zu ApologetInnen des Kapitalismus geworden sind. Leider ist auch das Buch vor allem im letzten Teil von diesen sogenannten Neuen PhilosophInnen kontaminiert, die ein Loblied auf den freien Westen und die Segnungen des Kapitalismus singen. Warum soll das Buch trotz dieser Kritik zur Lektüre empfohlen werden?

Zunächst dominiert Bettelheims Kritik am Nominalsozialismus und der ökonomische Nachweis, dass der mit Marx nichts zu tun hatte, den Hauptteil des Buches. Er tritt überall dort in die Fallen des Totalitarismus, wo er statt dieser kritischen Analyse einen allgemeinen Rundumschlag in die Weltpolitik wagt. Zudem kann man am Beispiel von Bettelheim sehen, wie kurz der Weg vom autoritären Sozialismus zur Apologie der freien Welt ist, wenn man rätekommunistische und anarchistische Ansätze ausblendet.

Bei Bettelheim wird das Adjektiv „anarchistisch“ selten verwendet, wenn doch, dann im bürgerlichen, falschen Sinn als chaotische Situation. Dabei werden von Bettelheim mit Victor Serge und Ante Ciliga auch zwei Zeitzeugen des Übergangs der Oktoberrevolution zum Zwangssystem als Quellen zitiert, die sich zumindest zeitweise als Anarchisten verstanden haben. Wobei allerdings bei Ciliga nicht unerwähnt bleiben soll, dass er ab Ende der 1930er mit dem faschistischen Ustascha-Regime kollaborierte und noch in den letzten Monaten des NS-Regimes nach Deutschland reiste.

Das entwertet nicht seine Kritik am Stalinismus, die er in seinem 1936 veröffentlichten Buch „Im Land der verwirrenden Lüge“ veröffentlichte. Es wurde 2010 ebenfalls im Verlag „Die Buchmacherei“ wieder aufgelegt. Die Biographie Ciligas zeigt auch, wie notwendig eine schonungslose Kritik nicht nur gegenüber den ApologetInnen des autoritären Sozialismus ist. Auch dessen KritikerInnen können auf unterschiedlichen rechten Abwegen landen.

Peter Nowak

Traumatherapeutin erlebt Albtraum

In einem Münchner Terrorprozess ist auch die Ärztin Büyükavci angeklagt. Kollegen kämpfen für ihre Freilassung

Als die Nürnberger Ärztin Dilay Banu Büyükavci verhaftet wurde, galt sie nach landläufigen deutschen Vorstellungen als »gut integriert«. Nun sitzt sie als politische Gefangene in München-Stadelheim.

Freundlich lächelt Dilay Banu Büyükavci in die Kamera, sie trägt die lockigen Haare als modischen Kurzhaarschnitt, um den Hals hat sie einen dezent gemusterten Schal geschwungen. Es ist eines der wenigen Fotos, die die Öffentlichkeit von ihr kennt. So wie auf diesem Foto mag die Fachärztin für psychosomatische Medizin und Psychiatrie ihren Patienten am Nürnberger Klinikum in Erinnerung geblieben sein. In einem Café in der Nähe des Krankenhauses hatte sie sich 15. April 2015 nach der Arbeit mit Kollegen getroffen, als dort eine schwer bewaffneten Anti-Terror-Einheit einrückte und sie verhaftete.

Seitdem sitzt die 46-Jährige im Hochsicherheitstrakt München-Stadelheim in Untersuchungshaft. Sie wird beschuldigt, die 1972 gegründete Kommunistische Partei der Türkei/Marxistisch leninistisch (TKP/ML) unterstützt zu haben. Diese kämpft in der Türkei auch mit Waffengewalt gegen das türkische Militär.

»Was habe ich mit denen zu tun? Ich habe mich für Migranten und Frauen in Deutschland eingesetzt, in einer Organisation, die in Deutschland nicht verboten ist«, hatte Büyükavci einem Spiegeljournalisten im Sommer nach ihrer Verhaftung erklärt. Tatsächlich werden ihr von der deutschen Anklagebehörde auch keine illegalen oder gar militanten Aktionen vorgeworfen. Doch nach dem Paragrafen 129b kann schon das Spendensammeln sanktioniert werden. Büyükavci wirft die Anklagebehörde vor, die TKP/ML im Rahmen des in Deutschland legalen Arbeitervereins ATIF unterstützt zu haben.

Ihr Medizinstudium hat Büyükavci in der Türkei absolviert. Dort hatte sie sich in ihrer Studienzeit in linken Bewegungen politisiert. Laut dem Nachrichtenmagazin »Der Spiegel« war sie 2005 nach Deutschland gekommen, weil sie sich auf Psychiatrie spezialisieren wollte und es den passenden Studiengang in der Türkei nicht gab. Sie lernte Deutsch, promovierte, arbeitete, beantragte 2012 die deutsche Staatsbürgerschaft, die sie bislang allerdings noch nicht erhalten hat. Auch in Nürnberg engagierte sich Büyükavci politisch. Aktiv war sie bei der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di und in verschiedenen Initiativen zur Unterstützung migrantischer Frauen.

Dabei kümmerte sie sich insbesondere um traumatisierte Frauen. Sie war Mitglied des bayerischen Landesmigrationsausschuss und der Gesellschaft für türkisch sprachige Psychotherapie und psychosoziale Betreuung (GTP). In dieser Funktion organisierte sie Kongresse in der Türkei und in Deutschland. Eine wichtige Rolle spielte sie bei der Organisation eines Fachkongresses zum Thema »Psychologische Aspekte zur Integration von Kulturen«. Dilay Banu Büyükavci steckte gerade Mitten in den Vorbereitungen für einen Nachfolgekongress, als sie verhaftete wurde. Die Veranstaltung musste ausfallen.

Die Nürnbergerin Claudia Steiner findet anerkennende Worte über das Engagement der Frau, die sie wie viele ihrer Bekannten und Freunde Banu nennt. Sie selbst hatte Banu im Nürnberger »8.März-Bündnis« kennengelernt, in dem Frauen unterschiedlicher politischer Richtungen kooperieren. »Wir haben uns immer gewundert, wie sie neben ihrem anspruchsvollen Beruf noch die Kraft für die Arbeit mit den Flüchtlingsfrauen aufbringt«, sagt Schuler gegenüber »nd«.

Zu Beginn ihres Verfahrens in München verlas Banu Büyükavci einer Erklärung: »Ich war vier Monate in Isolationshaft. 23 Stunden allein in der Zelle, eine Stunde Hofgang, wobei ich niemandem begegnen durfte. Warum? Was habe ich getan?« Die Frage nach dem »warum?« stellte sich auch immer wieder die Ärztin Susanne Kaiser, seit sie von der Verhaftung der Büyükavcis erfahren hat. »Ich habe Banu als eine wunderbare Frau und sehr angenehme Kollegin kennengelernt«, erklärt sie gegenüber »nd«. Als sie plötzlich verschwunden war, sei sie verwundert gewesen. Dann bekam sie von einem Kollegen den Tipp, Banus Namen im Internet zu googeln. »Da habe ich dann gelesen, dass sie unter der Beschuldigung verhaftet wurde, Mitglied einer terroristischen Organisation zu sein. »Ich habe sofort gesagt, Banu und Terrorismus, das passt nicht zusammen«, so schildert Kaiser ihre erste Reaktion.

Mit einen kleinem Kreis weiterer Kolleginnen begann sie sich für die Freilassung Büyükavcis einzusetzen. Sie schrieben an verschiedene Landes- und Bundespolitiker, auch Angela Merkel erhielt einem Brief. Die meisten Adressaten reagierten jedoch nicht einmal. Lediglich der Bund der Steuerzahler antworte mit einem freundlichen Brief, erinnerte sich Erika Roth (Name geändert), die mit Susanne Kaiser die Solidaritätsarbeit organisiert und ihren Namen nicht in der Zeitung lesen will. Den Bund der Steuerzahler hatten sie angeschrieben, um auf die Kosten des Münchner Mammutprozesses hinzuweisen.

Seit Juni 2016 wird gegen 10 Angeklagte verhandelt, die wie Banu beschuldigt werden, mit legaler Arbeit die TKP/ML unterstützt zu haben. Ein Ende des Verfahrens ist nach Angaben des Rechtsanwalt Yunis Ziyal nicht abzusehen. Mit Büyükavci wurde auch ihr Kollege und Lebensgefährte Sinan Aydin verhaftet. Beide hatten kurz zuvor ein Haus gekauft. Seit der Verhaftung der beiden zahlt ein Verwandter die monatlichen Hypotheken. Wie lange er die Belastung noch tragen kann, ist ungewiss.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1044784.traumatherapeutin-erlebt-albtraum.htm

Peter  Nowak

Showdown der Rechtspopulisten aus der Türkei und Holland

Während bis in linke Kreise allein Erdogan die Verantwortung für die Eskalation mit den Niederlanden zugeschrieben wird, kommt der Erfolg des Rechtspopulismus oft gar nicht zur Sprache

Die Ministerin eines offiziell verbündeten Landes wird von der Polizei daran gehindert, dass Konsulat ihres Landes zu besuchen und im Anschluss über die Grenze abgeschoben. Hunderte türkische Staatsbürger, die am Auftritt der Ministerin teilnehmen wollten, wurden mit Polizeigewalt auseinander getrieben. Es gab auf beiden Seiten Verletzte.

Was wir in Wochenende in den Niederlanden gesehen haben, hätte vor einigen Jahren noch zu einem Kriegsausbruch zwischen der Türkei und Holland führen können. Im Jahr 2017 blieb es vorerst beim rhetorischen Schlagtausch, wobei Erdogan nun auch Holland unter Faschismusverdacht stellte. Damit sorgte er besonders viel Empörung.

Doch sowohl die Angriffe des Islamisten Erdogan, der in der Türkei offen mit Islamfaschisten und Nationalisten wie den Grauen Wölfen paktiert als auch die empörten Gegenreaktion aus Holland und anderen EU-Ländern sind Inszenierungen.

Auf beiden Seiten profitieren davon die Rechten. In den Niederlanden wollte die von den Rechtsliberalen[1] geprägte Regierung wenige Tage vor den Parlamentswahlen verdeutlichen, dass die holländischen Wähler nicht die rechtspopulistische Freiheitspartei[2] von Geert Wilders wählen müssen, um rechtspopulistische Politik zu bekommen.

Schließlich lag Wilders mit seiner Ein-Mann-Partei in den Prognosen lange Zeit an erster Stelle. In den letzten Wochen konnte der holländische Ministerpräsident Marc Rutte mit seinen Rechtsliberalen in den Prognosen wieder Boden gut zu machen, seit er die rechte Politik von Wilders immer mehr kopiert.

So forderte er in einen Brief Migranten in Holland auf, sich anzupassen oder zu verschwinden. Nun hat er in der türkischen Regierung das Feindbild gefunden, das ihm Wahlerfolg bringen soll. Ob sein Kalkül aufgeht, oder ob nicht wie so oft, wenn sogenannte bürgerlich Parteien die Rechtspopulisten kopieren, das Original profitiert, wird sich am Mittwoch bei den holländischen Wahlen zeigen.

Egal wie sie ausgehen, zeigt das holländische Beispiel einmal, dass der moderne Faschismus in Europa keine Naziparteien und keine SA braucht. Er kommt aus der bürgerlichen Gesellschaft. Diese Erkenntnis der Faschismusforschung der 1970er Jahre hat sich schon oft bestätigt, die Niederlande sind da nur das aktuelle Exempel. Eine solche Faschismusforschung hat nun gar nichts mit den Vorwürfen von Erdogan und seinen Kumpanen zu tun.

Sie spielen nur das Spiel vieler Nationalisten, die jeweils andere Seite zu Faschisten zu erklären. In Holland spielen Rutte und Wilders die gleiche Rolle. Dabei darf man nicht vergessen, dass Wilders, dessen Politik am Wochenende im Umgang mit türkischen Politikern und in Holland lebenden türkischen Staatsbürgern zu beobachten war , im Europaparlament mit Parteien wie der FPÖ und dem Front National kooperiert, die aus dem historischen Faschismus kommen, sich aber in letzter Zeit als Rechtspopulisten davon verbal distanzieren.

Dieses rechte Parteienbündnis kooperiert in Deutschland mit der AfD und hatte sich Ende Januar in Koblenz versammelt. Wilders gilt schon länger beim zersplitterten rechten Spektrum als Vorbild, weil er bei den Wahlen Erfolg hat und es geschafft hat, eine rechte Partei in Holland zu etablieren.

Nachdem Wilders 2015 sogar ein Gastspiel bei einer Pegida-Kundgebung in Dresden gegeben[3]hatte, wurde er endgültig zum Liebling der deutschen Rechten. Nur einige Traditionsnazis nehmen in weiter seine proisraelische Positionierung übel.

Je mehr Wilders zum Star der europäischen Rechten wurde, desto mehr wurde er zum Feindbild der Linken. Daher überrascht es, wie wenig die Umsetzung der Politik des Rechtspopulismus am Wochenende in Holland auf linke Kritik gestoßen ist.

Im Gegenteil, auf einer Kundgebung gegen die drohende Räumung eines Stadtteilladens in Berlin-Neukölln, berichtete eine Rednerin über Proteste gegen die Repression in der Türkei und beendete ihren Beitrag mit einer Klage, dass „unsere Regierung“ es nicht wie in Holland schaffe, Auftritte von türkischen Politikern zu verbieten.

Der Applaus des überwiegend aus der außerparlamentarischen Linken kommenden Zuhörer blieb verhalten. Doch offener Protest gegen die Aufforderung, die deutsche Regierung solle sich am rechtspopulistischen Beispiel aus Holland ein Vorbild nehmen, blieb aus. Das war schon erstaunlich bei einem Publikum, das sich Wilders und seinen politischen Freunden sicherlich mehrheitlich entgegenstellen würde.

Dass die Umsetzung seiner Politik durch die Rechtsliberalen nicht auf genau so viel Widerspruch stößt, liegt daran, dass davon nicht türkische und kurdische Linke, sondern rechte türkische Politiker und deren Anhänger betroffen sind. Doch es ist ein großes Manko, den Rechtspopulismus nur dann zu erkennen und zu bekämpfen, wenn scheinbar die falschen Leute von den Folgen betroffen sind.

Grundmuster müssen offengelegt werden

Es gilt eine rechte Politik auch dann anzuprangern, wenn sie scheinbar die „Richtigen“ also andere Rechte trifft. Schließlich gilt es, die Grundmuster dieser Politik offenzulegen. In den Niederlanden war das die Inszenierung einer Politik des Ausnahmezustands, die Grenzziehung in Autochthone und Menschen, die nicht dazu gehören und deren Grund- und Menschenrechte schon mal eingeschränkt werden können.

Gegen eine solche Politik sollte man sich grundsätzlich und überall wehren. Dass sie im Zweifel immer auch und vor allem Linke und Minderheiten trifft, ist nur ein zusätzliches Argument. Das gegen den Rechtspopulisten in Aktion in den Niederlanden kaum wahrnehmbarer Protest kam, ist ein besonders schlechtes Zeichen. Auch erklärte Wilders-Kritiker wollen sich so kurz vor den Wahlen nicht gegen den nationalen Schulterschluss positionieren.

Nun profilieren sich Politikerinnen und Politiker vor allem der Linken in Deutschland in den letzten Monaten als besonders rigide, indem sie Auftrittsverbote für türkische Politiker fordern[4]. Sie kritisieren die Bundesregierung dafür, dass sie die nationalen Interessen gegenüber der Türkei nicht energischer vertritt.

Selbst die innenpolitische Sprecherin der Linkspartei Ulla Jelpke, die sich als Kritikerin des Nationalismus einen Namen gemacht hat, scheint nun eine deutschnationale Auslegung des Grundgesetzes nicht zu stören, wenn es darum geht, Auftritte türkischer Politiker zu in Deutschland zu verhindern[5]:

Rechtliche Möglichkeiten zum Verbot von Veranstaltungen ausländischer Politiker gäbe es. Die Versammlungsfreiheit nach Artikel acht des Grundgesetzes für Zusammenkünfte unter freiem Himmel ist ausdrücklich als ein Grundrecht nur für „Deutsche“ festgeschrieben.

Ulla Jelpke

Nun erwartet man, dass Jelpke genau diese Grundrechtsformulierung, die Millionen in Deutschland lebende Menschen diskriminiert, kritisiert und eine Änderung des Passus fordert. Doch die Kritik unterbleibt.

Es ist aber ein großer politische Irrtum, solche deutschnationalen Grundgesetzformulierungen, die immer wieder gegen hier lebende Menschen ohne deutschen Pass angewandt werden können, nun als Hilfswerkzeug zur Unterbindung von Wahlkampfauftritten türkischer Regierungsmitglieder nutzen zu wollen.

Dazu könnten auch mal türkische Oppositionspolitiker befragt werden, die vehement gegen die Auftrittsverbote türkischer Regierungsvertreter in Europa Stellung bezogen haben. Ihr plausibles Argument lautet, dass diese Auftrittsverbote dem Erdogan-Lager Stimmen beim Referendum bringen, weil sie das nationalistische und islamistische Lager einen.

Wie die Rechtspopulisten in Holland und anderswo setzten auch die in der Türkei auf den nationalen Schulterschluss. Auch in Deutschland werden aus de Reihen der Unionsparteien wieder Forderungen nach Abschaffung der doppelten Staatsbürgerschaft laut. Das würde auch das Erdogan-Lager in der Türkei sehr freuen, hilft es doch bei deren nationalen Formierung.

Solidarität mit den Opfern der deutsch-türkischen Kooperation

Eine emanzipatorische Alternative gegen das Showdown der Rechtspopulisten aller Couleur ist die klare Zurückweisung beider Varianten. Statt sich gegenüber der Bundesregierung als bessere Vertretung deutscher Interessen zu profilieren, sollte mit jenen türkischen und kurdistischen Aktivisten Solidarität gezeigt werden, die schon den Staatsterrorismus in der Türkei bekämpften, als Erdogan noch völlig unbekannt war.

Zurzeit läuft in München ein Mammutprozess gegen türkische Linke[6], der ohne enge die deutsch-türkische Kooperation auf dem Gebiet der Justiz nicht denkbar wäre. Trotzdem findet der Prozess fast unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt.

Selbst als die türkischen Justizbehörden ihren deutsche Kooperationspartnern Spitzelberichte[7] übermittelten, die sie in linken migrantischen Strukturen in Deutschland gesammelt hatten, nahm die Öffentlichkeit kaum Notiz davon.

Als vor einigen Wochen bekannt wurde, dass vermeintliche Gülen-Anhängern in Moscheen in NRW bespitzelt wurden[8], hatte das das Zeug für eine kleine Staatsaffäre.


https://www.heise.de/tp/features/Showdown-der-Rechtspopulisten-aus-der-Tuerkei-und-Holland-3651394.html

Peter Nowak

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[1] https://www.vvd.nl/
[2] http://www.pvv.nl/
[3] https://www.welt.de/politik/deutschland/article139500556/Seltsame-Geschichtsvergleiche-des-Pegida-Ehrengasts.html
[4] https://www.sevimdagdelen.de/deutschland-ist-keine-wahlkampfarena-fuer-die-tuerkei/
[5] https://www.jungewelt.de/artikel/306727.keine-hetze-im-hochzeitssalon.html
[6] https://www.tkpml-prozess-129b.de
[7] https://www.tkpml-prozess-129b.de/de/23-01-2017-beweise-aus-folter-und-spionage/
[8] https://www.heise.de/tp/features/Ditib-als-Bauernopfer-3604641.html

Erfurter Filmverein obsiegt gegen die FPÖ

Die rechtspopulistische FPÖ kann sich nicht mehr rauswinden und muss die Gerichtskosten zahlen. Jetzt ist ein Urteil rechtskräftig, dass der Partei bescheinigt, das Urheberrecht der Erfurter Filmpirat_innen verletzt zu haben, als sie Ausschnitte aus deren Videos ohne Genehmigung auf ihrem eigenen Kanal verwendete.

Beim Erfurter Verein Filmpiratinnen und Filmpiraten e.V. knallten am vergangenen Freitag die Sektkorken. Das Medienkollektiv feierte den juristischen Sieg gegen die rechtspopulistische Freiheitliche Partei Österreichs. Der Oberste Gerichtshof Österreichs hatte die Revision der FPÖ gegen ein Urteil des Wiener Handelsgerichts vom letzten Jahr zurückgewiesen. Damit ist ein Urteil rechtskräftig, das den RechtspopulistInnen bescheinigte, die Urheberrechte des Filmkollektivs verletzt zu haben, als sie auf dem Kanal FPÖ-TV ohne Zustimmung und Nennung der Quellen Ausschnitte aus einem Videobericht über den Prozess gegen den Jenaer Studenten Josef S. verwendete. S. war 2013 bei einer Demonstration gegen den von der FPÖ organisierten Wiener Akademikerball unter der Beschuldigung des schweren Landfriedensbruchs festgenommen worden und saß trotz unklarer Beweislage monatelang in Untersuchungshaft.

Die FilmpiratInnen hatten von der FPÖ eine Unterlassungserklärung gefordert, ihr Videomaterial nicht mehr zu verwenden. Daraufhin verklagte die FPÖ die Filmaktivist_innen vor dem Handelsgericht wegen falscher Anschuldigungen und Behinderung der Meinungsfreiheit. Hätte die Rechtspartei mit ihrer Klage Erfolg gehabt, wäre die Existenz des Filmkollektivs schon wegen der hohen Kosten gefährdet gewesen. Nachdem die Filmpirat_innen an die Öffentlichkeit gegangen waren, trafen Spenden und Unterstützungserklärungen ein. Die Klage der FPÖ wurde als Einschüchterungsversuch gewertet – zumal die Rechtspartei in den letzten Jahren weitere Medien und Einzelpersonen, die sich kritisch über sie äußerten, mit Klagen überzogen hat.

FPÖ setzt Urheberrechtsverletzung fort

Nun muss die FPÖ alle Kosten des Verfahrens tragen. Doch für die FilmpiratInnen ist trotz des Erfolges die juristische Auseinandersetzung mit der FPÖ womöglich nicht beendet. Denn noch immer wird auf den Youtube-Kanal FPÖ-TV ihr Videomaterial verwendet. Damit setzen die Rechtspopulisten die Urheberrechtsverletzung fort. Da nun ein rechtskräftiges Urteil dazu vorliegt, könnten die Chancen gestiegen sein, dass das Filmkollektiv seine Rechte durchsetzen kann und die FPÖ auch Schadenersatz zahlen muss. Doch ließ Jan Samende vom Filmpirat_innenverein bislang offen, ob man weitere juristische Schritte einleite: „Wir werden jetzt innerhalb des Vereines unser weiteres Vorgehen besprechen.“

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https://mmm.verdi.de/internationales/erfurter-filmverein-obsiegt-gegen-die-fpoe-39415

Peter Nowak

Flüchtlingsabwehr in der EU

Während man sich in Europa über die restriktiven Flüchtlingsgesetze der Trump-Regierung echauffiert, wird die Festung Europa weiter ausgebaut

Ungarn will alle Flüchtlinge im Land künftig in Transitzonen nahe den Außengrenzen festhalten, bis über ihr Asylverfahren endgültig entschieden wurde (vgl. Ungarn: „Verpflichtender Aufenthaltsort“ für Flüchtlinge und ein böses Spiel[1]). Das Parlament in Budapest verabschiedete einen entsprechenden Gesetzentwurf am Dienstag mit den Stimmen der rechtskonservativen Regierung sowie der oppositionellen faschistischen Jobbik-Partei. Es ist den Asylbewerbern somit unmöglich, sich in Ungarn frei zu bewegen, so lange ihr Verfahren läuft.

Der Europäische Gerichtshof[2] hat ebenfalls heute entschieden, dass die EU-Mitgliedstaaten keine humanitären Kurzzeitvisa ausstellen müssen (EuGH lehnt Pflicht für humanitäre Visa für Flüchtlinge ab[3]) Ein syrisches Ehepaar aus Aleppo hatte geklagt, nachdem es in der belgischen Botschaft in Beirut Anträge für sich und die beiden Kinder stellte.

Wäre dem Antrag stattgegeben worden, hätte eine Bresche in die Festung Europas geschlagen werden können. Denn im Vorfeld hatte der Generalstaatsanwalt mit einer humanitären Argumentation dafür plädiert, diese Visa zu gewähren. Oft folgt der Gerichtshof diesen Anregungen, in diesem Fall allerdings nicht[4]. Die Regierungen der EU-Staaten sind zufrieden, denn so bleibt das bisherige System der Flüchtlingsabwehr erhalten, das dafür sorgt, dass immer wieder Menschen im Mittelmeer ertrinken.

Da die politischen Verhältnisse in den meisten europäischen Ländern eine Veränderung der restriktiven Flüchtlingsgesetze in absehbarer Zukunft kaum als realistisch erscheinen lassen, erhoffen sich viele Nichtregierungsorganisationen humanitäre Akzente eher über juristische als über politische Entscheidungen. Doch das heutige Urteil machte einmal mehr deutlich, dass diese Hoffnungen sehr begrenzt sind. Es kommt schon vor, dass Gerichte manchmal fortschrittlicher sind als die Politiker.

Aber dabei geht es immer um das gesamtstaatliche Interesse, das öfter im Widerspruch zu partikularen Interessen von Politikern geraten kann. So haben Gerichtsentschiede öfter auch eine beruhigende Funktion, wenn Politiker gesellschaftliche Probleme ignorieren und damit gesellschaftliche Widersprüche zu groß werden. Doch gerade in der Flüchtlingsfrage steht in den meisten europäischen Ländern der Großteil der Bevölkerung hinter der harten Haltung, die auch die meisten Politiker an den Tag legen.

Ausnahmen gibt es in Katalonien, wo es Massendemonstration für eine humanitäre Flüchtlingspolitik gab (vgl. Menschenflut für Flüchtlinge in Barcelona[5]). Das macht auch deutlich, dass Erklärungen kurzschlüssig sind, die die Abwehr von Geflüchteten mit den Krisenlasten erklären, die viele Menschen zu tragen haben.

Da wird suggeriert, wo Menschen schon Not und Mühe haben, um über die Runden zu kommen, sei es fast natürlich, dass Flüchtlinge abgelehnt werden. Doch diese Erklärung ist falsch. Nicht die Krise, sondern die Frage, wie sich die Menschen diese Krise und ihre Prekarisierung erklären, entscheidet, ob sie Flüchtlinge eher ablehnen oder willkommen heißen.

Wenn sie sozialchauvinistischen Vorstellungen folgen, sehen sie in Geflüchteten, aber auch in Kolleginnen und Kollegen Konkurrenten, die sie ablehnen. Doch, wo es soziale Bewegungen gibt, die mit emanzipatorischen Ansätzen der Selbstorganisation auf die Krise reagieren, wie in Spanien, werden Geflüchtete willkommen geheißen wie in Barcelona.

Weil solche emanzipatorischen sozialen Bewegungen heute in Europa selten sind, sind auch Massenbewegungen für ein Willkommen für Geflüchtete so selten. Eher dominiert die Flüchtlingsabwehr wie in Ungarn, in Österreich oder auch in Deutschland. Es gibt dabei sicher graduelle Unterschiede in den unterschiedlichen EU-Ländern. Doch sie eint der Wille, den Flüchtlingen den Zugang nach Europa möglichst schwer zu machen.

Daher ist es auch so heuchlerisch, wenn sich nach dem Wahlsieg von Trump in den USA Europa als humanitäre Alternative geriert. Während man sich über die geplante Mauer zwischen den USA und Mexiko in der EU echauffiert und sogar überlegt, Trump die Einreise in einige europäische Länder zu erschweren, wird die Festung Europas selber immer mehr ausgebaut. Die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs und die ungarischen Gesetze haben diese Festung noch ein Stück weiter verschlossen.


https://www.heise.de/tp/features/Fluechtlingsabwehr-in-der-EU-3646525.html

Peter Nowak

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[1] https://www.heise.de/tp/features/Ungarn-Verpflichtender-Aufenthaltsort-fuer-Fluechtlinge-und-ein-boeses-Spiel-3646400.html
[2] http://curia.europa.eu/jcms/upload/docs/application/pdf/2017-03/cp170024de.pdf
[3] https://www.heise.de/tp/news/EuGH-lehnt-Pflicht-fuer-humanitaere-Visa-fuer-Fluechtlinge-ab-3646341.html
[4] http://www.zeit.de/politik/ausland/2017-02/asylpolitik-eu-fluechtlinge-humanitaere-visa-botschaften-eugh-paolo-mengozzi
[5] https://www.heise.de/tp/news/Menschenflut-fuer-Fluechtlinge-in-Barcelona-3630543.html

Mietergemeinschaft kritisiert Wohnungspolitik

Rot-Rot-Grün setze sich nur rhetorisch, nicht inhaltlich von den Vorgängerregierungen ab, so das Resümee

Die Berliner Mietergemeinschaft hat die Schonfrist für den rot-rot-grünen Senat mit der Veröffentlichung eines vierseitigen Papiers für beendet erklärt. «Positionierung zur Wohnungspolitik von »R2G« ist es überschrieben, verfasst wurde es von aktiven Mitgliedern mehrerer Bezirksgruppen der Mietergemeinschaft. »Gegen die Mietenpolitik des rot-rot-grünen Senats gibt es im Abgeordnetenhaus keine linke Opposition«, sagt Philipp Mattern, einer der Autoren des Positionspapiers.

Mattern engagiert sich in der Friedrichshainer Bezirksgruppe und ist Redaktionsmitglied der hauseigenen Publikation »Mieterecho«. Er findet, dass auch die außerparlamentarischen Initiativen bisher kaum fundierte Kritik an der Mietenpolitik des neuen Senats üben.

Das Papier soll die Diskussion über eine neue mietenpolitische Opposition anstoßen. Gleich zu Anfang steht die These, dass es unter Rot-Rot-Grün keinen Bruch mit der Wohnungspolitik der Vorgängerregierungen gibt. Die Koalitionsvereinbarungen setzten sich vor allem in der Rhetorik, nicht aber im Inhalt von Rot-Schwarz ab.

Die zentrale Kritik der mietenpolitischen Aktivisten lautet, dass die drängenden Probleme des Wohnungsmarkts nicht benannt werden. »Begriffe wie ›Wohnungsnot‹ und ›Wohnungsmangel‹ tauchen schlichtweg nicht auf«, monieren die Kritiker. »Das Wohnungsproblem wird vom Senat nicht als Mehrheitsproblem anerkannt, sondern wie ein Randgruppenphänomen behandelt«, kritisiert Mattern. Das Papier verweist darauf, dass rund 60 Prozent der Haushalte aufgrund ihrer Einkommenssituation einen Wohnberechtigungsschein beanspruchen können.

Vor allem beim Bau landeseigener Wohnungen enttäusche das Koalitionspapier maßlos, heißt es im Papier. Die geplanten 30 000 Wohnungen in fünf Jahren seien nicht geeignet, den bestehenden Wohnungsmangel zu beheben. Die Verfasser verweisen auf eine Studie von Andrej Holm, die der inzwischen geschasste Wohn-Staatssekretär im Mai 2016 für die LINKE verfasste: Demnach fehlen in Berlin 125 000 Wohnungen. »Auch diese selbst produzierten Erkenntnisse werden in der Koalitionsvereinbarung negiert«, so das Resümee der Mietergemeinschaft.

Auch auf dem Gebiet der energetischen Sanierung, die mittlerweile zum Instrument der Verdrängung geworden sei, seien die Aussagen des Koalitionsvertrages enttäuschend. »Die Modernisierungsmieterhöhung nach Paragraf 559 des Bürgerlichen Gesetzbuchs muss abgeschafft werden«, sagt Mattern. »Es fehlt ein Ansatz, der in diese Richtung geht.«

Die Kritiker schreiben weiter: »Der neue Senat setzt sich rhetorisch von seinem Vorgänger ab, tatsächlich bedient er alte Rezepte und zeigt kein wirklich neues Problembewusstsein.« Sie verweisen darauf, dass die angekündigte Aufstockung der Bestände der landeseigenen Wohnungsbauunternehmen auf 400 000 Wohnungen durch Zukauf und Neubau schon in der im April 2016 veröffentlichten Roadmap der SPD und CDU aufgeführt wurde – allerdings mit einem Fahrplan von zehn Jahren statt wie jetzt von fünf. Mattern resümiert: »Es ist ein Zeugnis erschreckende Hilflosigkeit, die den realen Problemen auf dem Berliner Wohnungsmarkt in keiner Weise gerecht wird.«

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1043970.mietergemeinschaft-kritisiert-wohnungspolitik.html

Peter Nowak

Viel Unterstützung für Kiezladen in der Friedelstraße

„Neue Eigentümer, Modernisierung, Mieterhöhung, Kündigung“, stand auf dem Transparent der Neuköllner Kiezversammlung. Es wurde von einer Gruppe von ca. 20 Personen getragen, die mit einer kleinen Demonstration zur Friedelstraße 54 ihre von Räumung bedrohten Nachbar/innen begrüßten. Dem  Kiezladen F54, der im Erdgeschoss des Hauses sein Domizil hat, droht im April die Räumung. Zunächst wehrten sich die Bewohner/innen gegen die Pläne der Wiener Immobilienfirma  CITEC Immo Invest, das Haus Friedelstraße 54  zur Kapitalanlage zu machen. Die Firma hatte bereits  im Winter 2016  ein Baugerüst vor dem Gebäude aufstellen lassen. Doch zu der angekündigter Modernisierung ist es nie gekommen. Nachdem  die Bewohner/innen des Hauses, Ladenbetreiber/innen und Unterstützer/innen im März 2016 die Citec in Wien besucht hatten, begannen Gespräche über den Kauf.  Doch die Citec führte nur Scheinverhandlungen und verkaufte das Haus an die Firma  Pinehill in Luxemburg.  In einer Klausel im  Kaufvertrag  verpflichten sich die neuen Eigentümer, die bereits von der Citec eingereichte Kündigung des Kiezladens weiter zu betreiben. Das macht den Unwillen der Citec deutlich, dass der F54 nicht nur die Mieter/innen in der Friedelstraße 54 zum Protest gegen die drohende Verdrängung ermutigte. Sie brachten auch Mieter/innen anderer Citec-Häuser in Berlin an einen Tisch. Bei diesen Treffen stellte sich heraus, dass es in all den Häusern  ähnlich negative Erfahrungen mit dem Investor gibt. Bei einer Verhandlung im Spätherbst letzten Jahres  regte das Gericht einen Räumungsaufschub bis Ende März 2017 an. Die Ladenbetreiber/innen hatten aber sofort deutlich gemacht, dass sie auch danach nicht freiwillig gehen werden. Seit mehreren Wochen hatten sie mit ihren Anwält/innen  gegenüber der Pinehill signalisiert,  dass sie einen neuen  Vertrag zu den alten Konditionen abschließen würden.  Nachdem die Grundstücksverwalter in einem kurzen Schreiben an den Verein  des Kiezladens Akazie e.V., klarstellte, dass es kein Vertragsangebot geben werde, begann die Mobilisierung gegen die drohende Räumung.

Kundgebungen  sollen zur Organisierung von Mieter/innen beitragen

Unter dem Motto  „Kiezladen 54 kämpft uns Überleben“ werden nun jeden Sonntag zwischen 14 und 16 Uhr vor dem Haus Kundgebungen mit Kaffee, Tee und Kuchen organisiert. Dabei soll nicht nur der Kiezladen im Mittelpunkt stehen. „Eingeladen sind Kiez- und MieterInneninitiativen aus ganz Berlin“, erklärte Matthias Sander“ vom Verein Akazie e.V. gegenüber MieterEcho-Online. Bei der ersten Kundgebung hat dieses Konzept gut funktioniert. Es haben sich Initiativen vorgestellt, die in Neukölln und Friedrichshain gegen Verdrängung aktiv sind. Ein Vertreter der Neuköllner Kiezversammlung, die vor einigen Monaten auf Initiative des F54 entstanden ist und sich seitdem zu einem Forum entwickelt hat,  in dem sich Bewohner/innen von Neukölln unabhängig von Parteien und politischen Lobbygruppen gegen  die unterschiedlichen Formen von Verdrängung einsetzen, wies auf einen Aspekt hin, den die Mieter/innen mehr Aufmerksamkeit widmen sollten.  Es geht um Versuche von Unternehmen wie von Airbnb Berlin, die in Berlin gütige Zweckentfremdungsverordnung abzumildern oder ganz auszuhebeln.  Dazu bedienen sie Methoden der Community Organizing, beteiligen sich an der Gründung vom Homesharing-Clubs, die am 12.2.2017 in Neukölln einen  Airbnb-Marsch  organisierten. Auch die Airbnb-Konkurrenz versucht mit der Apartmentallianz die Zweckentfremdungsverordnung auf juristischem Wege auszuhebeln.  Es ist zu hoffen, dass auch auf den nächsten Kundgebungen Sonntag zwischen 14 und 16 Uhr  vor der Friedelstraße über Strategien der Investoren informiert und die Vernetzung der Mieter/innen dagegen vorangetrieben wird.
http://www.bmgev.de/mieterecho/mieterecho-online/friedelstr-54-unterstuetzung.html

MieterEcho online 06.03.2017

Peter Nowak

Showdown Erdogan gegen Merkel nützt beiden Regierungen

Im Hintergrund läuft die Kooperation auf Justizebene zwischen beiden Ländern weiter

Fast fühlt man sich an die Zeiten des Stalinismus erinnert, wo Oppositionelle als trotzkistisch-faschistische Agenten diffamiert und verfolgt wurden, wenn der türkische Präsident Erdogan den Journalisten Deniz Yücel gleich zum „deutschen Agenten und PKK-Mitglied“ stempelt[1].

Die Message von Erdogan ist klar, er spielt die nationalistische Karte und will bei den rechten Wählern Stimmen für sein Referendum sammeln. Da helfen starke Worte gegen Deutschland immer. Deniz Yücel ist da nur das Opfer, auf dessen Rücken der Streit ausgetragen wird. Es ist auch die Rache von türkischen Nationalisten und Islamisten an einer Merkel-Regierung, die eigentlich schon immer deutlich gemacht hatte, dass sie die Türkei nicht in der EU haben will.

Lediglich privilegierte Beziehungen waren vorgesehen und die Ablehnung, die Türkei in die EU aufzunehmen, hatte immer auch einen Beigeschmack der Verteidigung des christlichen Abendlandes und wurde in der Türkei auch so verstanden. Die Union wollte der Türkei, den Weg nach Europa erschweren, schließlich hatte man die Türken bereits hunderte Jahre zuvor vor Wien gestoppt.

Dass es in Teilen der türkischen Linken berechtigte Argumente gegen einen EU-Beitritt gibt, steht auf einem anderen Blatt. Doch ist es ein Unterschied, ob in der Türkei eine linke Opposition gegen einen EU-Beitritt agiert oder ob in einem EU-Kernland mit christlich-abendländischen Gründen gegen einen EU-Beitritt der Türkei mobilisiert wird.

Diese Vorgeschichte wird oft vergessen, wenn so getan wird, als wäre der jüngste Konflikt zwischen den Regierungen von Deutschland und der Türkei nur die Folge eines größenwahnsinnigen Sultan-Imitators aus Ankara.

Vielmehr wird der Konflikt von Deutschland und der Türkei vorangetrieben und nutzt in beiden Ländern den Regierungen sowie den rechten Strömungen. In der Türkei will Erdogan die rechte Opposition, einschließlich der offen faschistischen Strömungen, mit der Volte gegen Deutschland vor dem Referendum hinter sich sammeln.

Doch auch in Deutschland kann zunächst die Union von dem Konflikt profitieren. Diejenigen, welche die Türkei schon immer für nicht EU-kompatibel bezeichnet haben, können sich bestätigt fühlen. Es gab noch vor einigen Jahren vor allem bei den Grünen und den Sozialdemokraten Stimmen, die sich für weitere Kontakte zwischen der EU und der Türkei aussprachen und darauf hinwiesen, dass die Rechte in der Türkei von einer ablehnenden Haltung profitieren kann.

Diese Kräfte bezogen sich vor allem auf liberale Gruppen, Reformlinke und Teile der kurdischen Bewegung, die sich von einer Annäherung der Türkei an die EU eine Stärkung der Menschenrechtsposition erhofften. Linke Gruppen in und außerhalb der Türkei haben bereits seit Langem darauf hingewiesen, dass diese Vorstellung illusionär ist.

Tatsächlich könnte die Einführung der F-Typ-Zellen[2] in der Türkei – eine Form der Isolationshaft, gegen den sich politische Gefangene mit Hungerstreiks wehrten und die viele Opfer forderte[3] – im Jahr 2000 als Einführung von EU-Standards bezeichnet werden. Die Türkei-Korrespondentin der Beriner Zeitung schrieb[4] damals:

„Hier werden die Insassen in kleinen Zellen untergebracht, während sie in der Regel in großen Gemeinschaftszellen leben. Zehn weitere dieses modernsten Gefängnistyps sollen noch bis zum Ende des Jahres entstehen und andere, bereits bestehende Haftanstalten, nach diesem europäischen Modell umgebaut werden. Mit der Reform des Gefängnissystems und dem Bau des F-Typs erfüllt das Justizministerium die politischen Kriterien, die der Europarat 1993 in Kopenhagen aufgestellt hat.“

Heute sind aber auch bei den Linksliberalen kaum noch Stimmen zu hören, die eine EU-Option für die Türkei für möglich halten. Heute dominiert in Deutschland eine ganz große Koalition von der Linkspartei bis weit rechts von der Union, die Erdogan in die Schranken weisen wollen. Oft wird sogar ein propagandistisches Bild projiziert, als würde Erdogan in Deutschland mitregieren und Merkel wurde aufgefordert, sich nicht von ihm erpressen zu lassen.

Da werden aber die Machtverhältnisse auf groteske Weise umgekehrt. Tatsächlich kann Erdogan gegenüber den Deutschen auf dem Rücken von Deniz Yücel den starken Mann markieren. Viel mehr Macht hat er aber auch nicht. Selbst nach der Zuspitzung der Auseinandersetzung wird beispielsweise das Flüchtlingsabkommen nicht infrage gestellt. Denn die Türkei will den Eindruck vermeiden, man könne sich auf sie als Pförtner der Festung Europas nicht mehr verlassen.

Schon das osmanische Reich wurde von der deutschen Regierung als Pforte bezeichnet und diese Rolle spielt die Türkei bis heute weiter. Damit sind auch die Machtverhältnisse deutlich. Von einem Reinregieren der Türkei nach Deutschland kann keine Rede sein.

Allerdings wird ein Teil der in Deutschland lebenden türkischen Staatsbürger von der Erdogan-Regierung als Einflussfaktor wahrgenommen. Es wird eine osmanische Volkstumspolitik getrieben. Die Wahlkampfreisen türkischer Politiker spielen dabei eine wichtige Rolle.

Wenn diese Auftritte nun aus unterschiedlichen Gründen unterbunden werden, kann die türkische Regierung auch zufrieden sein. Mittlerweile haben sich sogar Erdogan-Gegner zu Wort gemeldet, die jetzt beim Referendum für Erdogan stimmen werden. Bei ihnen wirkt das nationalistische Paradigma noch, dass die Differenz mit der türkischen Regierung weniger wichtig ist als das Schließen der türkischen Reihen im Ausland.

Wenn jetzt von Politikern der unterschiedlichen Parteien gefordert wird, die Auftritte von AKP-Politikern in Deutschland zu verbieten, kann sich die Union als Verteidigerin des Abendlandes gegen die Türkei inszenieren. Die Kräfte rechts davon verwenden offen eine christlich-abendländische Metapher, wenn sie den Einmarsch türkischer Politiker nach Deutschland und in andere EU-Länder verhindern wollen.

Wenn aus einer politischen Frage ein Problem der Straßenverkehrsordnung wird

Doch die Stimmen, die eine klare Position der Bundesregierung zum Auftritt türkischer Politiker in Deutschland fordern, sind ein Fortschritt gegenüber dem Trauerspiel der letzten Tage. Da wurden Wahlkampfauftritte türkischer Politiker mit ordnungsrechtlichen Begründungen abgesagt.

Die Halle sei zu klein oder es gäbe nicht genügend Parkplätze, hieß es dann. So wird aus einer eminent politischen Frage ein Problem der Straßenverkehrsordnung und die ist in Deutschland bekanntlich wichtiger als das Grundgesetz. Vielleicht hätte man eine gefährdete Tierart finden können, die durch den Auftritt der türkischen Politiker Schaden nehmen könnte. Hier zeigt sich auch, dass im Zweifel die liberale und die illiberale Demokratie zu ähnlichen Mitteln greifen.

Auch in Russland und in der Türkei stehen plötzlich Räume aus baurechtlichen Gründen nicht zur Verfügung, wenn die Themen nicht genehm sind. Da ist es auf jeden Fall ein Fortschritt, wenn eine Regierung sich klar für oder gegen den Auftritt türkischer Politiker positioniert.

Dagegen kann man gegebenenfalls protestieren bzw. es können Rechtsmittel eingelegt werden. Wenn hingegen die Frage der Politikerauftritte zu einem Problem des Baurechts und der Straßenverkehrsordnung gemacht wird, werden diese Rechte verwehrt.

Insgesamt gibt es gute Gründe, gegen solche Politikerauftritte zu protestieren. Mit ihnen könnte man im Grunde genauso umgehen wie mit den Auftritten deutscher Rechtspolitiker. Man könnte mit zivilgesellschaftlichem Widerstand, eventuell mit Blockaden diese Treffen behindern. Problematisch ist hingegen ein staatliches Verbot, bei dem es mehr um Abendlandverteidigung geht, die jetzt moderner als „Verteidigung des freien Westens“ bezeichnet wird.

Um die Verteidigung von Demokratie und Freiheit geht es dabei am wenigsten. Das macht sich schon daran deutlich, dass der wesentlich von der deutschen Regierung eingefädelte Flüchtlingsdeal zwischen der Türkei und der EU weiterhin nicht infrage gestellt wird. Auch die Kooperation zwischen der türkischen und der deutschen Justiz zur Verfolgung türkischer und kurdischer Oppositioneller läuft reibungslos weiter.

Erdogans Gegner werden in Deutschland weiterhin kriminalisiert und nach AKP-Manier verfolgt

Davon sind vor allem kurdische Aktivisten betroffen. Immer wieder gibt es in Deutschland Festnahmen und die Prozesse gegen Menschen, die sich für kurdische Nationalbewegung in der Türkei engagieren, laufen meistens ohne großes öffentliches Interesse. Erst vor kurzen forderte die Föderation Demokratischer Arbeitervereine[5] ein Ende der Kriminalisierung von kurdischen Aktivisten und Organisationen[6]. Dort wurde über einen besonders schweren Eingriff in die Menschenrechte eines engagierten Erdogan-Gegners informiert:

Dem Co-Vorsitzenden des Demokratischen Gesellschaftszentrums der KurdInnen in Deutschland e.V. (NAV-DEM[7]), Bahattin Dogan, wurde durch das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig das Recht auf freie Bewegung entzogen und sein Aufenthaltsstatus aberkannt. Die Begründung des Gerichts sind die politischen Aktivitäten, die Dogan im Rahmen seines Amtes als Co-Vorsitzender der kurdischen Dachorganisation NAV-DEM ausübt.

Föderation demokratischer Arbeitervereine

Erst am 9. Februar wurde eine Razzia gegen zahlreiche kurdische Aktivsten und Vereine in Essen durchgeführt. Die Betroffenen sprechen von Verfolgungen in AKP-Manier[8].

Seit Monaten läuft in München ein weiteres Mammutverfahren gegen entschiedene Gegner von Erdogan und der AKP[9], das sich gegen Organisationen richtet, die in Deutschland nicht verboten ist und ganz legal arbeiten[10]. Die Angeklagten[11], die seit Monaten in Untersuchungshaft sitzen, haben in Deutschland Solidaritäts- und Menschenrechtsarbeit gemacht.

Der gesamte Prozess war nur durch die jahrelange Kooperation zwischen der deutschen und türkischen Justiz möglich[12]. Welche Folgen die Repression für die Betroffenen hat, wird am Beispiel der Ärztin Dr. Dilay Banu Büyükavci[13] besonders deutlich. Sie hat bis zur ihrer Festnahme in einer Klinik in Nürnberg gearbeitet und war auch neben ihrem Beruf in der Betreuung von geflüchteten Frauen engagiert. Durch ihr berufliches und gesellschaftliches Engagement hat sich ein Kreis von Freunden und Kolleginnen gebildet, die sie unterstützen.

„Ich habe Frau Büyükavci als engagierte Kollegin und Demokratin kennengelernt und kann nicht verstehen, warum sie nun vor Gericht gezerrt wird“, erklärte eine ehemalige Kollegin gegenüber Telepolis. Sie macht auf das individuelle Schicksal aufmerksam: Frau Büyükavci hatte gemeinsam mit ihrem Mann, der ebenfalls in Untersuchungshaft und angeklagt ist, ein Haus gekauft.

Die Hypothek muss jetzt ein Verwandter weiter abbezahlen, es ist unklar, wie lange ihm das möglich ist. Die engagierten Kolleginnen haben verschiedene Politiker und auch den Bund der Steuerzahler angeschrieben. Sie können nicht verstehen, warum so viel Geld für einen Prozess ausgegeben wird, der nur das Ziel hat, entschiedene Gegner der AKP-Regierung auszuschalten. Mittlerweile hat sich der Kreis der Unterstützer erweitert.

Demnächst wird unter dem Motto[14] „Warum ist Dilay hinter Gittern?“ eine Informationsveranstaltung im Münchner DGB-Haus über eine Frau informieren, die in Deutschland mit AKP-Methoden verfolgt wird.

Es wäre an der Zeit, wenn sich ein Teil der Menschen, die sich jetzt über Erdogan und seine Methoden echauffieren, auch engagieren würden, wenn die Methoden in München angewandt werden. Dabei ist hier nicht „der lange Arm Erdogans“ aktiv, sondern die deutsche Justiz hat wie auch bei den Verfahren gegen kurdische Aktivisten durchaus ein Eigeninteresse an der Verfolgung.

So groß der Streit zwischen den Regierungen in der Türkei und in Deutschland zurzeit auch ist – wenn es gegen konsequente Regierungsgegner geht, wird weiter kooperiert.


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Peter Nowak

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[1] https://www.heise.de/tp/features/Erdogans-Deutschland-Wahlkampf-abgesagt-3644262.html
[2] http://archiv.nostate.net/gib.squat.net/abc/HS/f-typ.html
[3] http://www.spiegel.de/politik/ausland/todesfasten-in-der-tuerkei-immer-mehr-haeftlinge-sterben-a-128340.html
[4] http://www.berliner-zeitung.de/die-gefaengnisse-der-tuerkei-werden-eu-gerecht-gemacht-aufstand-im-knast-16692314
[5] http://www.didf.de
[6] http://www.didf.de/blog/schluss-mit-der-kriminalisierung-von-kurdischen-aktivisten-und-organisationen/
[7] http://www.navdem.com/de/startseite
[8] http://www.navdem.com/de/razzien-und-festnahmen-in-essen-verfolgung-von-kurdischen-aktivistinnen-in-deutschland-nach-akp-manier/
[9] http://facebook.com/atif.hannover/posts/570404106454368
[10] https://www.tkpml-prozess-129b.de/de/
[11] https://www.tkpml-prozess-129b.de/de/die-angeklagten
[12] https://www.tkpml-prozess-129b.de/de
[13] https://www.tkpml-prozess-129b.de/de/die-angeklagten
[14] http://www.dkp-suedbayern.de/index.php?option=com_content&view=article&id=42&Itemid=55