Michael Hirsch, Kilian Jörg, Durchlöchert den Status quo! Verlag, Edition Nautilus, Hamburg 2025 Seiten, 150 Seiten, 16 Euro ISBN 978-3-96054-393-0

SCHAFFT ZWEI, DREI, VIELE ZADS

Eine Streitschrift gegen die Alternativlosigkeit regt zur Diskussion an. Es geht im Buch nicht primär um die wechselvolle Geschichte der ZAD in der Bretagne, diese ist vielmehr Ausgangspunkt der philosophischen und politologischen Überlegungen der Autoren. Ihr Ansatz ist auch als „radikaler Reformismus“ bekannt.

Ein knapp 1650 Hektar großes Gelände in der Nähe von Nantes in der Bretagne hielt seit vielen Jahren Linksalternative und Klimaaktivist*innen in Atem. Denn in der überwiegend landwirtschaftlich genutzten Region in Frankreich sollte ein Flughafen gebaut werden. Der Plan wurde durch Widerstand aus der Bevölkerung mit Unterstützung von Menschen aus vielen Ländern verhindert. Statt eines neuen Airports wird dort …

… weiterhin Gemüse angebaut. In der linksalternativen Szene ist die Region im Westen Frankreichs seitdem als ZAD de Notre Dames des Landes bekannt.

Alternativen im Hier und Jetzt 

Notre Dames des Landes heißt die dortige Gemeinde, und die Abkürzung ZAD steht für zone à défendre, zu verteidigende Zone. „ZAD oder zad: ein zumeist ländliches Gebiet, das von Aktivisten besetzt wird, die sich einem staatlichen Planungsprojekt entgegenstellen, das sie für unnötig, zu teuer und mit großen Nachteilen für die Umwelt und die Bevölkerung verbunden halten“ – so definiert es das französische Wörterbuch Larousse, nicht ohne zu erwähnen, dass es sich dabei um eine Zweckentfremdung des Begriffs ZAD handelt, der sonst im Militärwesen verwendet wird.

„Zu verteidigende Zone“ ist tatsächlich vieldeutig und kann auch von Rechten aller Couleur benutzt werden. In Deutschland erfanden Rechtsextreme vor einiger Zeit den Begriff der „national befreiten Zone“ für Gebiete, aus denen alle, die nicht ihren Vorstellungen entsprechen, verschwinden sollen. Doch in linksalternativen Kreisen steht ZAD in der Regel für Regionen, in denen technologische Großprojekte verhindert wurden und eine nichtfossile, oft auch nichtindustrielle Produktion dominiert.

Die Philosophen Michael Hirsch und Kilian Jörg bewerten es als Erfolg, dass die alternative Bedeutung von ZAD sogar in einem offiziellen Wörterbuch erwähnt wird. „Dieses Konzept hat es in den letzten zwei Jahrzehnten in Frankreich zu einem Status der Bekanntheit gebracht“, schreiben Hirsch und Jörg in ihrer kürzlich im Nautilus-Verlag erschienenen Flugschrift „Durchlöchert den Status quo“. Damit wollen sie auch in Deutschland das Konzept der ZAD bekannter machen.

Jörg und Hirsch, die beide nicht direkt an der Verhinderung des Flughafens beteiligt waren, sehen darin eine Alternative in zweierlei Hinsicht, wie sie auf knapp 160 Seiten in der Flugschrift erläutern. Sie wollen eine Alternative zur Kapitallogik entwickeln, die schon heute umsetzbar ist. Zudem wollen sie auch bei den Linken, die alle bestehenden Strukturen ablehnen, eine Diskussion anregen, wie schon im Hier und Jetzt Alternativen entwickelt werden können, die eine Anziehungskraft auf Teile der Bevölkerung haben.

Radikaler Reformismus

Es geht im Buch nicht primär um die wechselvolle Geschichte der ZAD in der Bretagne, diese ist vielmehr Ausgangspunkt der philosophischen und politologischen Überlegungen der Autoren. Ihr Ansatz ist auch als „radikaler Reformismus“ bekannt.

Die Sozialistin Rosa Luxemburg verfocht bereits vor mehr als 120 Jahren dieses Konzept. Bei ihr bedeutet es, dass man den Kapitalismus generell ablehnen soll, aber trotzdem für Reformen kämpfen muss, die die Lebensbedingungen der meisten Menschen verbessern. Gerade durch den Kampf um diese konkreten Verbesserungen sollen die Bedingungen für einen Bruch mit dem Kapitalismus heranreifen, der bei Luxemburg und anderen Stimmen des radikalen Reformismus in der Arbeiterbewegung jedoch weiterhin außer Frage stand.

Hier gibt es allerdings einen wesentlichen Unterschied zu dem Text von Jörg und Hirsch. In der Flugschrift kommt die Vorstellung eines Bruchs mit dem Kapitalismus nicht vor. Eine weitere gravierende Differenz zu Luxemburg und Co, die eng damit zusammenhängt, darf nicht unerwähnt bleiben: Verwertungs- und Ausbeutungsverhältnisse werden in dem Buch kaum thematisiert.

Staatlich geförderte ZAD?

Deshalb lesen sich die eigentlich vernünftigen Vorstellungen von einem radikalen Reformismus stellenweise naiv, wenn etwa gefordert wird, dass der Staat die Tätigkeiten in der ZAD auch finanziell unterstützen soll. Bei den beiden Autoren existiert die Vorstellung, dass in diesen Regionen vornehmlich Care-Arbeit und andere nichtfossile Tätigkeiten unterstützt und gefördert werden könnten, weil ja auch den grünen und linken Politiker*innen heute bekannt ist, dass diese Tätigkeiten im Zeichen der Klimakrise überlebensnotwendig sind. Da hat man den Eindruck, dass kapitalistische Zwänge hier kein Problem seien.

Dabei wird aber übergangen, dass es schon länger Erfahrungen mit Genossenschaften und Alternativökonomie-Projekten gibt, die oft nur schwer jenseits des Verwertungszwangs existieren können. Die in der alternativen Ökonomie Tätigen sind oft gezwungen, unter besonderen, prekären Bedingungen zu produzieren. Selbstausbeutung ist dort gut bekannt und führt auch oft dazu, dass Menschen aus diesem Sektor wieder aussteigen.

Solche Erfahrungen müssen unbedingt in eine Debatte über die Vorschläge von Hirsch und Jörg einfließen – gerade, um spätere Enttäuschungen zu verhindern, wenn sich dann herausstellt, dass die kapitalistische Verwertungslogik wieder einmal stärker war.

Fahrräder statt Autos bauen 

Das soll freilich nicht als Vorwurf an die beiden Autoren verstanden werden. Ganz im Gegenteil ist es sehr zu begrüßen, dass Hirsch und Jörg mit ihren Vorschlägen die Möglichkeit eröffnen, wieder über Alternativen zum kapitalistischen Normalzustand zu diskutieren. Denn dem Duo ist zuzustimmen, wenn sie im ersten Kapitel die „aktuelle Lähmung der Politik“ kritisieren, die ausdrücklich die unterschiedlichsten Gruppen der gesellschaftlichen Linken einschließt.

Hirsch und Jörg ziehen mit Recht einen Bogen von dieser scheinbaren Alternativlosigkeit des Normalzustands zum weltweiten Ansteigen von Irrationalismus und rechten Bewegungen. Dagegen schreiben die beiden an. Ihre Vorschläge sollten wir aufgreifen und erweitern.

Wir sollten tatsächlich viele ZADs schaffen, Zonen, in denen wir aus dem ökonomischen Status quo ausbrechen. Das geschieht nicht nur bei Nantes. Das geschieht bei dem Autozulieferer GKN in Florenz, wo Arbeiterinnen und Arbeiter seit zwei Jahren eine Fabrik besetzt halten, in der sie künftig Fahrräder statt Autozubehör herstellen wollen. Eine ZAD kann auch in Fabriken entstehen, wo Beschäftigte sich überlegen, statt Autos oder Waffen Güter herzustellen, die Leben retten statt Leben zerstören.

Solche Auseinandersetzungen brauchen viel Unterstützung, weil sie sich gegen die mächtige Kapitallogik durchsetzen müssen. Denn klar ist: Wer den Status quo durchlöchern will, muss sich mit dem Kapitalismus und seinen Profiteur*innen anlegen. In diesem Sinne: Schaft zwei, drei, viele ZADs.

Peter Nowak