Seit Monaten wird in Deutschland über die vermeintlich von Migration ausgehenden Gefahren geredet, über die wachsende Armut von Kindern und alten Menschen dagegen kaum. Worin sehen Sie die Gründe? …
… Was den heutigen linken Antifaschismus so hilflos macht, ist die Ausblendung der sozialen Frage. Armut ist ja erstmal eine statistische Kategorie, unter der ganz unterschiedliche Lebenslagen zusammengefasst werden. Sie ist kein kollektives Subjekt, das einfach gemeinsam kämpfen könnte – zumal, wenn in der Gesellschaft insgesamt soziale Probleme kaum radikal politisiert werden. Und so bleiben die meisten für sich: Schüler*innen, denen das Geld für die Klassenfahrt fehlt; alte Menschen, deren Armut sich in Vereinsamung und Unterversorgung im Heim ausdrückt; Eingewanderte, deren Lebensstandard durch das Asylbewerberleistungsgesetz noch unter das Niveau des Bürgergelds gedrückt wird. Dass es trotzdem so still ist, dürfte auch eine Nachwirkung linken Agierens in der Corona-Pandemie sein. Linker Antifaschismus positionierte sich nach ersten Versuchen, soziale Fragen wie die Lage von Menschen, die in »systemrelevanten Berufen« arbeiten, die Situation in Altersheimen, Gefängnissen und Unterkünften für Geflüchtete zu politisieren, nur noch staatstragend gegen von rechten Kräften vereinnahmte Kritik an repressiven Maßnahmen. Auch wegen des weitgehenden Fehlens antikapitalistischer Kritik treffen nun Forderungen nach nationalistischer Abschottung auf so viel Zustimmung.
Warum sind aus Ihrer Sicht die Proteste gegen Teuerung und Krisengewinnler im Herbst 2022 so schnell verpufft?
Zum einen ging die Inflation relativ schnell wieder zurück, und zum anderen nahm die Regierung mit ihren drei sozialpolitischen Entlastungspaketen sehr schnell den Druck aus dem Kessel. Besonders wichtig war dafür die steuerfreie Inflationsausgleichsprämie von 3000 Euro, die von Arbeitgebern und Gewerkschaften genutzt wurde, um radikale Forderungen in den Tarifauseinandersetzungen zu verhindern.
Warum waren vor 20 Jahren Zehntausende gegen die Einführung des Hartz-IV-Regimes durch die damalige rot-grüne Bundesregierung auf der Straße, während es heute kaum Proteste gegen die Umverteilung nach oben gibt?
Der Vergleich zu den Protesten 2004 ist wichtig, um die heutige Situation zu verstehen. Als mit der Krise 2002/2003 die Arbeitslosigkeit wieder zugenommen hatte, kam es zu einem deutlichen Legitimationsverlust von Gewerkschaften und der regierenden Sozialdemokratie. In Ostdeutschland hatte die IG Metall im Sommer 2003 einen Streik für die Angleichung der Arbeitszeiten Richtung 35-Stunde-Woche nach vier Wochen ergebnislos abgebrochen, vor allem auf Druck der Betriebsratsfürsten der Autofabriken im Westen – eine beispiellose Blamage für die Gewerkschaften. Im Februar 2004 gewährte die IG Metall dann den Arbeitgebern im »Pforzheimer Abkommen« einzelbetriebliche Öffnungsklauseln, mit denen Löhne und Arbeitszeiten zur »Beschäftigungssicherung« verschlechtert werden konnten. Gegen diese Zumutungen kam es im Sommer 2004 zu kleinen wilden Arbeitsniederlegungen und einer Straßenblockade von Daimler-Arbeiter*innen in Stuttgart. Vor diesem Hintergrund gesamtgesellschaftlicher Unruhe entwickelten sich ab Ende Juli die spontanen und führungslosen Proteste gegen die Hartz-IV-Reformen, die vor allem im Osten den ganzen August über eine enorme Dynamik entfalteten.
Sie kritisieren den Sozialstaat als Instrument zur Befriedung von Klassenkämpfen, zur Ruhigstellung. Aber müssen wir uns nicht trotzdem auf den Sozialstaat berufen, wenn wir gegen Sozialkürzungen kämpfen?
In der Diskussion um den Sozialstaat werden oft zwei Dinge verwechselt. Proletarische Menschen mussten schon immer und müssen auch heute darum kämpfen, genügend Mittel für ihr Überleben zu haben. Sie können das in Form der direkten Aneignung oder von Rebellionen und Streiks tun, durch die Kapital und Staat gezwungen werden, mehr Geld oder Lebensmittel rauszurücken. Mit dem Sozialstaat in seiner komplexen bürokratischen Ausgestaltung wird auf diesen Druck von unten so eingegangen, dass der Klassenkampf durch Verrechtlichung, Vereinzelung, Überwachung und Ankopplung an die Arbeitsdisziplin entschärft und entpolitisiert wird. An diesen Formen gibt es nichts zu verteidigen.
Große Teile der Arbeiter*innenbewegung in der Tradition von Karl Marx grenzten sich schon früh vom »Lumpenproletariat« ab. Sehen Sie darin die Ursache für Spaltungen bis heute?
Darin liegt auf jeden Fall ein historischer Ausgangspunkt. Entscheidend war und ist aber, dass Abgrenzungen im Sozialstaat institutionell verfestigt wurden. Mit der Trennung von Versicherungsleistungen wie Arbeitslosengeld I, Rente, Krankenkasse und Fürsorgeleistungen wie Bürgergeld und Sozialhilfe wurde die alte Unterscheidung zwischen »selbstverschuldeter« und »unverdienter« Armut vom Staat fixiert. Das spaltet bis heute auch die Kämpfe um das Einkommen.
Durch welche Protestformen kann diese Spaltung überwunden werden?
Auch hier ist das Jahr 2004 ein gutes Beispiel. Nach den Hartz-IV-Protesten kam es im Oktober in einer der größten Autofabriken, bei Opel in Bochum, zu einem sechstägigen wilden Streik gegen Entlassungen. Ich erinnere mich noch gut, wie begeistert die kleinen Erwerbsloseninitiativen im Ruhrgebiet von diesem Streik waren und wie sie sich enthusiastisch an den Demos und Torblockaden beteiligten. Ihnen war sofort bewusst, dass hier von einer Gruppe, die aufgrund der Zulieferketten zu den Opelwerken in Polen und Spanien über ein großes Machtpotential verfügte, die Frage der Arbeitslosigkeit wirksam politisiert und sichtbar gemacht worden war.
Interview: Peter Nowak
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