Wolfgang Hien war Chemielaborant bei BASF in den 1960er-Jahren, heute ist er ein renomierter Arbeits- wissenschaftler und Medizinsoziologe. Im Interview geht er auf die Entwicklung der Gesundheitsfragen am Arbeitsplatz ein und zeigt, warum der Kampf um menschenwürdige Arbeit noch von brennender Aktualität ist.

Wir sind selbst die Expert*innen

Im VSA-Verlag ist sein Buch «Gegen die Zerstörung von Herz und Hirn» erschienen, in dem er im Interview mit dem Sozialwissenschaftler Peter Birke über seinen lebenslangen Kampf für eine menschen- würdige Arbeit berichtet:

Nach Ausbildung und 17 Jahren Betriebserfahrung als Chemielaborant und Gewerkschaftsaktivist studierte er Biochemie und Philosophie in Heidelberg sowie Soziologie, Psychologie, Pädagogik und Arbeitswissenschaft in Bremen, was 1988 zu einem Abschluss als Diplom-Pädagoge und 1992 zur Promotion zum Doktor der Staatswissenschaften (Doc- tor rerum politicarum, Dr. rer. pol) in Arbeits- und Gesundheitswissenschaften. Seit 1989 in Forschung und Lehre tätig, zwischen 2003 und 2005 Referats- leiter für Gesundheitsschutz beim Bundesvorstand des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB). Seit seit Januar 2006 ist er Inhaber und Leiter des Forschungsbüros für Arbeit, Gesundheit und Biographie in Bremen.

Der psychische Druck nimmt zu

Auf seine Website wolfgang-hien.de ist zu lesen: «Gesundheitsförderung bedeutet in erster Linie, die Würde des Menschen zu achten.» Und: «Einen grossen Einfluss auf unser Leben hat die Arbeitswelt. Sie kann uns Anerkennung und Sinn geben. Doch die neoliberale Radikalisierung unserer Betriebe bürdet Körper, Geist und Seele hohe Belastungen auf. Die Folge: Arbeitsbedingte Krankheiten nehmen zu. Dieser Entwicklung sollte Einhalt geboten werden. Dafür möchte ich meine arbeits- und gesundheitswissenschaftliche Kompetenz einsetzen.»

Wie kamen Sie zu ihrem Lebensthema, den Kampf um menschenwürdige Arbeit?
Zentral war meine leibliche Erfahrung als….

….Auszubildender beim Chemiekonzern BASF in den 1960er Jahren. Meine damalige Vorstellung von Menschenwürde war dort nicht wieder zu erkennen. Man wurde auf die Fabrik konditioniert. Dagegen kämpfte ich an. Ich habe dann auch in anderen Industriebetrieben miterlebt, dass Arbeiter*innen unter Bedingungen schuften mussten, die langfristig ihre Gesundheit hochgradig gefährdeten. Für mich war dann die Umweltbewegung wichtig: Ich hatte den erfolgreichen Kampf der Bauern von Wyhl bei Freiburg vor Augen, die in den 1970er Jahren den Bau gegen eines Atomkraftwerks verhinderten. Ich und meine Mitstreiter*nnen wollten wir diese Impulse in die Betriebe tragen.

Wo hat das geklappt?

In vielen Betrieben in der gesamten BRD gründeten sich Initiativen, die die Gesundheit am Arbeitsplatz zum Thema hatten. Schwerpunkte waren die chemische Industrie wie die BASF in Ludwigshafen oder Degussa in Frankfurt/Main, aber auch andere Industriebetriebe wie zum Beispiel die Bremer Vulkan-Werk oder die Hamburger Aluminiumwerke. Es wurden Zeitungen und Flugblätter veröffentlicht, die die KollegInnen über gesundheitsgefährdende Stoffe am Arbeitsplatz informierten. Zur gleichen Zeit ent- wickelte eine Gruppe von Werfarbeitern in Bremen eine Kampagne gegen die Asbestverwendung.

Hatten Sie dafür Vorbilder?

In Italien hatte sich in den 1970er Jahren eine Arbeiter*nnen-Gesundheitsbewegung gebildet. Ihr Verständnis war: Nicht Arbeitsmedizin, sondern Arbeiter*innenmedizin. Nicht die Arbeit sollte geschützt werden, sondern die Arbeiter*innen. Ihr Leitspruch lautete ‹Non delegata› (delegiert nicht). Wir wollen nicht, dass irgendwelche Expert*innen darüber bestimmen, wie es uns geht. Wir sind selbst die Expert*innen unserer Situation. Wir wissen selbst, was gut für uns ist und was nicht. Das war ein grosses Vorbild für uns.

Hatten Sie einen gesellschaftlichen Rückhalt?

Ein grosser Verstärker für unsere Arbeit waren die Gesundheitstage, wo sich die Impulse und Kräfte aus der Umwelt- und Gesundheitsbewegung gebündelt trafen. Der erste Gesundheitstag fand 1980 in Westberlin statt, 1981 in Hamburg und 1984 in Bremen. Dort kamen Menschen aus allen Tei- len Deutschlands zusammen, darunter auch viele Kolleg*innen aus unterschiedlichen Betrieben, aus den Gewerkschaften, auch viele kritische Mediziner*innen und Wissenschaftler*innen. Wir tauschten uns aus und hatten das Gefühl, Teil einer grossen Bewegung zu sein. Später versackten die Gesundheitstage allerdings in Esoterik und den Streit um rechte Inhalte.

Sehen Sie erfolge ihres Kampfes?

Er hat Spuren hinterlassen. Viele unserer For- derungen wurden im Arbeit-, Gesundheits- und Umweltschutz umgesetzt, nicht zuletzt auch deshalb, weil viele von uns haupt- oder ehrenamtlich den ‹Marsch durch die Institutionen› antraten. Es gibt vor allem in der Grossindustrie viele Verbes- serungen. Gleichzeitig werden Gesundheitsschutz und Gesundheitsförderung heute oft im Sinne einer leistungssteigernden Managementtechnik genutzt. Nicht die Arbeitsbedingungen sollen humanisiert sondern die Menschen an die schlechten Arbeitsbedingungen angepasst werden.

Sehen Sie heute noch die Notwendigkeit für Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz zu kämpfen?

Oh ja! Wenn ich die Arbeitsbedingungen imPflege- und im Logistikbereich, aber auch in der Gastronomie, in vielen Bereichen des Handwerks und in vielen Bereichen der Dienstleistungsbranche betrachte, so kann ich nur sagen: Hier ist der Kampf um Gesundheit am Arbeitsplatz dringend notwendig. Wir erleben gegenwärtig ein Nebeneinander von einigermassen guten Bedingungen in manchen Stammbelegschaften grosser Betriebe und Verwaltungen und geradezu himmelschreienden Bedingungen in den Randbelegschaften, bei LeiharbeiterInnen und LeiharbeiterInnen, in der wachsenden Zahl prekärer Beschäftigungsverhältnisse Und insgesamt nimmt der psychische Druck in der gesamten Arbeitswelt erheblich zu. Aber heute sind die Beschäftigten oft vereinzelt, was Initiativen für mehr Gesundheitsschutz erschwert.

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