Die Grenzen der linken Macht

 Atilio Borón lotet das emanzipatorische Potenzial der lateinamerikanischen Linksregierungen aus

Der renommierte argentinische Politologe Atilio Borón wirft in seinem jüngsten Buch »Den Sozialismus neu denken« ein Schlaglicht auf den Beitrag, den die Linksregierungen in Lateinamerika für eine neue Gesellschaftsordnung leisten könnten.
Die Einschätzungen zu den linken Regierungen in Lateinamerika sind nicht nur in Deutschland sehr kontrovers. Handelt es sich um Wege zu einer emanzipatorischen und sozial gerechteren Gesellschaft oder wird der Kapitalismus nur anders verwaltet? Welchen Handlungsspielraum haben diese Regierungen im globalen Kapitalismus? Diese Fragen stellt sich der argentinische Politologe Atilio Borón in seiner Streitschrift, die kürzlich im VSA-Verlag in deutscher Sprache erschienen ist.

 In dem Buch werden in drei Kapiteln viele Themenbereiche angesprochen, was die Lektüre nicht immer einfach macht. So rezipiert Borón im ersten Kapitel die Grundzüge der Debatten um Entwicklung und Unterentwicklung, die vor 40 Jahren nicht nur in Lateinamerika eine große Bedeutung hatten. Borón teilt die Meinung der Dependenztheoretiker, die die These vertreten, dass es für die Länder des Südens gar nicht möglich ist, die USA und Westeuropa zu kopieren. Sie plädierten folglich für einen unabhängigen Weg.

Für ihn haben sich die Prognosen dieser linken Theoretiker in den letzten 40 Jahren bestätigt. Den Mitte-Links-Regierungen auf dem amerikanischen Kontinent bescheinigt Borón dagegen, dass sie »mit blindem Optimismus darauf vertrauen, dass ihr Marsch in Richtung Entwicklung erfolgreich sein wird – obwohl dieser Weg schon seit Langem versperrt ist«.

So bekommt der mittlerweile verstorbene ehemalige argentinische Präsident Néstor Kirchner von Borón sein Fett weg, weil er das Ziel verfolgt habe »einen ernsthaften Kapitalismus« zu schaffen.

Die Hauptkritik richtet sich allerdings gegen die Lula-Regierung in Brasilien (2003-2010). »Während der ersten Amtszeit von Lula machte das Kapital phänomenale Gewinne auf Kosten der nationalen Bourgeoisie, die nicht in der Lage war, die Richtung der ultraneoliberalen Wirtschaftspolitik zu verändern.« Borón geht mit der Lula-Regierung besonders hart ins Gericht, weil sie wegen des politischen und wirtschaftlichen Gewichts Brasiliens in der Lage gewesen wäre, eine politische Alternative zur neoliberalen Entwicklung einzuschlagen. Sein Fazit ist ernüchternd: »Nichts hat sich in Brasilien verändert. Der neoliberale Weg wird weiter beschritten.«

Vorsichtig optimistisch äußert sich Borón zur Entwicklung in Venezuela. »Nach einer Reihe von Anfangsschwierigkeiten hat die bolivarische Revolution Beweise geliefert, dass es einen Weg aus dem Neoliberalismus gibt, wenngleich es ein sehr steiniger Weg ist, auf dem zahlreiche Gefahren lauern.«

Im dritten Kapitel beteiligt sich Borón an der Debatte um die Grundlagen eines Sozialismus des 21. Jahrhunderts. Als zentrale Lehre aus dem Scheitern bisheriger sozialistischer Experimente legt er Wert auf eine Abkehr vom blinden Vertrauen in die Produktivkräfte und einen »technokratischen Despotismus«. Dabei bezieht er sich ausdrücklich auf Schriften von Che Guevara. Seinen Kampfmethoden erteilt Borón aber eine Absage. »Es wäre falsch zu glauben, dass der Sozialismus des 21. Jahrhunderts in einem aggressiven Kapitalismus durch einen revolutionären Prozess entstehen würde. In Lateinamerika wird dieser Prozess des Aufbaus des Sozialismus in verschiedenen Ländern verschiedene Charakteristika aufweisen, er wird aber in jedem Fall zunächst im Gewand des Reformismus daherkommen.«

Wie sich dann aber der von Borón als notwendig erachtete »Bruch mit der Vergangenheit« vollziehen soll, bleibt offen. Lediglich auf das richtige Bewusstsein und die richtige Organisation wird am Schluss rekurriert. So bleibt der Autor, der in dem Buch viele interessante Fragen aufgeworfen hat, am Ende doch recht vage.

Atilio Borón: Den Sozialismus neu denken. VSA-Verlag. Hamburg 2010, 119 Seiten, 12,20 Euro.

www.neues-deutschland.de/artikel/193096.die-grenzen-der-linken-macht.html
Peter Nowak


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