Katalonien: „Emphatische Demokratie“ und das Gewicht von Verfassungen

Gespräch mit der Politikwissenschaftlerin Detlef Georgia Schulze über Realismus im Streit zwischen der Zentralregierung in Madrid und dem katalanischen "Volk"

Die PolitologIn Detlef Georgia Schulze[1] hat zusammen mit Sabine Berghahn und Frieder Otto Wolf zwei Bände mit dem Titel Rechtsstaat statt Revolution, Verrechtlichung statt Demokratie? Transdisziplinäre Analysen zum deutschen und spanischen Weg in die Moderne[2] herausgeben. Telepolis sprach mit der PolitikwissenschaftlerIn über die Situation in Katalonien.

Im Moment bricht die katalanische Regierung die spanische Verfassung nicht

Sie haben einige Jahre in Spanien gelebt und zum Rechtsstaats-Begriff in Deutschland und Spanien geforscht. Wie schätzen Sie das aktuelle Vorgehen der spanischen Regierung in Katalonien ein?
Detlef Georgia Schulze: Grundsätzlich bestehen keine Zweifel, dass eine Lostrennung Kataloniens bei der geltenden Verfassungslage verfassungswidrig ist und dass die spanische Regierung nach Genehmigung durch den spanischen Senat (der zweiten Kammer des Parlaments) die spanischen Regionen zwingen darf, die Verfassung einzuhalten.
Das erstere ergibt sich aus Art. 2 der spanischen Verfassung, der bestimmt, dass Spanien unteilbar sei; und das zweite ergibt sich aus Art. 155, auf den sich die Regierung aktuell beruft. Allerdings erfolgt die Berufung auf diesen Artikel zu einem juristisch etwas fragwürdigen Zeitpunkt.
Auf ziemlich sicherem Boden hätte die spanische Regierung gestanden, wenn sie dies bereits gemacht hätte, als die katalanische Regierung – entgegen einem Beschluss des spanischen Verfassungsgerichts – das Unabhängigkeits-Referendum durchführte.
Auf ganz sicherer Seite wäre die spanische Regierung, wenn sie sich erst nach einer etwaigen Unabhängigkeitserklärung auf Art. 155 berufen würde.
Warum halten Sie die aktuelle Situation für problematisch?
Detlef Georgia Schulze: Voraussetzung für die Anwendung des Art. 155 ist, dass die „Autonome Gemeinschaft“ – also Region – „die ihr von der Verfassung oder anderen Gesetzen auferlegten Verpflichtungen nicht erfüllt oder so handelt, dass ihr Verhalten einen „schweren Verstoß gegen die allgemeinen Interessen Spaniens darstellt“. Nun ist aber das Referendum inzwischen vorbei und seitdem haben die katalanische Regierung und das katalanische Parlament in dieser Sache nicht gehandelt, soweit ich sehe.
Puigdemont, der katalanische Regierungschef, hat in der Parlamentssitzung nur erklärt, dass er das vom Volk erteilte „Mandat“ annehme, Katalonien zur Unabhängigkeit zu führen. Ausgeführt hat er dieses Mandat (bisher) nicht. Außerdem war in dem Referendumsgesetzvorgesehen, das nicht der Regierungschef, sondern das Parlament die formelle Unabhängigkeitserklärung abgibt.
Das Parlament hat sich aber nur Puigdemonts Rede angehört und darüber debattiert. Also: Im Moment bricht die katalanische Regierung die spanische Verfassung nicht. Dass allein schon das Kokettieren mit einer Unabhängigkeitserklärung – und bisher macht Puigdemont nicht mehr – „einen schweren Verstoß gegen die allgemeinen Interessen Spaniens darstellt“, dürfte sich schwer begründen lassen.

Die Anwendung des Art. 155

Rechnen Sie also damit, dass das spanische Verfassungsgericht die Anwendung des Art. 155 aufheben wird?
Detlef Georgia Schulze: Naja, zunächst einmal muss der Senat dem Antrag der Regierung zustimmen. Bis dahin könnte Puigdemont der Regierung noch zuvorkommen, indem er – ohne dass die Unabhängigkeit erklärt wird – Neuwahlen in Katalonien ausschreibt. Das ist auch die Forderung, die die konservative Regierung sowie die sozialdemokratische und neoliberale Oppositionspartei in Madrid seit Tagen an Puigdemont richten.
Sollten dagegen die katalanischen Separatisten doch noch vor Freitag ihr Zögern aufgeben und durch Parlamentsmehrheit oder Regierung die Unabhängigkeit erklären, so wäre die Regierung, wie gesagt, rechtlich auf der sicheren Seite. Falls die Separatisten dagegen weiter taktieren und der Senat am Freitag den Antrag der Regierung annimmt, dann müsste sich überhaupt erst einmal ein Kläger oder eine Klägerin gegen die Anwendung des Art.155 finden.
Wenn die katalanischen Separatisten beim spanischen Verfassungsgericht gegen die Anwendung des Art. 155 klagen würden, dann wäre das das Eingeständnis, dass nicht sie, sondern das spanische Verfassungsgericht souverän ist. Ob sie sich diese Blöße geben wollen, weiß ich nicht.

Und wenn es zu einer Klage gegen die Anwendung des Art. 155 kommt?
Detlef Georgia Schulze: Dann rechne ich damit, dass beim spanischen Verfassungsgericht die Staatsräson über mein formales Argument hinsichtlich des Zeitpunktes der Anwendung des Art. 155 siegt.

Maßnahmen, die Madrid ergreifen kann, und Konsequenzen

Wie schätzen Sie die Maßnahmen ein, die der spanische Staat beim Senat beantragt hat?
Detlef Georgia Schulze: Alle Maßnahmen sind auf sechs Monate befristet, und es sind praktisch alles administrative Maßnahmen; deshalb hatte ich das Vorgehen im Samstag in einer vorläufigen Kurz-Analyse als „aseptisch“ bezeichnet. Es werden keine Grundrechte außer Kraft gesetzt, was im Rahmen des Art. 155 auch nicht zulässig wäre. Es wird nicht mit dem Einsatz der Armee gedroht, was wohl schon im Rahmen des Artikels zulässig wäre.
Alle katalanischen Gesetze – mit Ausnahme derjenigen, die vom spanischen Verfassungsgericht eh schon aufgehoben worden sind – bleiben weiterhin in Kraft. Hauptpunkt des Antrages ist, die katalanischen Regierungsmitglieder ihrer Ämter zu entheben und der Versuch, die katalanische Verwaltung von Madrid aus fernzusteuern. Zwei oder drei Punkte gehen über diesen Versuch der Fernsteuerung hinaus.

Welche?
Detlef Georgia Schulze: Erstens: Falls nötig, darf die zentral-staatliche Polizei und Guardia Civil Aufgaben übernehmen, für die eigentlich die Regionalpolizei (Mossos) zuständig ist. Zweitens: Das Parlament bleibt zwar, bis eventuell Neuwahlen angesetzt werden, im Amt, kann also auch neue Gesetze beschließen, die aber nicht den Art. 155-Maßnahmen entgegenstehen dürfen.
Außerdem darf es während der Anwendung des Art. 155 keine neue Regierung wählen; bestimmte Kontroll- und Empfehlungsrechte, die es gegenüber einer katalanischen Regierung hat, wird es nicht gegenüber den Beauftragten und Organen haben, die die Madrider Regierung einsetzten wird. Die Kontrollrechte sollen stattdessen auf ein Gremium übergehen, das der spanische Senat einsetzen soll.
Um sicherzustellen, dass diese Auflagen eingehalten werden, muss das katalanische Parlamentspräsidium Anträge, die gestellt werden, zunächst nach Madrid weiterleiten, wo dann 30 Tage Zeit ist, sie zu prüfen.
Drittens: Hinsichtlich der Telekommunikation und der öffentlich-rechtlichen Medien wird wohl mehr versucht als Fernsteuern aus Madrid. Dies könnte für die Rundfunkfreiheit problematisch werden; aber die Madrider Behörden werden in Zukunft nicht mehr Kompetenzen haben als bisher die katalanischen.

Wie verhält es sich mit der Befristung?
Detlef Georgia Schulze: Alle Maßnahmen sind auf sechs Monate befristet. Sollte es vor Ablauf der sechs Monate zu Neuwahlen und einer neuen Regierungsbildung in Katalonien kommen, so würden die Maßnahmen vorher außer Kraft treten. Sollte es zu keinen Neuwahlen kommen, so wäre nach den sechs Monaten der jetzige Zustand wiederhergestellt – so verstehe ich jedenfalls den Text.
Die Strafverfahren, die eventuell noch gegen Regierungsmitglieder eingeleitet werden, das ist eine andere Frage. Bezüglich eventueller Neuwahlen ist noch zu sagen, dass die Kompetenz, das katalanische Parlament aufzulösen und Neuwahlen anzusetzen, während der sechs Monate vom katalanischen auf den spanischen Regierungschef übergeht. Dieser wird diese Kompetenz sicherlich nicht ausüben, solange er die Lage nicht als „stabil“ einschätzt.


Können die Maßnahmen verlängert werden?

Detlef Georgia Schulze: Ja, aber dafür müsste – so wie der Text im Moment formuliert ist – die Regierung einen neuen Antrag beim spanischen Senat stellen. Theoretisch käme in Betracht, dass der Senat der spanischen Regierung freie Hand für eine Verlängerung gibt oder eh gleich unbefristet beschließt. Da sich die spanische Regierung aber einer Mehrheit im Senat sicher sein kann, wird sie auf diese parlamentarische Legitimation sicherlich nicht verzichten wollen.


„Aber wer oder was ‚das Volk‘ ist, ist keine natürliche Tatsache

Was sagen Sie zu dem Vorwurf der spanischen Separatisten, mit den Maßnahmen werde die Demokratie abgeschafft, bzw. sie stellten einen Staatsstreich dar?
Detlef Georgia Schulze: Sicherlich ist es möglich, einen sehr emphatischen Begriff von Demokratie zu vertreten. Dann ist es sicherlich „undemokratisch“, eine Regierung, die von einem Parlament, das seinerseits in demokratischen Wahlen gewählt wurde, abzusetzen.
Nun steht allerdings in vielen Staaten – und zwar besonders in Deutschland und Spanien mit den sehr starken Verfassungsgerichten – die Verfassung nicht nur über der Regierung, sondern auch über Parlamentsmehrheiten. Hinzu kommt: „Demokratie“ heißt Volksherrschaft. Aber wer oder was „das Volk“ ist, ist keine natürliche Tatsache.
Gesellschaftlich hängt es von einer Vielzahl von historischen, kulturellen und politischen Faktoren ab, ob sich eine bestimmte Anzahl bzw. Gruppe von Menschen als „Volk“ versteht. Juristisch ist „Volk“ zwangsläufig ein juristischer Begriff, und nach der spanischen Verfassung gibt es zwar mehrere „Nationalitäten“, darunter die katalanische, aber nur ein gesamt-spanisches Volk. Das „Volk“ hängt nicht davon ab, ob die Leute es vorziehen, Kastilisch („Spanisch“) oder Galicisch oder Euskera (Baskisch) oder Katalanisch zu sprechen.
Ich finde diese Regelung nicht schlecht, sondern sehr demokratisch. Auch Deutschland hat trotz – wenn auch kleiner – rechtlich anerkannter sorbischer, friesische, dänischer Minderheiten nur ein Volk; auch die Schweiz hat trotz vier Amtssprachen (Französisch, Deutsch, Italienisch und Rätoromanisch) nur ein Volk. Im katalanischen Fall haben die katalanischen Separatisten halt das „Pech“, dass es ihnen bisher nicht gelungen ist, eine Mehrheit der spanischen Staatsbürgen für ihr Anliegen zu gewinnen, unabhängig werden zu dürfen. Vor dieser Hürde stehen Separatisten in fast allen Staaten.

Separatisten haben keine absolute Mehrheit

Aber das gilt doch nicht für Katalonien?
Detlef Georgia Schulze: Selbst in Katalonien haben die Separatisten keine absolute Mehrheit: Im katalanischen Parlament haben sie nur deshalb eine Mehrheit, weil das katalanische Wahlrecht die Stimmenverhältnisse zwischen den Parteien verzerrt; auch bei dem Referendum am 1. Oktober lag der Ja-Stimmen-Anteil unter 40% der Abstimmungsberechtigten.
Auch von denen, die prinzipiell für eine Unabhängigkeit sind, sind bei weitem nicht alle für eine einseitige Unabhängigkeitserklärung und den damit verbundenen Konflikten. Aber um auf die Ausgangsfrage zurückzukommen: Die allerwenigsten Verfassungen gewähren Landes- bzw. Bevölkerungsteilen das Recht, den jeweiligen Staat zu verlassen.
Staaten sind nun einmal keine Vereine, denen freiwillig beigetreten wird und aus denen folglich eigenmächtig ausgetreten werden kann, sondern obrigkeitliche Strukturen, in die Menschen hineingeboren werden. Dies mag politisch kritisiert werden und bei dieser politischen Kritik stehe ich mit in der ersten Reihe. Aber mit einem solchen emphatischen Demokratie-Begriff gibt es dann fast gar keine demokratischen Staaten auf der Welt; und zumal Deutschland ist dann auch keiner.

„Die Separatisten haben es versäumt, sich außerhalb Kataloniens demokratische Unterstützung zu organisieren“

Aber ist es nicht etwas zynisch zu sagen, „im katalanischen Fall haben die katalanischen Separatisten halt das ‚Pech‘, dass es ihnen bisher nicht gelungen ist, eine Mehrheit der spanischen Staatsbürger für ihr Anliegen zu gewinnen, unabhängig werden zu dürfen“?
Detlef Georgia Schulze: Ja, schon, wenn ich denn davon ausgehen würde, dass die Mehrheit der Bevölkerung in Katalonien für eine Unabhängigkeit ist. Das bestreite ich aber. Wenn sie mich nun nach meiner politischen Meinung fragen würden, für den Fall, dass die Mehrheit der katalanischen Bevölkerung für eine Unabhängigkeit wäre, so würde ich auf den Zynismus-Vorwurf wie folgt antworten: Es sind ja die Separatisten, die sich auf „Demokratie“, „Gewaltfreiheit“ usw. berufen.
Angesichts dessen ist es ja wohl nicht zynisch, sondern nur realistisch, darauf hinzuweisen, dass die Separatisten es versäumt haben, sich außerhalb Kataloniens demokratische Unterstützung zu organisieren, und darauf, dass sie sich ohne Gewalt gegen die spanische Staatsgewalt nicht werden durchsetzen können.

Sind Sie denn nun selbst für oder gegen eine katalanische Unabhängigkeit?
Detlef Georgia Schulze: Ich bin weder spanisch noch Katalanin. Also habe ich diese Frage in keiner Weise zu entscheiden. Aber als nicht nur Politikwissenschaftlerin und Rechtstheoretikerin, sondern außerdem auch politische Aktivistin mit emanzipatorisch-internationalistischen Zielen würde ich sagen: Wenn eine Mehrheit der Einwohner Kataloniens für eine Unabhängigkeit ist, sollten sie unabhängig werden können.
Wenn diese hypothetische katalanische Mehrheit aber nicht das Risiko eines langwierigen bewaffneten Kampfes à la ETA, der allerdings auch nicht zum Erfolg führte, eingehen möchte, wird ihr nichts anderes übrigbleiben, als für eine Änderung des Art. 2 der spanischen Verfassung zu kämpfen. Dass eine solche zulässig ist, hat auch das spanische Verfassungsgericht am vergangenen Mittwoch entschieden.

Gesamtspanische Strategie ist notwendig

Was folgt daraus?
Detlef Georgia Schulze: Damit sich die Separatisten durchsetzen könnten, bedürfte es einer gesamt-spanischen Strategie. Und da die Separatisten durchaus für große Einheiten zu haben sind (die EU scheinen sie ja überwiegend toll zu finden), so würde ich empfehlen: Für eine, wenn auch langwierige, Veränderung in ganz Spanien zu kämpfen, statt separatistisches Harakiri zu begehen. Aber wie gesagt: Die Entscheidung liegt bei denen, die die Entscheidung dann auch ausbaden müssen.

Abgesehen davon, dass Sie anscheinend selbst eher eine gesamt-spanische Orientierung vorschlagen, könnten trotzdem in einer katalanischen Unabhängigkeit „progressive“ oder wie auch immer zu nennende Elemente liegen?
Detlef Georgia Schulze: Ja! Die allermeisten Separatisten scheinen ja Republikaner zu sein. Auch wenn der Unterschied zwischen parlamentarischer Monarchie und parlamentarischer Republik heutzutage marginal ist, würde ich schon sagen, dass eine Republik einen emanzipatorischen Fortschritt darstellen würde. Ich bezweifele nur, dass sich eine Republik mit separatistischer Strategie durchsetzen lassen wird.

„Post-Franquismus ist kein Franquismus“

Was halten Sie von dem Argument, dass die katalonische Unabhängigkeitsbewegung ein nachträglicher Erfolg gegen Franquismus ist?
Detlef Georgia Schulze: Richtig ist auch, dass mit einer Infragestellung der Monarchie bzw. einer Unabhängigkeit Kataloniens das ganze post-franquistische Arrangement in Spanien in Frage gestellt würde. Juan Carlos, der Vater des jetzigen Königs, wurde ja noch von Franco selbst als sein Nachfolger ausgesucht.
Trotzdem würde ich wiederum sagen: Durchsetzbar ist ein Bruch mit dem post-franquistischen Regime nur mit einer gesamt-spanischen Strategie. Ein Bruch mit dem Franquismus selbst, der damals zugunsten einer Taktik des graduellen Übergangs vermieden wurde, kann heute nicht mehr nachgeholt werden: Post-Franquismus ist kein Franquismus. Genauso wenig, wie deutscher Post-Nazismus Nazismus ist. Derartige Gleichsetzungen tragen weder zum Verstehen dessen bei, was damals war, noch, was heute ist, und damit auch nicht zur Entwicklung einer lageangemessenen Strategie, sondern artikulieren nur moralische Empörung.

Der Vorteil eines katalanischen Staates?

Wenn eine Unabhängigkeit erreicht werden könnte (wonach es im Moment nicht aussieht), inwiefern hätten dann die Katalanen einen Vorteil von einem „eigenen“ Staat?
Detlef Georgia Schulze: Der einzige handgreifliche Vorteil für alle Katalanen dürfte sein, dass sie dann nicht mehr in den spanischen Finanzausgleich einzahlen müssen. Alles Weitere hängt von der jeweiligen politischen Auffassung des einzelnen Bürgers bzw. der einzelnen Bürgerin ab: Diejenigen, die bisher zur linksliberalen bzw. linkssozialdemokratischen Minderheit in Spanien gehören, würden in Katalonien dann vielleicht zur Mehrheit gehören und sich über entsprechende Gesetze freuen.
Diejenigen, die in Katalonien bisher zur gesamt-staatlichen konservativ-neoliberalen Mehrheit gehören, würden in Katalonien vielleicht zu einer Minderheit werden; das dürfte sie ärgern. Ich würde also sagen, das Problem am katalanischen Nationalismus, wie an jedem Nationalismus, ist die Verallgemeinerung, „die Katalanen“, „die Deutschen“ usw. und das dadurch zustande kommende Verdecken der inneren gesellschaftsstrukturellen Widersprüche entlang der Linien von race, class und gender.
Und das Problem von Mehrheit und Minderheit wird durch Separatisten auch nicht gelöst. Es ändert sich nur die Bezugsgröße (der Umfang der Grundgesamtheit), aber nichts daran, dass Demokratie Herrschaft von Abstimmungs- und Wahlmehrheiten über Abstimmungs- und Wahlminderheiten bedeutet.

„Separatisten werden sich nicht aus eigener Kraft gegen den spanischen Staat durchsetzen können“

Was wäre Ihrer Ansicht nach im Moment die beste „linke“ Strategie in Bezug auf Katalonien?
Detlef Georgia Schulze: Ausgangspunkt jeder Strategiebestimmung muss m.E. die Einsicht sein, dass sich die Separatisten nicht aus eigener Kraft gegen den spanischen Staat durchsetzen werden können. Dafür ist es auch nicht geeignet, sich als Opfer eines vermeintlich undemokratischen spanischen Staates darzustellen und auf Eingriffe von außen zu hoffen.
Denn erstens ist zweifelhaft, ob die Separatisten auch nur in Katalonien die Mehrheit stellen und zweitens würden andere Staaten nur dann eingreifen, wenn sie ein eigenes machtpolitisches Interesse an einer Verkleinerung Spaniens hätten – und nicht wegen irgendwelcher Demokratie-Rhetorik, die eh auf beiden Seiten zum Einsatz kommt. Für die Separatisten wäre es also entscheidend, Unterstützung aus den anderen Regionen Spaniens zu bekommen.

39 fortschrittliche Gesetze, Illusionen und Fernsteuerung aus Madrid

Wie realistisch ist denn eine solche Unterstützung?
Detlef Georgia Schulze: Ein Ansatzpunkt könnten die 39 Gesetze sein, die das katalanische Parlament in den vergangenen Jahren beschlossen und das spanische Verfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt hat. Diese Gesetze sollen im heutigen Rahmen recht fortschrittlich sein.So wurde ein Gesetz gegen Energiearmut verabschiedet, das Stromsperren bei einkommensschwachen Menschen verhindern soll. Eine Kampagne, solche Gesetz nun – statt nur in Katalonien – spanienweit zu verabschieden, könnte m.E. ein Ansatzpunkt dafür sein, zumindest für einen Teil der politischen Inhalte eines Teils der Separatisten gesamt-spanische Unterstützung aufzubauen. Sogleich würde sich damit aber, was ich begrüßen würde, die separatistische Strategie selbst aufheben.
Würden solche Gesetze spanienweit verabschiedet und vielleicht sogar die Monarchie abgeschafft, so gäbe es noch weniger Grund für eine Unabhängigkeit als ohnehin. Das ist zwar ein sehr langwieriger Vorschlag, den ich hier unterbreite. Aber die Vorstellung der Separatisten – „Wir machen das Referendum, gewinnen die Abstimmung, weil sie von den Unabhängigkeitsgegnern ohnehin boykottiert wird und zwei Tage später beschließt das katalanische Parlament die Unabhängigkeit, und dann sei Katalonien auch tatsächlich unabhängig“ -, hat sich ja jetzt schon als Illusion erwiesen.

Kommen wir noch einmal auf die Frage der „Fernsteuerung“ zurück: Glauben Sie, dass es der spanischen Regierung gelingen wird, die katalanische Verwaltung von Madrid aus fernzusteuern?
Detlef Georgia Schulze: Das ist eine komplizierte Frage. Zumindest in einem scheinen sich Separatisten und spanische Regierung bisher einig zu sein, nämlich in dem Ziel, „Straßenschlachten“ bzw. Häuserkämpfe um Gebäude des Öffentlichen Dienstes in Katalonien zu vermeiden.

Aber die Frage ist, ob die Vorstellung, die katalanische Regionalregierung wird abgesetzt und dann machen die Beschäftigten das, was Madrid sagt, funktioniert?
Es könnte klappen, weil die Frage, welche Gesetze anzuwenden sind, abgesehen von den oben erwähnten 39 Gesetzen, weitgehend unumstritten ist. Das heißt: Es ist weitgehend egal, wer Behördenchef oder -chefin ist; die bürokratische Maschine rattert halt. Daran würde sich erst einmal auch dann nichts ändern, wenn das katalanische Parlament vor Freitag doch noch eine Unabhängigkeitserklärung beschließen würde.
Die Separatisten haben sicherlich nicht umfangreiche Gesetzespakete vorbereitet, um die spanische Gesetzgebung zu ersetzen; und sie werden sicherlich auch nicht einen gesetzlosen Zustand schaffen wollen, in dem sie die spanischen Gesetze ersatzlos aufheben.

Kein großer Showdown

Welches Szenario erwarten Sie für die Zukunft?

Detlef Georgia Schulze: Es kommen drei Konfliktebenen in Betracht: Erstens: Die Anwendung jener 39 Gesetze. Würden die Separatisten in der katalanischen Verwaltung und Justiz anfangen, diese Gesetze anzuwenden, dann würde zwar eine mehr oder minder große Zahl von Fällen entstehen, in denen die spanische Regierung versuchen müsste, die spanischen Gesetze durchzusetzen.Aber es würde nicht zu dem großen Showdown kommen, zu einem bestimmten Zeitpunkt alle öffentlichen Gebäude in Katalonien von separatistischen Bediensteten räumen zu müssen.
Zweitens: Nehmen wir an, die Separatisten würden bis Freitag doch noch die Unabhängigkeit erklären und dann versuchen, im Öffentlichen Dienst neue Briefbögen einzuführen, auf denen „Republik Katalonien“ steht. Dann würde sich also ein Kleinkrieg um diese Briefbögen zwischen den separatistischen und anti-separatistischen Bediensteten untereinander sowie zwischen den separatistischen Bediensteten einerseits und der Madrider Zentralregierung andererseits entwickeln. Ob ein solcher Kleinkrieg das Potential für einen Showdown hat, vermag ich nicht einzuschätzen.
Drittens: Die schon laufenden Ermittlungsverfahren wegen Aufstandes (sedición) könnten sicherlich noch auf weitere Personen ausgeweitet werden; und im Falle einer Unabhängigkeitserklärung soll noch ein Verfahren wegen Rebellion (rebelión) hinzukommen.
Bisher haben die Beschuldigten brav die spanische Souveränität anerkannt und sind den Vorladungen zur Audiencia Nacional, dem spanischen Zentralgericht für politische Strafsachen, nachgekommen. Wenn die Beschuldigten das in Zukunft nicht mehr machen würden, sondern entweder untertauchen oder darauf warten würden, dass die zentralstaatlichen Sicherheitsorgane versuchen, sie von zu Hause oder vom Arbeitsplatz abzuholen, und wenn dagegen und gegen weitere Durchsuchungen Massendemonstrationen organisiert werden, die sich der spanischen Polizei entschlossen entgegenstellen, dann würde Rajoys Plan eines „aspetischen“ Vorgehens sicherlich deutlich schwerer werden.
Aber ich habe bisher nicht den Eindruck, dass ein relevanter Teil der Separatisten zu einer solchen Konfrontation bereit ist. Militärisch könnten sie kurz- und mittelfristig nur verlieren; aber politisch würde es den Preis für Rajoy hochtreiben; aber, wenn sie offensiver, konfrontationsbereiter und militanter vorgehen würden, dann würde sicherlich auch bald das Bild der Separatisten als demokratische, gewaltfreie Opfer Risse bekommen.
Also auch insofern ist eine Prognose schwierig, wie stark oder wie wenig sich die Auseinandersetzung auch noch zuspitzen wird. Ich sehe jedenfalls nicht, dass die Separatisten in der Lage oder auch nur zu relevanten Teilen bereit sind bzw. sein werden, Katalonien für Madrid effektiv unregierbar zu machen.


„Schon jetzt dürfte es eine doppelte Enttäuschung geben“

Könnte die Unterstützung für die Separatisten bröckeln?
Detlef Georgia Schulze: In den letzten Jahren sollen jeweils 1 Millionen Menschen für die Unabhängigkeit demonstriert haben. Bei der relativ spontanen Demo am vergangenen Dienstag nach den Inhaftierungen sollen es 200.000, am Samstag mit mehr Mobilisierungszeit und dem zusätzlichen Empörungsfaktor der Anwendung des Art. 155 waren es 450.000 (laut Lokalpolizei von Barcelona).
Dies waren jetzt aber nicht nur Demonstrationen von Befürwortern einer einseitigen Unabhängigkeitserklärung, sondern auch von Gegnern einer solchen, die aber trotzdem auch die Politik der spanischen Regierung kritisieren. Das heißt: Trotz der zusätzlichen Empörungsfaktoren scheint die Mobilisierungsfähigkeit der Separatisten eher nachzulassen.
Schon jetzt dürfte es eine doppelte Enttäuschung geben: Den einen geht der Prozess nicht schnell genug, den anderen ist er schon jetzt zu kompliziert und zu konfliktreich. Und nach allem, was ich gelesen habe, scheint es weiterhin nicht so zu sein, dass die Führung der Separatisten die Bevölkerung auf harte Konflikte vorbereiten würde, sondern sie beschränkt sich darauf, die spanische Regierung als „undemokratisch“ zu denunzieren.
Abgesehen davon, dass ich diesen Vorwurf für überzogen halte: Wenn denn zutreffen würde, dass Spanien ein undemokratischer Staat sei, dass der Franquismus wiederkehre, dann müsste ja darüber diskutiert werden, wie einem solchen Regime ernsthaft Widerstand entgegengesetzt werden kann und man könnte sich nicht auf schöne Reden über „Demokratie“ und „Freiheit“ beschränken.

Interview: Peter Nowak
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