Sind eigentlich alles Populisten?

Der Europaparteitag der FDP zeigte noch einmal deutlich, dass es sich beim Streit zwischen vermeintlichen Populisten und ihren Kritikern um Scheingefechte handelt

Der Europawahlkampf wird noch mehr in der Form nationaler Wahlkämpfe inszeniert, die auf einen Richtungskampf zwischen Populismus versus Demokratie ausgerichtet werden. Damit soll jede grundsätzliche Alternative zum Kapitalismus ausgeblendet und eine Schimäre aufgebaut werden, die durchaus wirkungsmächtig ist. Schon sind viele Linke bereit, das liberale Feigenblatt für angeblich antipopulistische bürgerliche Demokraten zu geben. Wie wenig der angebliche Antipopulismus trägt, zeigte sich…

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Gibt’s nicht gibt’s

Die deutsche Bürokratie erkennt die Rentenansprüche von Ghetto-Kinderarbeit nicht an.

Das deutsche Arbeitsschutzrecht kennt keine Kinderarbeit. Was eigentliche eine zivilisatorische Selbstverständigkeit sein sollte, wird von der deutschen Rentenversicherungsgesellschaft genutzt, um…

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Mit einem neuen Einwanderungsgesetz will die Bundesregierung Wirtschaftsinte­ressen und Abschottungspolitik in Einklang bringen

Einwandern vom Fach

Die Bundesregierung hat ein Einwanderungsgesetz für Fachkräfte vorgestellt. Manche Unionspolitiker treibt die Furcht vor der »Einwanderung in die Sozialsysteme« um.

In diesen Tagen kommt es eher selten vor, dass SPD-Politiker Erfolge feiern können. Doch kurz vor der Weihnachtspause…

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Gelbe Westen jetzt auch in Ungarn?

Es ist ein genuin sozialer Protest; es wird sich zeigen, ob dieser Charakter erhalten bleibt

„Aufstand gegen Orbans Sklaverei-Gesetz“ – die Überschrift des Spiegel [1] über die Proteste in Ungarn klang martialisch. Anders als bei den Gelben Westen (häufig auch: Gelbwesten) in Frankreich wurde auch nicht von einer Querfront geredet, obwohl die ultrarechte Jobbik-Bewegung in Ungarn ganz selbstverständlicher Teil der Proteste war und ist.

Die Ungarn-Fahnen sind omnipräsent. Daneben versammeln sich in Ungarn auch Liberale mit EU-Fahnen und die versprengen Reste der ungarischen Linken und Gewerkschaften. Auslöser für die Demonstrationen waren soziale Proteste. Denn das „Sklavereigesetz“ ist nur die jüngste der kapitalfreundlichen Maßnahmen der Orban-Regierung.

Mit dieser Arbeitsrechtsnovelle wird die jährlich mögliche Überstundenzahl von 250 auf 400 erhöht. Zugleich können sich Arbeitgeber mit der Bezahlung der Zusatzarbeit künftig drei Jahre Zeit lassen statt wie bisher ein Jahr.

Orban und seine Regierung verfolgen mit dieser Politik den gleichen Zweck wie alle Austeritätspolitiker von Thatcher über Schröder bis Macron. Sie wollen den Preis der Ware Arbeitskraft senken und erhoffen sich so Vorteile in der innerkapitalistischen Konkurrenz.

Deutsche Konzerne profitieren vom Modell Orban

Konkret sieht das so aus, dass deutsche Konzerne wie BMW [2] ihre Werke nach Ungarn verlagern [3], weil sie von der konzernfreundlichen Politik profitieren.

Mit der Ideologie der Volksgemeinschaft, mit Sicherheitsdiskursen, Rassismus und Nationalismus versuchen die Rechten zu verhindern, dass sich die Beschäftigten gemeinsam organisieren, streiken und deutlich machen, dass sie eine Produzentenmacht haben. Im Fall Ungarn kommt noch ein spezifischer Antisemitismus hinzu. Prompt wird George Soros, der das spezielle Feindbild der ungarischen Rechten [4] ist, nun auch für diese Proteste verantwortlich gemacht.

Damit bewegen sie sich auf altem antisemitischem Gelände. Als vor fast 100 Jahren die ungarische Räterepublik die Hoffnung erweckte, auch in ihrem Land stünde eine Alternative zum Kapitalismus auf der Tagesordnung, reagierten die alten Mächte mit einem Antisemitismus, der sie schließlich zum Partner bei der Shoah werden ließ. Die ungarische Rechtsregierung hat viele der damaligen Protagonisten rehabilitiert.

Die österreichische Rechtsregierung, die mit ihren kapitalfreundlichen Maßnahmen ihren ungarischen Kollegen kaum nachsteht, ist in den letzten Wochen auch mit stärker werdenden sozialen Protesten konfrontiert. Sie werden medial weniger beachtet. Dagegen setzt die Rechtsregierung auf den Sicherheitsdiskurs, wie Reinhard Kreissl [5] vom Wiener Zentrum für sozialwissenschaftliche Sicherheitsforschung [6] in einem Interview [7] erläuterte.

In Österreich haben wir gerade eine typische Konstellation: Auf der einen Seite ein Programm der neoliberalen Modernisierung, das heißt Abbau von sozialstaatlichen Rechten und Leistungen und parallel dazu eine Reihe von immer wieder aufgekochten Sicherheitsproblemen. Wir bauen den Sozialstaat ab, und zur Ablenkung bauen wir vorne große Bedrohungen auf: Ausländer, Terroristen, Migration, die Kriminalität, auch wenn sie in Wirklichkeit sinkt. Wenn ich das Sicherheitsgefühl der Menschen permanent mit Meldungen wie „Vorsicht, Ausländer!“ oder „Vorsicht, Drogensüchtige!“ bombardiere, dann führt das zu einer latenten Verunsicherung, obwohl es keinen Grund dazu gibt.

Reinhard Kreissl, Wiener Zentrum für sozialwissenschaftliche Sicherheitsforschung

Soros oder Russland – die unterschiedlichen Verschwörungstheorien gegen die Proteste

Gegen die Gelbwesten in Frankreich reagieren die Freunde der Regierung Macron nicht mit Antisemitismus, sondern mit einer anderen Verschwörungstheorie. Danach steht Russland hinter diesen Protesten. Konkret sollen von Russland gesteuert Fake-News-Seiten für die Ausbreitung der Proteste verantwortlich sein. Darauf gab der Wiener Publizist Robert Misik in der Taz einen guten Konter [8]:

Letzteres ist sicher auch nicht falsch – aber der Glaube, eine sinistre Macht könnte Unmut nach Belieben entfachen und steuern und hinter jeder diffusen Erscheinung, die noch nicht völlig eindeutig interpretiert werden kann, stünde einer, der im Hintergrund die Fäden zieht, lappt schon sehr in Richtung Verschwörungstheorie. Die Idee von Putins Posting-Armeen ist in gewisser Weise die Verschwörungstheorie, die gegenwärtig im liberalen Zentrum beliebt ist. Sie wird eben bloß nicht Verschwörungstheorie genannt, weil die Anhänger dieser Verschwörungstheorie üblicherweise über Anhänger von Verschwörungstheorien lachen. Eine Verschwörungstheorie für Gegner von Verschwörungstheorien, was für eine praktische Sache!

Robert Misik, Taz

Es wäre tatsächlich viel gewonnen, wenn die Proteste in Ungarn nicht für unterschiedliche Formen der Kapitalherrschaft nach dem Motto „Modell Orban versus Modell Macron“ vereinnahmt werden könnten. Beide rollen dem Kapital den Teppich aus auf Kosten der Bevölkerungsmehrheit.

Welcher Erfolg ist möglich?

Erfolg ist nur möglich, wenn die Proteste das gemeinsame Interesse in den Mittelpunkt stellen. Dann müssten sie die jahrelangen, auch erfolgreichen Arbeitskämpfe migrantischer Beschäftigter in der italienischen Logistikbranche als Vorläufer [9] ihrer Kämpfe begreifen. Die streikten gegen die gleiche Austeritätspolitik, die Italien zum Eldorado für das Kapital machen sollte.

Wie stark auch in liberalen Kreisen die Flüchtlingspolitik dazu genutzt werden soll, zeigten einige Kommentare zu den Protesten in Ungarn. Dort wurde argumentiert, dass es durch die migrantenfeindliche Politik kaum Arbeitslosigkeit in dem Land gibt und die Beschäftigten dadurch in einer stärkeren Position seien. Durch die neuen Gesetze soll diese Arbeitermacht unterminiert werden.

Da wird von den Liberalen offen gesagt, dass es ihnen nicht um Rechte für alle, sondern um Dumpinglöhne geht, wenn sie von Migration reden. Dagegen sollte eine soziale Bewegung das Recht aller Menschen auf ein würdiges Leben in den Mittelpunkt stellen. Dass werden zurzeit in Ungarn nur kleine Kerne der Bewegung verfechten. Sie könnten sich dann sicher auch auf die Ungarische Räterepublik [10] von vor fast 100 Jahren beziehen.

Mit einer solchen Orientierung haben sie nicht nur Jobbik, sondern auch die EU-Liberalen zum Gegner. Aber aus solchen Kernen könnte sich eine neue zeitgemäße linke Bewegung formen, die soziale Fragen mit dem Kampf gegen den Antifeminismus und Antisemitismus der Orban-Regierung verbindet.

Ihr könnte es gelingen, Arbeiter und Studierende, die gegen das Verbot der Genderforschung in Ungarn protestieren, mit kritischen Journalisten, die sich um die Pressefreiheit in dem Land sorgen, zusammenzubringen. Gelingt das nicht und behalten die EU-Liberalen die Hegemonie in der Bewegung, dann könnte sie so enden, wie zahlreich Proteste der vergangenen Jahre in Polen.

Da gelang es der rechten Regierung, die Forderungen nach Frauen- und Menschenrechten als Privilegien von Liberalen zu denunzieren und sie so einzuhegen. Zudem steht mit der Jobbik auch in Ungarn eine noch rechtere Herrschaftsvariante zum Orban-Regime bereit. Wenn die sich auch jetzt gegen Orban stellt, so darf nicht vergessen werden, dass es eine lange Kooperation zwischen beiden gab, schon 2006 als mit rechten Aufmärschen und Rundfunkbesetzungen die ebenfalls wirtschaftsliberalen Sozialdemokraten aus der Regierung vertrieben wurden [11].

Peter Nowak

URL dieses Artikels:
http://www.heise.de/-4256932
https://www.heise.de/tp/features/Gelbe-Westen-jetzt-auch-in-Ungarn-4256932.html

Links in diesem Artikel:
[1] http://www.spiegel.de/politik/ausland/ungarn-proteste-gegen-viktor-orbans-sklavereigesetz-a-1244150.html
[2] https://www.handelsblatt.com/unternehmen/industrie/autokonzern-bmw-baut-neues-werk-in-ungarn/22864454.html?ticket=ST-90195-x4bRTfk2OiSP9QOF0uFS-ap3
[3] https://www.nzz.ch/wirtschaft/auch-bmw-setzt-auf-ungarn-ld.1408595
[4] https://www.heise.de/tp/features/Der-ewige-Soros-4004513.html?seite=all
[5] https://www.vicesse.eu/reinhard-kreissl
[6] https://www.vicesse.eu/
[7] https://www.jungewelt.de/artikel/345570.sozialabbau-und-verunsicherung-zur-ablenkung-bauen-wir-gro%C3%9Fe-bedrohungen-auf.html
[8] http://www.taz.de/!5556273/
[9] https://de.labournet.tv/die-angst-wegschmeissen
[10] https://web.archive.org/web/20140621084341/http://www.dus.sulinet.hu/oktatas/Horthy/R%C3%A4terepublik_h.htm
[11] https://riotsinhungary.blog.hu/

Gerichtsprozess nach türkischem Geschmack


Musa Asoglu ist in Deutschland angeklagt, weil er Mitglied der kommunistischen DHKP/C sein soll

In Hamburg steht ein Mann wegen der angeblichen Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung vor Gericht. Linke halten das für politisch motiviert.

»Freiheit für Musa Aşoğlu«, lautete die Parole, unter der diesen Samstag in Hamburg rund 130 Menschen demonstrierten. Gegen den in der Türkei geborenen Mann mit niederländischer Staatsangehörigkeit läuft seit Januar 2018 ein Verfahren vor dem Hamburger Oberlandesgericht. Angeklagt ist Aşoğlu nach Paragraf 129b Strafgesetzbuch wegen angeblicher Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Organisation. Ihm wird eine führende Rolle in der »Revolutionären Volksbefreiungspartei/Front« (DHKP/C) vorgeworfen. Die Kommunisten leisten Stadtteilarbeit in den Armenvierteln türkischer Großstädte und übernehmen auch immer wieder Verantwortung für bewaffnete Aktionen.

Vom Vorwurf der Mitgliedschaft in der DHKP/C war Aşoğlu bereits im Jahr 2007 durch ein belgisches Gericht frei gesprochen worden. Für die Hamburger Boulevardmedien war er schon vor der Urteilsverkündung schuldig. »Was wird jetzt aus dem Terrorfürsten?«, titelte die »Hamburger Morgenpost« im Dezember 2016, als Aşoğlu in der Hansestadt verhaftet worden war.

Damit übernahm die Zeitung die Diktion des türkischen Innenministeriums und der türkischen Justiz, die ein Kopfgeld in Höhe von 1,2 Millionen Euro auf Aşoğlu ausgesetzt hatten. Die US-amerikanische Justiz bot für den Mann sogar drei Millionen. Dort will man ihn vor Gericht stellen, weil die DHKP/C sich auch zu Anschlägen auf die US-Botschaft in Istanbul und das US-Konsulat in Ankara 2013 bekannte. In türkischen Medien wurde Aşoğlus Verhaftung als »großer Schlag« gegen die »linken Terrororganisationen« gefeiert.

Nicht nur bei der radikalen Linken sondern auch bei Bürgerrechtsgruppen steht diese Passage des Strafgesetzbuchs seit Langem in der Kritik. Er kommt häufig in Verfahren gegen linke Gruppen zum Einsatz. Gegen ausländische rechtsextreme Organisationen wie etwa die Grauen Wölfe ist der Paragraf bisher indes nicht angewandt worden; sie sind in Deutschland offiziell nicht verboten. Bei den Ermittlungen wegen linken Terrors scheint auch die Kooperation zwischen der türkischen und deutschen Justiz reibungslos zu laufen, und das, obwohl die Bundesregierung immer wieder die mangelnde Rechtsstaatlichkeit der Türkei beklagt.

Vor einem deutschen Gericht kam der Paragraf gegen linken Widerstand zum ersten Mal im Jahr 2008 zum Einsatz. Damals wurden fünf vermeintliche Mitglieder der DHKP/C vor dem Stuttgarter Oberlandesgericht verurteilt. Seit diesem Präzedenzfall werden auf dieser Grundlage auch andere Linke aus der Türkei angeklagt. Seit Juni 2016 läuft in München ein Verfahren gegen elf mutmaßliche Mitglieder der türkischen kommunistischen Partei TKP/ML. 2010 entschied der Bundesgerichtshof, dass auch Mitglieder der kurdischen Arbeiterpartei PKK nach dem Paragrafen 129b angeklagt werden können. Davon wird seitdem reichlich Gebrauch gemacht.

Die Rechtsanwältinnen Gabriele Heinecke und Fatma Sayın, die Aşoğlu verteidigen, betonen, dass für ein Verfahren nach 129b eine Ermächtigung des Bundesministeriums erforderlich ist. Der Vorstand der Solidaritätsorganisation »Rote Hilfe« verwies auf die Verantwortung der Bundesregierung. »Die Entscheidung, ob Unterstützer*innen der kurdischen Befreiungsbewegung oder türkische Kommunist*innen einen legitimen Kampf führen oder ›Terroristen‹ sind, wird auf politischer Ebene getroffen.«

In den nächsten Wochen soll im Fall Aşoğlu in Hamburg das Urteil gesprochen werden. Unterstützer rechnen mit einer Haftstrafe. Danach könnte ihm eine Auslieferung an die USA oder die Türkei bevorstehen. In Deutschland könnten bald neue 129b-Verfahren beginnen. Am Samstag wurde der in Belgien lebende İnan Doğan auf dem Weg zur Demonstration in Hamburg verhaftet – für ihn lag ein internationaler Haftbefehl vor.

aus: Neues Deutschland,
https://www.neues-deutschland.de/artikel/1108118.dhkp-c-gerichtsprozess-nach-tuerkischem-geschmack.html

Peter Nowak

Überwachung von Fahrverboten: Daten- oder Umweltschutz?

Gäbe es eine Kultur der Ablehnung des abgasstarken Automobilverkehrs, könnte man sich die ganzen Überwachungsmaßnahmen sparen. Ein Kommentar

Monatelang wird nun darüber debattiert, wie man mit den Dieselskandal umgeht und wie man vor allem endlich die gemeinsam von der EU festgelegten Grenzwerte einhält. Die Politik wäre ohne entsprechende Urteile untätig geblieben. Zigtausende Menschen, die durch das Gift in der Luft krank werden und sterben, haben längst keinen solchen Handlungsdruck erzeugt wie die EU-Richtlinien und die durch die Umwelthilfe erstrittenen Gerichtsurteile.

Jetzt geht es um die Umsetzung der ersten Fahrverbote und die Frage der Kontrolle und Überwachung [1] und schnell zeigen sich neue Probleme. So schlagen Datenschützer Alarm und fordern ein Ende [2] der geplanten Änderung des Straßenverkehrsgesetzes [3].

„Anlasslose Massenüberwachung“

Die Kritik der Datenschützer von Digitalcourage [4] ist fundamental.

„[Z]um Schutz der (…) Bevölkerung vor Abgasen“ ist im Rahmen einer flächendeckenden Videoüberwachung der autofahrenden Bevölkerung die massenhafte, ständige und automatische Datenübertragung des „Kennzeichens des Fahrzeugs“, „Merkmale des Fahrzeugs“, „Bild des Fahrzeugs und des Fahrers“ sowie „Ort und die Zeit der Teilnahme am Verkehr im Gebiet mit Verkehrsbeschränkungen oder Verkehrsverboten“ an zuständige Landesbehörden beabsichtigt.

Stellungnahme [5] von Digitalcourage zum Entwurf des Neunten Gesetzes zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes

Zusammenfassend sprich Digitalcourage von anlassloser Massenüberwachung. Die Organisation moniert, dass auch eine verdeckte Datensammlung möglich sein soll.

Bei der Kritik der Datenverarbeitung bleibt Digitalcourage allerdings bei Mutmaßungen:

Nach Einschätzung von Digitalcourage ist nicht auszuschließen, dass über das „Bild des Fahrzeugs und des Fahrers“ hinaus, Radfahrer.innen, Fußgänger.innen, Beifahrer- und Mitfahrer.innen erfasst werden. Insbesondere Berufsgeheimnisträger.innen, wie Ärzt.innen, Anwält.innen, Seelsorger.innen oder Journalist.innen und ihre Klient.innen, Patient.innen und Informant.innen sind von der Überwachungsmaßnahme betroffen.

Stellungnahme [6] von Digitalcourage zum Entwurf des Neunten Gesetzes zur Änderung Straßenverkehrsgesetzes

Hier erschließt sich auch nicht, warum die Berufsgeheimnisträger besonders von der Maßnahme betroffen sind. Eigentlich geht es doch Digitalcourage darum, dass es Diskussionen über deren Schutz vor der Überwachung gibt.

Mittlerweile warnt [7] auch die FDP vor dem „Einstieg in den grün lackierten Überwachungsstaat“ und in der FAZ malt man die Totalüberwachung der Dieselfahrer [8] an die Wand.

Politische Kräfte, die nach den Protesten gegen den G20-Gipfel der Totalüberwachung widerständiger Kreise das Wort redeten und erst kürzlich applaudierten, als ein Streit um ein Paket in einem Berliner Spätkauf mehrere Monate später zu einer Razzia bei linken Projekten [9] führte, schlagen Alarm, wenn auch der im wahrsten Sinne des Wortes gemeine Autofahrer mal von einer Kamera erfasst wird.

Nun ist der Hinweis sicher berechtigt, dass es diese Art der Überwachung nicht geben müsste, wenn die Politik schon viel früher und viel grundsätzlicher klare Kante gegen Hersteller und Nutzer von Autos gezeigt hätte.

Was fehlt, ist eine Ablehnungskultur gegen das Auto

Tatsächlich muss es gegen beide gehen. Denn die Autoindustrie kann nur mit den todbringenden und gesundheitsgefährdenden Gerätschaften Profit machen, weil noch zu viele Normalvergaser sich das Recht rausnehmen, unsere Luft zu vergiften, unsere Straßen einzunehmen und unser Leben zu beeinträchtigen.

Autofahrer müsste mindestens ein so starker Unwille entgegenschlagen, wie das seit Jahren die Raucher erfahren müssen. Ihnen müsste im Straßenleben klar gemacht werden, dass sie eigentlich nicht erwünscht sind. So sollte überall vor den Gefahren des Autofahrens gewarnt werden, die gesundheitlichen Schäden der Abgase sollten auf jedem Auto zu lesen sein, wie auch auf die Gefahren des Rauchens auf jeder Zigarettenpackung hingewiesen wird.

Gäbe es eine solche Kultur der Ablehnung des Automobilverkehrs könnte man sich die ganzen Überwachungsmaßnahmen sparen. Diese sollen eher suggerieren, dass die Politik nun Umweltmaßnahmen umsetzen will und haben hauptsächlich einen Placebo-Effekt. Daher ist die Kritik der Datenschutzverbände berechtigt. Doch warum muss sich dann Digital-Courage so unangenehm an die Autofahrerlobby anbiedern?

Die Bevölkerung in diesem Land hat nach Ansicht von Digitalcourage das Recht, autofahren zu können, ohne ins Gesicht gefilmt zu werden.

Stellungnahme [10] von Digitalcourage zum Entwurf des Neunten Gesetzes zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes

Da wird genau die Propaganda derer bedient, die sich die freie Fahrt für freie Bürger auch dann nicht nehmen lassen wollen, wenn daran viele Menschen krankwerden und sterben. Da wird das Individualrecht überhöht, was dann zur Folge hat, dass Datenschützer und FDP sich argumentativ kaum noch unterscheiden.

Dagegen müsste festgehalten werden, dass das Benutzen von Autos mit betrügerischer Software und auch das Autofahren nicht harmlos sind. In einer vernünftiger eingerichteten Gesellschaft, in der nicht der Profit, sondern das gute Leben im Mittelpunkt stünde, könnte durchaus das Teilen und Austauschen von Daten propagiert werden.

Denn dann soll nicht mehr der Einzelne und seine Daten im Mittelpunkt stehen, sondern der Mensch, als Teil eines Kollektivs, das gemeinsam für lebenswerte Zustände sorgt. Dafür sollten Daten nicht mehr dem einzelnen Individuen, auch nicht irgendwelchen sammelwütigen staatlichen Instanzen und Behörden, sondern der Allgemeinheit gehören.

Nur so könnten Probleme, die einen Großteil der Menschen betreffen, auch gemeinsam angegangen werden. Der Kampf für eine Umwelt, in der alle leben können, ist nur eines dieser zentralen Probleme. Der bürgerliche Individualismus, zu dem auch das Bild des Einzelnen und seiner Daten gehört, ist Teil des Problems.

Doch dabei handelt es um ein „notwendig falsches Bewusstsein“. In einer Konkurrenzgesellschaft, wo die Daten längst die heiße Ware sind, ist Datenschutz sinnvoll und nötig. Doch gleichzeitig ist es sinnvoll, sich über die Einrichtung einer Gesellschaft Gedanken zu machen, in welcher der Datenschutz überflüssig wird, weil Daten eben dann keine Ware mehr wären.

Peter Nowak

URL dieses Artikels:
http://www.heise.de/-4230027

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.heise.de/newsticker/meldung/Intelligente-Videoueberwachung-von-Dieselfahrverboten-gefordert-4220092.html
[2] https://digitalcourage.de/blog/2018/stellungnahme-autofahr-ueberwachungsgesetz-dieselskandal
[3] https://www.bmvi.de/SharedDocs/DE/Anlage/G/Gesetze-19/entwurf-neuntes-gesetz-zur-aenderung-des-strassenverkehrsgesetzes.html
[4] https://digitalcourage.de/blog/2018/dieselskandal-wird-ueberwachungsskandal
[5] https://digitalcourage.de/blog/2018/stellungnahme-autofahr-ueberwachungsgesetz-dieselskandal
[6] https://digitalcourage.de/blog/2018/stellungnahme-autofahr-ueberwachungsgesetz-dieselskandal
[7] https://www.fdp.de/buergerrechte-datenschutz-infrastruktur-umweltpolitik-verbraucherschutz_der-einstieg-den
[8] http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/diesel-affaere/bundesregierung-plant-eine-totalueberwachung-von-dieselfahrern-15898820.html
[9] https://www.tagesspiegel.de/berlin/razzia-in-rigaer-strasse-anwalt-sek-einsatz-wirkt-inszeniert/23638748.html
[10] https://digitalcourage.de/blog/2018/stellungnahme-autofahr-ueberwachungsgesetz-dieselskandal

Europäisches Treffen der Solidarität

Viel wird darüber geklagt, dass es mit der transnationalen Kooperation in der Linken selbst auf europäischer Ebene nicht so recht klappt. Wo ist denn die europäische Gewerkschaft, die auch Arbeitskämpfe im EU-Raum gemeinsam führt?

iDe europäischen Zusammenschlüsse der Reformlinken kommen über ein Zweckbündnis im EU-Parlament nicht hinaus. Gemeinsame Kämpfe werden von dort nicht initiiert. Doch in der außerparlamentarischen Linken gibt es Bestrebungen einer transnationalen Kooperation. So trafen sich am 17. und 18. März in Köln Linke aus ganz Europa zum Erfahrungsaustauch. Anlass war der Kampf gegen Repression. De halb wurde das Datum auch um den 18. März, den Internationalen Kampftag der politischen Gefangenen gelegt. Das Ende des Treffens war eine zweistündige Kundgebung vor der JVA Köln-Ossendorf, auf der die Gefangenen direkt angesprochen wurden. Der Anlass des Treffens liegt in der Solidarität mit einer Gefangenen, die allerdings seit einigen Wochen nicht mehr in Ossendorf sondern in Wittlich inhaftiert ist.

In der Einladung heißt es: „2017 wurde in Aachen eine Genossin aus Barcelona zu siebeneinhalb Jahren Knast verurteilt und sitzt derzeit in Köln. Bei der kollektiven, sich über Europa erstreckenden, Solidaritätsarbeit, wurde immer wieder festgestellt, dass es ein starkes Bedürfnis auf allen Seiten gibt, mehr voneinander zu erfahren und sich zusammen solidarisch mit den von Repression Getroffenen zu zeigen. Daraus entwickelte sich die Idee, das Wochenende um den Tag der Gefangenen am 18.03.2018 zu gemeinsamen Aktivitäten in Köln zu nutzen.“

Solidarität mit Lisa

Bei der Gefangenen handelt es sich um Lisa, eine Anarchistin, die von der Justiz des Bankraubs beschuldigt wurde. Sofort nach ihrer Verhaftung gab es eine transnationale Solidaritätskampagne, die vor allem von libertären Kreisen getragen wurde. In vielen europäischen Ländern fanden vor und nach der Verurteilung von Lisa Solidaritätsaktionen statt, von der Störung einer Veranstaltung des deutschen Konsulats in Barcelona bis zum Aufhängen von Transparenten. Am 21. Dezember 2017 gab es einen Internationalen Solidaritätstag mit Lisa. Dass darüber selbst in linken Kreisen wenig bekannt wurde, mag auch daran liegen, dass die Gefangene nicht als Opfer von staatlicher Repression sondern als Anarchistin dargestellt wurde, die auch den Knast zum Kampfterrain macht. Die Frage, ob sie die ihr vorgeworfenen Taten verübt hat oder nicht, spielt für die Organisator_innen keine Rolle. In einer Erklärung heißt es: „Eine Strafe auferlegt zu bekommen, bedeutet nicht, dass die inhaftierte Person ‚nur‘ dem Gefängnissystem ausgeliefert ist. Der politische und justizielle Staatsapparat ermittelt, über- wacht, analysiert weiter und entscheidet über das Schicksal der Gefangenen. Vor allen wenn die Gefangene nicht auf ihren Knien vor Gericht um Gnade gebe- ten hat (…). Die Möglichkeiten, mit denen das Justizsystem demonstrieren kann, dass sie mit ihr noch nicht fertig sind, sind zahlreich. Die Verweigerung mit der Polizei zu kooperieren, gilt als Schuldbeweis und kann dazu genutzt werden, die Ermittlungen auf unbestimmte Zeit aufrechtzuerhalten. Das Schweigen und die Würde gegenüber den Vollstreckenden und ihren Vorwürfen wird als Verschleierung des Verbrechens betrachtet und kann neue Ermittlungen herbeiführen.“ Eine solche offensive Strategie gegen die Justiz und den Gefängnisapparat ist heute in Deutschland selten. Doch noch in den 1980er und 1990er Jahren war ein solch offensives Agieren von Gefangenen und Angeklagten durchaus in größeren Teilen der außerparlamentarischen Linken üblich. Das hat dann dazu geführt, dass häufig Gerichtssäle von der Polizei geräumt wurden, weil der politische Kampf auch im Gerichtssaal ausgetragen wurde.

Nicht die Repression, sondern die kriminalisierte Politik stand im Mittelpunkt

Das hatte auch zur Folge, dass viele Medien nicht darum herum kamen, sich auch mit den poltischen Intentionen der Gefangenen und ihrer Unterstützer_innen zu beschäftigen. Nicht die Repression, sondern die Politik, die kriminalisiert werden sollte, stand im Mittelpunkt. Das stärkte die Bewegung der Unterstützer_innen. Denn das Starren auf Repression lähmt in der Regel, während der Fokus auf den politischen Zielen, die kriminalisiert werden, eher mobilisiert. Der Kongress am 17. und 18. März in Köln war der Versuch, diese Politik zu diskutieren und sich besser zu vernetzen. Die unterschiedliche Politik der Repression und Zerstreuung widerständischer Kerne und Netzwerke in den unterschiedlichen Ländern stand im Zentrum vieler Diskussionen.

Positiv zu vermerken ist, dass dieses Internationale Treffen seinem Anspruch gerecht geworden ist. Gerade in Deutschland ist es oft so, dass auf Treffen mit dem Adjektiv international dann doch die deutschsprachigen Regionen im Mittelpunkt stehen. Das war in Köln anders. Dort standen die Berichte der Genoss_innen u.a. aus Italien, Griechenland und Belarus im Mittelpunkt.

Aus den osteuropäischen Ländern waren nur wenige Genoss_innen anwesend, die ihren Lebensmittelpunkt wegen der Repression oft mittlerweile in Deutschland haben. Interessant zu erfahren war, dass in Belarus die anarchistische Bewegung eine wichtige Rolle in der dortigen Opposition gegen den autoritären Langzeitherrscher Lukaschenko spielt.

Gegen das sächsische Polizeigesetz

Die Teilnehmer_innen aus Deutschland waren in der Regel Zuhörer_innen oder berichteten über ihre Erfahrungen mit Knast und Repression. Mit einer Ausnahme. Genoss_innen aus Dresden informierten über das geplante sächsische Polizeigesetz, das mehr Kameras, Überwachung und Kontrolle bedeutet. Die Details dieses Gesetzes werden erst in den nächsten Monaten bekannt. Doch hier dürfte nach dem Vorbild von Bayern ein weiterer Versuch erfolgen, staatliche Ausforschungen, die heute bereits in einer gesetzlichen Grauzone vollzogen werden, zu legalisieren. Hier blieb die Frage offen, wie die erklärten Gegner_innen von jedem Staat mit einer reformistischen Linken umgehen, die ebenfalls Kritik an dem geplanten sächsischen Polizeigesetz angemeldet hat. Ist es möglich, im Widerstand gegen dieses spezifische Projekt zu kooperieren? Diese Frage kam auch auf, als es um die Einschätzung der Gefangenengewerkschaft GG/BO ging, die es in den letzten drei Jahren geschafft hat, in vielen Gefängnissen Unterstützer_innen für konkrete Reformen zu gewinnen. Es gab bei einigen Teilnehmer_innen den Hinweis, dass die Gefangenengewerkschaft klar reformistische Ziele formuliert, aber in den Knästen einen Raum der Solidarität öffnet. Schließlich dominieren in den Knästen Konkurrenz und Entsolidarisierung, das ist drinnen nicht anders als draußen. Wenn Hunderte Gefangene sich in einer Gefangenengewerkschaft für konkrete Forderungen organisieren, ist das unterstützenswert.

Soziale Kämpfe und Widerstand

Was für die Situation in den Knästen richtig ist, hat auch draußen Gültigkeit. Daher war es erfreulich, dass sich die erste Diskussionsrunde am Samstagmorgen der Frage widmete, ob und wie die Linke die sozialen Kämpfe wahrnimmt. Mit Linke ist hier das außerparlamentarische und libertäre Spektrum gemeint, das sich in Köln versammelt hat. Nicht nur in Belarus ist die libertäre Linke Teil des sozialen Protests. Griechische Genoss_innen berichteten über den langjährigen Widerstand gegen die Goldmine auf der Halbinsel, der seit Jahren zum Kristallisationspunkt von Widerstand in Griechenland und darüber hinaus geworden ist. Seit Jahren sind dort Aktivist_ innen massiver Repression aus- gesetzt. Das hat sich auch unter der Tsipras-Regierung nicht geändert, die in der Opposition noch zu den Gegner_innen des Minenprojekts gehörte, bis sie zur Regierungslinken wurde. Die griechischen Genoss_innen waren auch ehrlich genug, um deutlich zu machen, dass auch in den Reihen der antiautoritären und undogmatischen Linken der Tsipras-Regierung die Möglichkeit gegeben wurde, zu zeigen, ob sie zumindest einen Teil ihrer Versprechungen umsetzt. In den ersten Wochen nach dem Regierungsantritt schien es so, als würden einige Reformen umgesetzt. Es sind auch viele der antiautoritären Linken gegen das Austeritätsdiktat der von Deutschland dominierten EU auf die Straße gegangen. Nachdem Tsipras kapituliert hatte, wurde er auch innenpolitisch ein Sozialdemokrat, der mit linken Sprüchen rechte Politik umsetzt. Damit hat er die Theorien der außerparlamentarischen und anarchistischen Linken bestätigt, dass eine grundsätzliche Veränderung nicht in den Parlamenten und in den Regierungspalästen umgesetzt werden kann. Eine Lehre, die die Regierungslinken dieser Welt trotz aller Erfahrungen nicht ziehen wollen, weil sie sich dann selber in Frage stellen müssten. Das wäre eigentlich eine gute Grundlage für das Wachsen einer außerparlamentarischen Linken, die Veränderungen auf der Straße und nicht im Parlament erkämpfen will. Voraussetzung wäre dannaber, den sozialen Kämpfen auch den Kämpfen von Lohnabhängigen mehr Solidarität und Beachtung zu schenken. Nur ein Beispiel. Der jahrelange Kampfzyklus der Logistikarbeiter_innen in Norditalien, den Bärbel Schönafinger von labournet.tv mit dem Dokumentar lm „Die Angst wegschmeißen“ bekannt gemacht hat, war bei den italienischen Genoss_innen auf der Konferenz kein Thema. Dabei hat der Arbeitskampf nichts mit Protestritualen etablierter Gewerkschaften zu tun. Die überwiegend migrantischen Logistikarbeiter_innen blockierten die Zufahrten zu Logistikzentren, es kam zu Räumungen durch die Polizei. Unterstützt werden sie von der kleinen lin- ken Basisgewerkschaft Si Co- bas. Wenn solche Kämpfe, die es in vielen Ländern gibt, Teil der Praxis der antiautoritären Linken würden, hätte sie die Chance, eine gesellschaftliche Gegenmacht zu entwickeln. Zu wünschen wäre es. Denn in einer Zeit, wo von einer Regierungslinken niemand mehr etwas erwartet, wäre es eine Alternative gegen politische Apathie und Rechtsruck. Dann könnte auch das Kölner Treffen als Austausch grenzüberschreitender Realität eine Fortsetzung finden. Wichtig ist dabei nicht das Treffen sondern der gesellschaftliche Prozess in den Basiskämpfen der einzelnen Länder.

aus: mai 2018/429 graswurzelrevolution 23
http://www.graswurzel.net/intern/gwr429klein.pdf

Peter Nowak

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Der Artikel wurde im Schattenblick nachgedruckt:

http://www.schattenblick.de/infopool/medien/altern/gras1763.html

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Hinweis in der jungen Welt:

Graswurzelrevolution

Katja Einsfeld sucht in einem mutmaßlich ernstgemeinten Beitrag nach »anarchistischen Lösungsansätzen für das Putzproblem«. Alle müssen ins »Putzkollektiv«! Über eine Aktion von Atomwaffengegnern gegen den Fliegerhorst Büchel und die nachfolgenden juristischen Verwicklungen berichtet Katja Tempel. Jakob Reimann skizziert in einem lesenswerten Text die Interessen der verschiedenen Akteure des Krieges im Jemen, wo sich eine »historische Cholera- und Hungerkatastrophe« entwickelt. Peter Nowak fragt, wo die »europäische Gewerkschaft« sei, die »auch Arbeitskämpfe im EU-Raum gemeinsam führt«. Hier sei von der Regierungs- und Reformlinken nichts zu erwarten, dafür aber womöglich von der »antiautoritären Linken«. (jW)

Graswurzelrevolution, 47. Jg./Nr. 429 (Mai 2018), 24 Seiten, 3,80 Euro, Bezug: Verlag Graswurzelrevolution e. V., Vauban­allee 2, 79100 Freiburg, E-Mail: abo@graswurzel.net

https://www.jungewelt.de/artikel/332412.neu-erschienen.html

Sachsen: Mehr Sozialpolitik statt Repression!

Der Widerstand gegen Demokratieabbau und das neue sächsische Polizeigesetz wächst

In den letzten Jahren wurde rund um das Connewitzer Kreuz an Silvester in Leipzig die Demokratie massiv eingeschränkt. Die Stadt Leipzig hat für die Jahreswechsel 2015/16, 2016/17 und 2017/18 per Allgemeinverfügungen Versammlungsverbote am Connewitzer Kreuz erlassen.

Wie aus den Akten hervorging, geschah dies auf Drängen der Polizei. Seit Jahren beschäftigt die Leipziger Politik und auch die Medien die angebliche Randale zu Silvester rund um das Connewitzer Kreuz. Dabei machen auch die Polizeiberichte der Jahre 2017 und 2018 deutlich, dass die reale Lage mit der dramatisierenden Berichterstattung wenig zu tun hat.

Die Initiative für Versammlungsfreiheit hat gegen die Verfügungen Klage eingereicht und konnte damit aktuell vor dem Verwaltungsgericht Erfolg erzielen. Begleitet wurde die Verhandlung u. a. durch die linksliberalen Medien Leipziger Internet Zeitung und Stadtmagazin Kreuzer sowie der Landtagsabgeordneten Juliane Nagel (Die Linke).

„Es bedarf konkreter und nachvollziehbarer Anhaltspunkte für eine Gefahr der öffentlichen Sicherheit, um ein Versammlungsverbot via Allgemeinverfügung einzurichten. Irgendwelche Internetseiten reichen da nicht, (…) die Versammlungsfreiheit ist ein hohes Gut“, begründete die Vorsitzende Richterin am Verwaltungsgericht ihre Entscheidung.

Die Initiative für die Versammlungsfreiheit begrüßt den Richterspruch, macht aber auch in der Pressemitteilung darauf aufmerksam, dass damit die demokratieeinschränkende Praxis in der „rechten Ordnungszelle Sachsen“ kaum aufzuhalten sein wird.

Mit der Einrichtung von Kontrollbereichen, Gefahrengebieten und Waffenverbotszonen hat die Polizei bereits genug Werkzeuge. Zudem ist das rechtssichere Auftreten, dank fehlender Kennzeichnung und unabhängiger Beschwerdestelle, in Sachsen nicht sichergestellt. BeamtInnen setzen sich bei Versammlungen und Demonstrationen regelmäßig über geltendes Recht oder aktuelle Urteile hinweg.

Neben dem Einsatz von Gummigeschossen rund um die G20 Proteste, durch sächsische PolizistInnen, sei hier an die rechtswidrige Räumung des Camps in Entenwerder oder die Eskalationsstrategie bei der „Welcome to Hell“-Demo erinnert.

Initiative für Versammlungsfreiheit

Widerstand gegen das sächsische Polizeigesetz

So macht die bürgerrechtliche Initiative deutlich, dass sie jetzt ihren Fokus auf das geplante neue sächsische Polizeigesetz legen will.

Bis zum nächsten Jahreswechsel gilt es den Widerstand gegen die Reform des Polizeigesetzes nach bayrischem Vorbild zu unterstützen.

Initiative für Versammlungsfreiheit

Bisher sind nur erste Überlegungen für die Verschärfungen des sächsischen Polizeigesetzes bekannt, die sich am bayerischen Gesetz orientieren. Noch werden zwischen den sächsischen Regierungsparteien SPD und CDU die Details ausgehandelt. Doch die Entwürfe zeigen, dass der Law-and-Orderkurs in Sachsen fortgesetzt werden soll.

Zur Straftatenverhütung wird ein ganzes Bündel neuer oder erweiterter Befugnisse geschaffen. Hierzu gehören breitere Observationsmöglichkeiten, neue Durchsuchungsbefugnisse sowie strafbewehrte Aufenthaltsanordnungen und Kontaktverbote. Ebenso ist eine Norm für die elektronische Aufenthaltsüberwachung von „Gefährdern“ mittels Fußfessel enthalten.

Die Videotechnologie erhält neue Einsatzgebiete, so auf Verkehrsrouten, die der grenzüberschreitenden Kriminalität zur Verschiebung von Diebesgut oder als Tatorte beispielsweise des Menschenhandels dienen. Die automatisierte Auswertung der Daten etwa mittels Gesichtserkennung eröffnet neue Maßnahmenkonzepte.

Der Widerstand gegen das sächsische Polizeigesetz wächst. Kürzlich hat sich die Initiative PolizeistaatSachsen / #SachsensDemokratie gegründet. Sie moniert, dass die Debatte über das neue Polizeigesetz bisher nicht öffentlich geführt wurde. Grundsätzlich setzt sie auf mehr Sozialpolitik statt auf Repression.

Es gibt tatsächlich viele Probleme in unserer Gesellschaft – Armut, Wohnungsnot und ein miserables Bildungssystem. Unsere sozialen Probleme sollten wir allerdings nicht mit ordnungspolitischen Maßnahmen lösen, sondern sozialpolitische Diskussionen führen.

PolizeistaatSachsen / #SachsensDemokratie

Eine solche Orientierung wäre auch für den anstehenden sächsischen Landtagswahlkampf interessant. Aktuell wird viel darüber diskutiert, dass die AFD dort stärkste Partei werden könnte. Dabei wird in Sachsen schon seit 1989 rechte Politik gemacht.

Mit dem Schreckgespenst der AfD kann die CDU noch weiter nach rechts rücken und die SPD rückt hinterher. Mit der Orientierung auf Sozialpolitik statt Repression könnte eine Debatte angeregt werden, die realpolitisch grundiert ist, sich aber weigert, aus Angst vor einem weiteren Erstarken der AfD deren Politik zu übernehmen.

https://www.heise.de/tp/features/Sachsen-Mehr-Sozialpolitik-statt-Repression-4029141.html

Peter Nowak

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Links in diesem Artikel:
[1] https://www.l-iz.de/leben/gesellschaft/2018/01/Schwerverletzte-und-Diskussionen-nach-Polizeieinsatz-am-Connewitzer-Kreuz-202138
[2] https://www.polizei.sachsen.de/de/MI_2017_46956.htm
[3] https://www.polizei.sachsen.de/de/MI_2017_54271.htm
[4] https://vsfreiheit.blogspot.de/
[5] https://vsfreiheit.blogspot.de/2018/04/verwaltungsgericht-urteilt.html
[6] http://vsfreiheit.blogspot.de
[7] https://www.medienservice.sachsen.de/medien/news/21731
[8] https://www.sz-online.de/sachsen/ein-halbes-neues-polizeigesetz-3920318.html
[9] https://and.notraces.net/de/2018/04/21/die-in-der-presse-diskutierte-angedachte-verschaerfung-des-neuen-saechsischen-polg-ruft-zivilgesellschaftliche-kritik-hervor/

Im Sinne Erdoğans

Justiz In München läu ein Terrorverfahren gegen türkische Oppositionelle

Freundlich lächelt Dilay Banu Büyükavci in die Kamera, lockige Haare, gemustertes Halstuch. Es ist eines der wenigen Fotos, die die Öffentlichkeit von ihr kennt. Bis vor kurzem saß die 46-jährige Ärztin noch im Hochsicherheitstrakt München-Stadelheim in Untersuchungshaft. Sie wird beschuldigt, die 1972 gegründete Kommunistische Partei der Türkei/Marxistisch-Leninistisch (TKP/ML) unterstützt zu haben. In einem Café in der Nähe des Klinikums Nürnberg hatte sie sich am 15. April 2015 nach der Arbeit mit Kollegen getroffen, bis dort eine schwer bewaffnete Antiterroreinheit einrückte und sie verhaftete. Am 18. Februar 2018 wurde der Haftbefehl außer Vollzug gesetzt. Die Ärztin Susanne Kaiser freut sich, dass ihre Kollegin wieder in der Klinik arbeiten kann. Die Stelle war für Büyükavci frei gehalten worden. Viele Beschäftigte des Klinikums haben sich für Banu eingesetzt. So nennen sie ihre in der Türkei geborene Kollegin, die 2005 für die psychiatrische Facharztausbildung nach Deutschland kam. Kaiser gehört zu denen, die Briefe an Landes- und Bundespolitiker geschrieben haben. „Ich habe
sofort gesagt, Banu und Terrorismus, das passt nicht zusammen“, schildert Kaiserihre erste Reaktion auf die Verhaftung. Daran hat sie bis heute keinen Zweifel.

 Strafe ohne Straftat 

Dabei bedeutet die Freilassung nicht, dass Büyükavci freigesprochen ist. Zusammen mit neun weiteren türkischen Oppositionellen steht sie wegen des Vorwurfs der Mitgliedschaft oder Unterstützung einer terroristischen Vereinigung vor dem Münchner Oberlandesgericht. „Der Haftbefehl wurde außer Vollzug gesetzt, weil das Gericht die Fluchtgefahr als nicht mehr so hoch ansieht“, erklärt Rechtsanwalt Alexander Hoffmann. Der Kieler Strafrechtsexperte vertritt im Prozess einen der Angeklagten. Dass die Ärztin ein eigenes Haus besitzt und eine feste Stelle hat, dürfte bei der Einschätzung des Gerichts eine Rolle gespielt haben. Auch in den kommenden Monaten wird Büyükavci im Wochentakt vor Gericht erscheinen müssen, begonnen hat der Prozess im Juni 2016, inzwischen haben mehr als 100 Verhandlungstage stattgefunden. Vorgeworfen wird den zehn türkischen Oppositionellen, die in Deutschland, der Schweiz, Österreich und Frankreich verhaftet wurden, die Organisation von Solidaritätskonzerten oder das Sammeln von Spenden. Das sind eigentlich legale Tätigkeiten, sie sollen damit aber eine terroristische Organisation unterstützt haben. Allerdings ist die TKP/ML in Deutschland nicht verboten, sie steht auch nicht auf internationalen Terrorlisten, allein die Türkei deklariert sie als Terrororganisation. Grundlage des Verfahrens ist Paragraf 129b des Strafgesetzbuchs. Geschaffen wurde er nach den Anschlägen vom 11. September 2001, er stellt die Mitgliedschaft, die Unterstützung und das Werben für eine „kriminelle oder terroristische Vereinigung im Ausland“ unter Strafe. Konkrete Taten müssen den Beschuldigten nicht nachgewiesen werden, Nachdem der Bundesgerichtshof 2010 entschieden hat, dass auch Mitglieder der kurdischen Arbeiterpartei PKK nach Paragraf 129b angeklagt werden können, stand den 21 kurdische Aktivisten vor Gericht, 19 von ihnen wurden zu teils langen Haftstrafen verurteilt. Am Freitag voriger Woche kam ein weiterer hinzu, das Oberlandesgericht Celle verurteilte Yunus O. zu einer Haftstrafe von eineinhalb Jahren ohne Bewährung. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass er die in Deutschland verbotene PKK unterstützt hat. Der Verurteilte hatte den gesamten Prozess über bestritten, für die PKK tätig gewesen zu sein, seine Aktivitäten würden als terroristisch abgestempelt, obwohl er sich nur als Kurde artikulieren wolle, sagte er. Sein Anwalt kündigte nach der Urteilsverkündung an, in Revision zu gehen, und wies auf die aktuelle Situation von Kurden in der Türkei, in Syrien und im Irak hin. Kritiker sprechen davon, dass mittels des Paragrafen 129b die Verfolgung von türkischen und kurdischen Oppositionellen in Deutschland fortgesetzt wird. Bisher sind die Anwälte der 129b-Angeklagten mit dem Versuch gescheitert, die Menschenrechtslage in der Türkei zu thematisieren. „Wir haben mehrfach die Einstellung des Verfahrens beantragt, weil immer deutlicher wird, dass sich die Türkei zum autoritären Willkürstaat entwickelt und als solcher kein taugliches Schutzgut des Paragrafen 129b ist. Der Senat lehnt die Anträge regelmäßig ab“, erklärt der Nürnberger Anwalt Yunus Ziyal. Er ist einer der beiden Strafverteidiger von Büyükavci.

Regierung versus Demokratie

Das Bundesjustizministerium muss in jedem 129b-Verfahren die Verfolgungenermächtigung für die Bundesanwaltschaft erteilen. Nicht nur die Verteidiger im Münchner Prozess, sondern auch die Medien haben immer wieder kritisiert, dass sich die Anklage in großen Teilen auf Ermittlungen türkischer Behörden stützt. Bei einem Kongress in Hamburg, der anlässlich des dort laufenden Verfahrens gegen Musa Aşoğlu wegen des Vorwurfs der Mitgliedschaft in der auch in Deutschland verbotenen linksradikalen, militanten DHKP-C stattfand, war die Menschenrechtssituation in der Türkei ebenfalls Thema. Dort beschrieben mehrere Linke, die sowohl in der Türkei als auch in Deutschland im Gefängnis gesessen hatten, die Unterschiede im Haftalltag. Alle berichteten, dass in der Türkei Folter keine Seltenheit ist. In Deutschland erschwere die Isolation die Haft. 23 Stunden des Tages war auch Büyükavci in den ersten viereinhalb Monaten der Untersuchungshaft allein in der Zelle. Für 129b-Verfahren gelten verschärfte Haftbedingungen, auch die Arbeit der Verteidiger unterliegt erheblichen Einschränkungen. Die Generalanwaltschaft spricht im Hinblick auf den Münchner Prozess von einem Pilotverfahren, in dem geklärt werden soll, ob die TKP/ML eine terroristische Organisation ist. Angesichts des Gutachtens, das der vom Gericht beauftragte Türkei-Experte der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität, Christoph K. Neumann, Mitte März im Prozess präsentierte, müsste nicht nur sie, sondern auch die Bundesregierung in Erklärungsnöte geraten. Der Gutachter zweifelte an der politischen Wirksamkeit der TKP/ML. Als wesentlich größere Gefahr für die Demokratie in der Türkei wertete der Experte hingegen die Aktivitäten des radikal-sunnitischen ISIS, die der türkischen Regierung und die ihres Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan. In München läuft ein Terrorverfahren gegen türkische Oppositionelle. Drei Konzerne, die global agieren, haben Kontrolle darüber, was wir essen. In der Türkei herrscht Willkür, für deutsche Gerichte ist das kein Thema.

In der Türkei herrscht Willkür, für deutsche Gerichte ist das kein Thema
aus: der Freitag | Nr. 13 | 29. März

Peter Nowak

Null-Toleranz als Regierungsziel

Rechtsruck mit Seehofer und Spahn: Unter Druck geraten nicht nur Migranten, sondern auch Menschen mit abweichendem Verhalten und Einkommensarme

Der parlamentarische Rechtsruck, der sich bei den letzten Bundestagswahlen zeigte, wird nun auch in der Regierung deutlich. Es ist natürlich die gleiche Parteienkonstellation aus SPD und Union. Doch die Kräfteverhältnisse haben sich nach rechts verschoben.

Das wird deutlich mit dem Einzug des Orban-Spezis Seehofer ins nun um den schillernden Begriff Heimat aufgewertete Innenministerium. Auch auf anderer Ebene markiert Seehofer als Minister eigentlich eine politische Zäsur. Man sollte sich nur noch einmal erinnern, dass Seehofer vor knapp 2 Jahren Merkels Flüchtlingspolitik als Herrschaft des Unrechts bezeichnete.

Friendly Fire von rechts

Wortwörtlich sagte Seehofer der Passauer Neuen Presse: „Wir haben im Moment keinen Zustand von Recht und Ordnung. Es ist eine Herrschaft des Unrechts.“

Nun ist es sicher richtig, dass Politiker ihre Rolle als aggressive Opposition spielen und danach geht man gemeinsam ins Restaurant. Auch die Attacke von Seehofer auf Merkel soll nicht unter dem in der politischen Berichterstattung häufigen Modus untersucht werden, dass hier der damalige bayerische Ministerpräsident gegen die angeblich liberale Merkel kämpft. Es geht hier nicht in erster Linie um Befindlichkeiten von Personen.

Es gab durchaus eine faktische Arbeitsteilung in einer Partei, die das Interesse großer Teile der deutschen Industrie nach Arbeitskräften mit dem Abgrenzungsbedürfnis großer Teile ihrer Basis im Einklang bringen muss. Merkel steht für die Interessen der Industrie und setzte in ihrer Amtszeit auch zahlreiche Verschärfungen im Flüchtlingsrecht durch.

Seehofer machte sich zum Sprachrohr all derer in der Union, die vor einem Ausverkauf des konservativen Markenkerns der Partei warnten. Er stellte sich an die Spitze dieser rechten Opposition und machte vor den letzten Bundestagswahlen den Eindruck, als wolle er die Rolle des rechten Oppositionsführers übernehmen, obwohl er Teil der Regierung war.

Das Ziel, damit die AfD klein zu halten misslang. Seehofer hat nun seine Rolle als rechter Oppositionsführer an Gauland, Weidel und Co. abgeben müssen. Dadurch geriet er auch in der CSU unter Druck. Nun muss sich Seehofer als Innenminister ans Werk machen, die „Herrschaft des Rechts“ respektive das, was er dafür hält, wieder herzustellen. Seine Berufung als Innenminister ist ein klares Signal, auch an den rechten Flügel der Union und potentielle AfD-Wähler.

Erste Duftmarken setzte Seehofer bereits vor seinen offiziellen Amtsantritt. Mit seinem Grundsatz „Null-Toleranz“ und seiner Ankündigung für schnelle Asylverfahren und konsequente Abschiebungen will er nun die Pläne des rechten Flügels umsetzen.

Deutschland solle ein weltoffenes und liberales Land bleiben. „Aber wenn es um den Schutz der Bürger geht, brauchen wir einen starken Staat“, betonte Seehofer. Das würde sicherlich auch sein Freund Orban sagen. Denn Bürger sind in dieser Lesart die Menschen, die täglich ihrer Lohnarbeit nachgehen, Regierung und Staat nicht hinterfragen und höchstens auf die Straße gehen, wenn sie über die Menschen besorgt sind, die als Nichtbürger gelten.

Druck auf Hartz IV-Empfänger

Auch einkommensarme Menschen kommen nach einer solchen Lesart schnell unter Druck und werden beschuldigt, selbst an ihrer Situation Schuld zu sein. Schließlich müsse niemand hungern, schließlich leben wir im besten Sozialsystem der Welt. Diese Position bekräftigte Spahn auch nach der Kritik an ihm von verschiedenen Seiten.

Selbst bei der Union monieren manche, es sei unklug, wenn hochdotierte Politiker den Hartz IV-Empfängern sagen, was sie zu denken und zu fühlen haben. Dafür sind schließlich die Jobcenter und Arbeitsagenturen zuständig. Die sind durch das Hartz IV-Gesetz damit beauftragt, den Beziehern dieser Gelder vorzuschreiben, wie sie zu leben haben, wenn sie Leistungen beziehen.

Das geht bis zum Einsatz von Sozialdetektiven. In den letzten Jahren ist zu Hartz IV viel geschrieben und auch von Betroffenen geäußert worden. Sie betonten immer, dass es dabei nicht nur um die Verarmung geht, sondern dass auch die Demütigung und Gängelung durch die Ämter das große Problem sind.

Die meisten, die Spahn jetzt wegen seiner Äußerungen zu Hartz IV kritisieren, stellen das System Hartz IV keineswegs in Frage, sondern monieren nur, dass man es doch einfach durch die Ämter verwalten lassen und nicht selber eingreifen soll. Mittlerweile bekommt Spahn für seine Äußerungen auch Zustimmung, unter anderem vom CSU-Politiker Dobrindt.

Regierung der besorgten Bürger

Seehofer und Spahn werden sicherlich noch eine tragende Rolle in der neuen Regierung spielen. Sie stehen für einen Rechtsruck im Establishment. Das Wort Null-Toleranz bringt auf den Punkt, was der Kern dieser Politik ist. Unter Druck geraten nicht nur Migranten, sondern auch Menschen mit abweichendem Verhalten und einkommensarme Menschen.

So hofft die Regierung, die besorgten Bürger wieder auf ihre Seite zu ziehen. Von der SPD werden die neuen Konservativen kaum Gegenwind bekommen. Die Partei hat schließlich kaum Möglichkeiten, mit einen Austritt aus der Regierung zu drohen, wo sie doch gerade mit viel internen Streit die Entscheidung für die Fortsetzung der Koalition getroffen hat.

Schon mahnen SPD-Politiker mehr Realismus bei der Migrationsdebatte an. Schließlich weiß man, dass die SPD mit besonders flüchtlingsfreundlichen Positionen kaum neue Wähler gewinnt.

In einer weiteren Frage hat die SPD auch schon mal Konfliktstoff beseitigt. Sie wird keine Initiative für die Streichung des Paragrafen stellen, der Werbung für Abtreibungen unter Strafe stellt. In den letzten Monaten hatte ein großes Bündnis genau das gefordert.

Noch vor wenigen Stunden stand die SPD hinter dieser Initiative. Nun hat die SPD ihren Antrag zurückgezogen. So wird deutlich, wie schnell die Sozialdemokraten Positionen räumen, um an der Macht zu partizipieren.

Weitere Rückzüge werden folgen. Derweil machen die Kräfte rechts von der Union Druck und fordern, Seehofer solle nicht nur Ankündigungen machen, sondern diese auch umsetzen. Ob er damit nicht die AfD eher stärkt als überflüssig macht, werden die nächsten Landtagswahlen zeigen.
https://www.heise.de/tp/features/Null-Toleranz-als-Regierungsziel-3993923.html

Peter Nowak
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Links in diesem Artikel:
[1] https://www.tagesschau.de/inland/orban-csu-105.html
[2] http://www.clemensheni.net/tag/heimat/
[3] http://www.zeit.de/politik/deutschland/2016-02/csu-horst-seehofer-bahnunglueck-fluechtlingspolitik
[4] http://www.pnp.de
[5] http://www.sueddeutsche.de/politik/innenpolitik-seehofer-kuendigt-null-toleranz-gegenueber-straftaetern-an-1.3900772
[6] http://www.jens-spahn.de/
[7] https://www.welt.de/politik/deutschland/article174410375/Erfolgreiche-Integration-Franziska-Giffey-SPD-offenbart-ihr-Rezept.html
[8] https://www.heise.de/tp/features/Gesicht-zeigen-fuer-das-Recht-auf-Abtreibung-3902895.html?seite=all
[9] http://www.fr.de/politik/groko-spd-will-werbeverbot-bei-abtreibung-streichen-a-1466373
[10] https://www.welt.de/politik/article174507544/Werbeverbot-fuer-Abtreibungen-GroKo-vertagt-Streit-um-Paragraf-219a-SPD-zieht-Antrag-zurueck.html

Chance für Solidarität


Deutschland Seine Verhaftung wurde in der Türkei gefeiert: In Hamburg steht Musa Aşoğlu vor Gericht

Die Repression gegen die G20-Proteste hat in der letzten Zeit das Thema Knast und Justiz wieder stärker in den Fokus der außerparlamentarischen Linken gerückt. Doch oft wird vergessen, dass ein Großteil der politischen Gefangenen in Deutschland heute migrantische Linke aus der Türkei und Kurdistan sind. Gegen sie wird mit dem Paragraphen 129b ermittelt, der die »Mitgliedschaft oder Unterstützung einer terroristischen Vereinigung im Ausland« unter Strafe stellt.
2008 wurde das erste Mal mit diesen Paragraphen linker Widerstand im Ausland vor deutschen Gerichten abgeurteilt. Fünf vermeintliche Mitglieder der türkischen kommunistischen DHKP-C wurden vor dem Stuttgarter Oberlandesgericht angeklagt und verurteilt – ein Pilotverfahren. 2010 entschied der Bundesgerichtshof, dass auch Mitglieder der kurdischen Arbeiterpartei PKK nach dem Paragraphen 129b angeklagt werden können. Davon wird seitdem reichlich Gebrauch gemacht. Die Aktivitäten der kurdischen Bewegung, die ihre bisherigen traditionsmarxistisch-leninistischen Positionen in den letzten 20 Jahren einer gründlichen Revision unterzog, sich dem Demokratischen Konföderalismus zuwandte und den Kämpfen der Frauen einen großen Stellenwert zuschreibt, werden von der deutschen Justiz mit dem Terrorismusvorwurf belegt. Seit Juni 2016 läuft in München ein Verfahren gegen elf mutmaßliche Mitglieder der türkischen Kommunistischen Partei TKP/ML. Alle lebten und arbeiteten seit Jahren legal in Deutschland, als sie durch ihre Verhaftung im Jahr 2015 aus ihrem Alltag herausgerissen wurden.

Mediale Vorverurteilung als »Terror-Fürst«

Zurzeit läuft in Hamburg ein Verfahren gegen den türkischen Linken Musa Aşoğlu. Am 25. Januar hat der Prozess vor dem Hamburger Oberlandesgericht begonnen. Bis Anfang August 2018 sind schon Termine anberaumt. Aşoğlus Anwältinnen Gabriele Heinecke und Fatma Sayın zufolge weist das Verfahren gegen ihn einige Besonderheiten auf. Ihr Mandant wurde in deutschen und türkischen Medien als einer der »meistgesuchten Terroristen der Welt« und als »Terror-Fürst« vorverurteilt. Die türkischen Medien feierten Aşoğlus Verhaftung. Sie hatten ein hohes Kopfgeld auf ihn ausgesetzt, ebenso wie die USA. Dort hat man großes Interesse daran, vermeintliche Mitglieder der DHKP-C zu verurteilen, weil die Organisation, die politisch in der Tradition des Guevarismus steht und Stadtteilarbeit in Armenvierteln mit dem bewaffneten Kampf kombiniert, für Angriffe auf US-Einrichtungen in Istanbul und Ankara die Verantwortung übernommen hat. So könnte nach einer Verurteilung in Deutschland Aşoğlu die Auslieferung in die USA oder gar in die Türkei drohen. Eine solche Auslieferung ist möglich, wenn die betreffenden Länder zusichern, dass der Gefangene in der Haft nicht gefoltert wird und dass ihm nicht die Todesstrafe droht. Dann steht der Auslieferung von Deutschland aus nichts mehr im Wege.
Die Politik spielt bei sämtlichen 129b-Verfahren in Deutschland eine zentrale Rolle. Das Gesetz kann nur angewendet werden, wenn das Bundesjustizministerium die Bundesanwaltschaft dazu ermächtigt, gegen kurdische und türkische Linke in Deutschland zu ermitteln. Der Bundesvorstand der Roten Hilfe hat das Prinzip gut zusammengefasst: »Die Entscheidung, ob Unterstützer der kurdischen Befreiungsbewegung oder türkische Kommunisten einen legitimen Kampf führen oder ›Terroristen‹ sind, wird auf politischer Ebene getroffen. Ob verfolgt wird oder nicht, hängt nicht vom Tatvorwurf ab, sondern wird letztlich von einem Bundesministerium festgelegt«. Genau hier bieten sich auch politische Interventionsmöglichkeiten über die Begleitung der Prozesse hinaus. »Keine Ermächtigung zur Verfolgung kurdischer und türkischer Linker in Deutschland« müsste eine zentrale politische Forderung werden. Dabei geht es nicht darum, ob jemand die politischen Inhalte der jeweiligen Gruppierungen unterstützt oder nicht. Es geht darum, dass diese Inhalte in Deutschland nicht kriminalisiert werden dürfen und damit die Kooperation zwischen deutscher und türkischer Justiz beendet wird. Die ist nämlich ungestört weitergelaufen, während sich führende Politiker_innen Deutschlands und der Türkei gegenseitig bekämpft haben. Es ist keine Gefälligkeit für das türkische Regime, sondern eigenes Interesse deutscher Staatsapparate, Linke aus Kurdistan und der Türkei und sicher demnächst auch anderen Regionen in der Welt abzurteilen. Daher muss ein Kampf gegen diese Repression auch die Repressionsorgane beider Staaten und ihre Kooperation in den Fokus rücken.

Wenig Interesse in der außerparlamentarischen Linken

Das Interesse der außerparlamentarischen Linken an dem Verfahren ist sehr begrenzt. Das zeigte sich auch bei der internationalen Konferenz »Freiheit für Musa Aşoğlu«, die am 10. und 11. Februar im Centro Sociale in Hamburg stattfand. Ziel der Veranstalter_innen vom Netzwerk »Freiheit für alle politischen Gefangenen« war es, unterschiedliche von Repression betroffene Spektren zusammenzubringen. So berichteten Aktivist_innen des Bündnisses »United We Stand« auch über die Repression gegen G20-Gegner_innen und den wachsenden Widerstand dagegen. Eine gemeinsame Diskussion kam jedoch nur in Ansätzen zustande.

aus: ak 635 vom 20.2.2018

https://www.akweb.de
Peter Nowak

»Demonstrationsrecht verteidigen«


Gewerkschaften gegen Grundrechtseinschränkungen / Kritik an Kriminalisierung von Vereinen

Das Bündnis »Demonstrationsrecht verteidigen« will im Sommer 2018 in mehreren Städten mit Demonstrationen gegen den Abbau der Grundrechte protestieren. Die Initiative entstand unmittelbar nach dem G20-Treffen im vergangenen Jahr in Hamburg. Dort mussten Tausende die Erfahrung machen, dass Grundrechte massiv beschnitten wurden. Das fing mit der polizeilichen Verhinderung eines Camps von Gipfelgegnern an, trotz gegenteiliger Gerichtsentscheidungen. Demonstrations- und Kundgebungsverbote gehörten ebenso dazu, wie Buskontrollen während der An- und Abreise der Demonstranten. Betroffen davon war auch eine Gruppe von Gewerkschaftern wie Nils Jansen. Er ist Mitglied im ver.di-Bezirksjugendvorstand NRW-Süd und Sprecher der Initiative »Grundrechte verteidigen«. Bereits am 7. Oktober 2017 organisierte das Bündnis einen bundesweiten Grundrechtekongress in Düsseldorf, an dem über 100 Menschen aus außerparlamentarischen Initiativen aber auch der LINKEN teilnahmen. Die dort verabschiedete Erklärung endete mit dem Bekenntnis: »Die uns durch unsere Verfassung gewährten Rechte lassen wir uns nicht nehmen.« Dort verständigte man sich auch auf Protestaktionen im Jahr 2018.

Auf einem bundesweiten Vorbereitungstreffen, das am 4. März von 11 – 17 Uhr im Haus Gallus in Frankfurt am Main stattfinden wird, sollen die Planungen für die Protestaktionen vorbereitet werden. Dabei setzt man auf dezentrale Aktionen in vier Städten in Deutschland. Initiativensprecher Nils Jansen macht im Gespräch mit »nd« deutlich, dass es bei den Aktionen nicht nur um den Kampf gegen die Einschränkungen des Demonstrationsrechts geht. In einem Aufrufentwurf, den die Grundrechteinitiative kürzlich veröffentlichte, wird die Kriminalisierung linker türkischer und kurdischer Vereine kritisiert. In den vergangenen Monaten sind mehrere ihrer Demonstrationen polizeilich aufgelöst worden, weil inkriminierte Symbole und Fahnen gezeigt wurden.

Auch die Einschränkung von Gewerkschaftsrechten durch das Tarifeinheitsgesetz wird von der Grundrechtsinitiative kritisiert. Das Gesetz schränkt die Rechte von kleineren Gewerkschaften in einem Betrieb massiv ein und wurde von der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di abgelehnt.

Doch die geplanten Proteste haben auch eine geschichtliche Dimension. »Wir wollten die Erfahrungen, die wir beim G20-Gipfel mit den Grundrechtseinschränkungen gemacht haben, mit einem historischen Datum verbinden«, betont Nils Jansen. Am Mai 1968 protestierten Tausende Menschen unter dem Motto »Notstand der Demokratie« gegen die von der damaligen großen Koalition vorangetriebenen Notstandsgesetze mit einem Sternmarsch in der damaligen BRD-Hauptstadt Bonn. Er war der Höhepunkt einer jahrelangen außerparlamentarischen Bewegung, an der sich junge und alte Linke, darunter viele Gewerkschafter beteiligen. Die Initiative »Grundrechte verteidigen« will 50 Jahre danach an diese Kämpfe anknüpfen und wieder sind Gewerkschaften federführend daran beteiligt.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1079966.demonstrationsrecht-verteidigen.html

Peter Nowak

Mit dem 129b gegen kurdische und türkische Oppositionelle


Die deutsche Politik ermächtigt die Kriminalisierung von Oppositionellen, die auch in der Türkei verfolgt werden

Der 14. Februar stand ganz im Zeichen der Solidarität mit Deniz Yücel, dem Journalisten, der nunein Jahr in der Türkei im Gefängnis ist. Zum Jahrestag erschien einBuchmit Texten, die Yücel im Gefängnis geschrieben hat. Viele Zeitungen berichteten über den Fall.

Im Fall Deniz Yücel gibt s in Deutschland längst das ganz große Bündnis. Die Parole „Free Deniz“ blinkt täglich am Springerhochhaus und auch einige hundert Meter finden wir sie im Schaufenster der linksliberalen Tageszeitung taz. Für beide Zeitungen hat Yücel geschrieben. Begonnen hat er seine journalistische Laufbahn bei der linken Wochenzeitung Jungle World. Damals waren seine zentralen Themen die Kritik an den deutschen Verhältnissen. Viele derer, die sich heute für Yücel einsetzen, hätten ihn damals bekämpft.

Nun kann man Deniz Yücel nur wünschen, dass er, der längst zum Spielball politischer Interessen der Machthaber in der Türkei geworden ist, bald freigelassen wird. Dann hätte auch die Heuchelei der Medien ein Ende, die sich im Fall Yücel über die Menschenrechtsverletzungen in der Türkei echauffieren können und nichts dabei finden, dass Deutschland seit Jahren mit dafür sorgt, das kurdische und türkische Oppositionelle verfolgt werden.

Das Justizministerium muss in jedem Fall die Justiz zum Ermitteln ermächtigen

Darauf haben am vergangenen Wochenende auf der de Internationalen Konferenz“Freiheit für Musa Asoglu”hingewiesen. Musa Asoglu ist vor der Hamburger Justiz seit Ende Januar 2018 wegen Mitgliedschaft einer terroristischen Vereinigung im Ausland nach dem Paragraph 129b angeklagt. Die beiden Rechtsanwältinnen Anwältinnen Gabriele Heinecke und Fatma Sayin wiesen auf einen Satz in dem Paragraphen hin, der oft übersehen wird. “

In den Fällen des Satzes 2 wird die Tat nur mit Ermächtigung des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz verfolgt. Die Ermächtigung kann für den Einzelfall oder allgemein auch für die Verfolgung künftiger Taten erteilt werden, die sich auf eine bestimmte Vereinigung beziehen. Bei der Entscheidung über die Ermächtigung zieht das Ministerium in Betracht, ob die Bestrebungen der Vereinigung gegen die Grundwerte einer die Würde des Menschen achtenden staatlichen Ordnung oder gegen das friedliche Zusammenleben der Völker gerichtet sind und bei Abwägung aller Umstände als verwerflich erscheinen.

2008 wurde das erste Mal mit den Paragraphen 129b linker Widerstand im Ausland vor deutschen Gerichten abgeurteilt. Fünf vermeintliche Mitglieder der türkischen kommunistischen DHKP/C wurden vor dem Stuttgarter Oberlandesgericht angeklagt und verurteilt. Das war ein Pilotverfahren. Seit Juni 2016 läuft in München einVerfahren gegen elf mutmaßliche Mitglieder der türkischen Kommunistischen Partei TKP/ML. Alle haben sie seit Jahren legal in Deutschland gelebt und gearbeitet, bis sie durch ihre Verhaftung im Jahr 2015 aus ihrem Alltag herausgerissen worden sind.

2010 entschied der Bundesgerichtshof, dass auch Mitglieder der kurdischen Arbeiterpartei PKK nach dem Paragraphen 129 b angeklagt werden können. Davon wird seitdem reichlich Gebrauch gemacht. Die Aktivitäten der kurdischen Bewegung, die sich in den letzten 20 Jahren eine gründliche Revision ihrer bisherigen traditionsmarxistisch-leninistischen Positionen vorgenommen hat, die sich dem Demokratischen Konföderalismus zugewandt hat und die den Kämpfen der Frauen einen großen Stellenwert zuschreibt, werden von der deutschen Justiz mit dem Terrorismusparagraphen abgeurteilt.

Dabei ist es Kennzeichen dieses Paragraphen, dass in Deutschland völlig legale Tätigkeiten, wie das Sammeln von Spenden und das Organisieren von Solidaritätskonzerten mit Gefängnisstrafen geahndet werden kann, wenn das Gericht der Meinung ist, dass es sich dabei um Aktivitäten für eine terroristische Organisation im Ausland geschieht.

Jubel bei der türkischen Presse und Politik

Dass nun der Paragraph 129b den Schlüssel dafür bietet, dass türkische und kurdische Oppositionelle auch in Deutschland juristisch verfolgt werden können, freut natürlich die türkische regierungsnahe Presse und die Politik. Die Medien berichten daher auch ausführlich über solche Verfahren und fordern die deutsche Regierung auf, mit der Anwendung des Paragraphen noch großzügiger umzugehen.

Es ist allerdings keine Gefälligkeit der deutschen Politik und Justiz für ihre türkischen Kollegen und auch nicht die oft prognostizierte lange Hand Erdogans, die bei den 129b-Verfahren in Deutschland maßgeblich ist. Es gibt vielmehr bei den deutschen und türkischen Staatsapparaten ein Verfolgungsinteresse. Darin liegt auch der Grund, dass ein Großteil der Medien, die im Fall Yücel die Situation der Menschenrechte in der Türkei beklagen, keine Einwände haben, wenn die deutsche Politik die Ermittlung gegen Menschen erlaubt, die bereits in der Türkei verfolgt wurden.

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Peter Nowak
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Links in diesem Artikel:
[1] http://www.dw.com/de/deniz-y%C3%BCcel-365-tage-eingesperrt/a-42470693
[2] http://www.edition-nautilus.de/programm/Flugschriften/buch-978-3-96054-073-1.html
[3] http://political-prisoners.net/item/5652-internationale-konferenz-zum-s-129b-prozess-gegen-musa-aolu-am-1011-2-2018-in-hamburg.html
[4] http://dejure.org/gesetze/StGB/129b.html
[5] https://www.tkpml-prozess-129b.de/de/
[6] http://demokratischeautonomie.blogsport.eu/?page_id=12
[7] https://www.heise.de/tp/features/Grup-Yorum-Verbote-Schikanen-finanzielle-Verluste-3744759.html
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Parteien sondieren – Bevölkerung lässt es in Vollnarkose über sich ergehen

Doch das Desinteresse an den Verhandlungen sollte nicht als unpolitisch missverstanden werden

„Vorsicht, lassen Sie sich nicht breitschlagen.“ Dieser Appell der Politsatiregruppe Büro für Ungewöhnliche Maßnahmen an die SPD-Sondierungsgruppe, die Regierungsmöglichkeiten mit der Union erkunden soll, fand in den Medien keine Resonanz. Dabei erinnerte der Brief die SPD-Politiker an ihre Wahlversprechungen, die Mietsteigerungen zu bremsen:

Laut einer Umfrage befürchten 47% der Berlinerinnen wegen Mietsteigerungen ihre Wohnung zu verlieren – ähnlich wie in den meisten Städten. Katastrophale Spekulanten-freundliche Gesetze führen immer massenhafter zu willkürlichen Luxus-Modernisierungen, völlig legalen Wuchermieten, Verarmung, Entmietung und faktische Vertreibung der Menschen aus Ihrer Heimat. Solche Gesetze wie z.B. der Umlage-§ 559 müssen abgeschafft oder grundlegend novelliert werden, damit die Menschen nicht in permanenter Angst leben müssen! Die Härtefall-Klausel ist nur ein Deckmäntelchen – aber faktisch völlig unzureichend. Das schafft gerade in Deutschland eine Situation, die schlimmer ist als im Mittelalter! Dort wurden die Menschen nur mit einem „Zehnten“ Teil ausgeplündert – heute darf es hierzulande schon ein Vielfaches sein.“

Büro für Ungewöhnliche Maßnahmen

Nun kann man es für naiv halten, die Parteien an ihre Wahlversprechen und die SPD an die Bedeutung ihres Anfangsbuchstabens zu erinnern. Unbestreitbar ist aber die Angst vor hohen Mieten ein Thema, das viele Menschen bis in die Mittelschichten umtreibt.

In dem genannten Brief werden mit der Abschaffung des Modernisierungs-Umlage-Gesetzes nach § 559 BGB Maßnahmen genannt, die bei einem vorhandenen politischen Willen umgesetzt werden könnten. Kurt Jotter vom Büro für Ungewöhnliche Maßnahmen empfiehlt der SPD, solche Themen in den Vordergrund zu stellen.

Sollte die Realisierung an der Union scheitern und es zu Neuwahlen kommen, könnte sie mit solchen sozialen Wegmarken vielleicht sogar wieder Stimmen gewinnen bzw. für Parlamentsmehrheiten sorgen, die eine Koalition links von der Union möglich machen würden.

Nur allein die Tatsache, dass diese Mehrheiten nie genutzt wurden, als es sie bis zu den letzten Wahlen noch gab, zeigt, wie illusionär heute die Hoffnung auf eine sozialdemokratische Reformpolitik ist.


Bevölkerung im Winterschlaf

Nun könnten solche Initiativen, wie die vom Büro für Ungewöhnliche Maßnahmen auch dazu dienen, diesen Tatbestand einer größeren Öffentlichkeit bekannt zu machen und damit außerparlamentarische Aktivitäten zu entfachen. Das weitgehende Desinteresse großer Teile der Bevölkerung an Sondierungen der unterschiedlichen Regierungsvarianten legt eine solche Lesart nahe.

Große Teile der Bevölkerung erwarten von den Parteien keine Verbesserungen ihrer Lebenssituation mehr. Wenn sie das Wort Reform hören, wissen sie, dass neue Zumutungen auf sie zukommen. Wie der Begriff „Reform“ von der Hoffnung auf ein besseres Leben im Kapitalismus zum Schrecken wurde, hat Rainer Balcerowiak in seiner Streitschrift „Die Heuchelei von der Reform“ gut analysiert.

Der Soziologe Ulf Kadritzke hat in dem ebenso kundig, wie leicht verständlich geschriebenen Buch „Mythos Mitte oder die Entsorgung der Klassenfrage“ den Mythos zerlegt, dass Wahlen nur in der Mitte gewonnen werden können. Diese Mitte gibt es gar nicht als fixen Punkt. Sie ist jeweils der Ort, wo dem Kapital die besten Verwertungsinteressen garantiert werden.

Wenn also immer wieder gewarnt wird, dass ein Politiker, der Erfolg haben will, in der Mitte bleiben soll, wird ihm damit nur bedeutet, er soll sich bloß nicht einbilden, Kapitalinteressen regulieren zu wollen. Das ist auch der Grund, warum selbst solche nun wirklich nicht systemsprengenden Maßnahmen wie eine mieterfreundliche Reform des § 559 von den Parteien nicht propagiert werden. Da müsste man sich mit Kapitalinteressen anlegen und das ist nicht karrierefördernd.

Aufregung um Klimaziel, das niemand für realistisch hielt

Die weitgehende Apathie, mit der große Teile der Medien und noch mehr die Bevölkerung die Sondierungen für eine neue Regierung über sich ergehen lassen, wurde vor einigen Tagen unterbrochen, als durchsickerte, dass womöglich im Kapitel „Klima und Energie“ der Satz stehen sollte: „Das kurzfristige Ziel für 2020 wird aus heutiger Sicht nicht erreicht werden.“

Am faktischen Wahrheitsgehalt dieser Aussage zweifelt kaum jemand. „Das mag halbwegs realistisch sein. Klimapolitisch ist die Aussage ein schwerer Fehler“, kommentiert der Taz-Umweltredakteur Bernd Pötter. Wie er argumentieren viele Kritiker, die kritisieren, dass hier ein Fakt benannt wird.

„Die große Koalition resigniert schon vor dem Start. Sie widerspricht nicht nur dem Versprechen von Angela Merkel und Martin Schulz. Sie entwertet durch die faktische Aufgabe des 2020er Ziels auch das gesamte restliche Konzept“, argumentiert Pötter.

Nun würde das Versprechen aber doch dadurch gebrochen, dass das Ziel nicht erreicht wird, wovon auch Pötter ausgeht, und nicht dadurch, dass der Misserfolg auch formuliert wird. Im Gegenteil, könnte dadurch doch darüber diskutiert werden, ob das Ziel von Anfang an unrealistisch, also das Versprechen hohl war. Oder war das Versprechen realisierbar, aber man hat keine Schritte unternommen, es umzusetzen.

In beiden Fällen wären die Politiker zu kritisieren. Doch die Tatsache, dass das Ziel nicht erreicht wird, erst gar nicht zu benennen, verhindert eine solche rationale Kritik. Nun ist das eine gängige Methode einer ökologistischen Betrachtungsweise, wo es mehr um Gefühle, Mutmaßungen und Placebos geht. Da könnte dann schon das Versprechen „Wir schaffen das Klimaziel“ für gute Gefühle sorgen.

Klimaziele und Renditeerwartungen

Damit würde sich nichts an den von vielen prognostizierten Umweltbedingungen ändern, aber die Aktien der wachsenden industriellen Branche, die sich auf den ganzen Komplex ökologischer Umstrukturierung des Kapitalismus konzentriert, würden steigen. Darum geht es schließlich auch bei dieser Debatte.

Wenn so viel von den deutschen Energiezielen geredet wird, geht es um den weltweiten Konkurrenzkampf der Industrien. Da könnte eine ehrliche Mitteilung, dass die Klimaziele nicht erreicht werden, einen Vertrauensverlust und vielleicht sinkende Renditeerwartungen bedeuten. Daher kam auch die harsche Kritik von der Lobby der Industriebranche der Erneuerbaren Energien.

Zu diesen Lobbygruppen gehören auch die meisten großen Umweltorganisationen. Sie verkleiden ihr Eintreten für die Interessen der nichtfossilen Industrie mit dem scheinbar positiv besetzten Begriff der Klimaziele. Ehrlicher ist da schon Claudia Kempfert vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung, die in ihrer Kritik am realen Stand der Klimaziele die Interessen der nichtfossilen Industrie nicht verschweigt.

Ein Großteil der einkommensärmeren Bevölkerung erkennt, dass sie für Wirtschaftsinteressen eingespannt werden soll, wenn von Klimazielen und sozial-ökologischen Umbau die Rede ist. Jüngere Menschen versprechen sich von einer postfossilen Regulationsphase des Kapitalismus bessere Lebensbedingungen und auch Jobmöglichkeiten und engagieren sich eher für ökologische Belange.

Das „Rote Berlin“ – oder Versuche der Politisierung des gesellschaftlichen Unmuts

Wie es gelingen kann, die Interessen für eine lebenswerte Umfeld mit sozialen Forderungen zusammen zu bringen, ist eine Frage, die sich nicht an die Parteien, sondern an die sozialen Bewegungen richten sollte.

Denn die fast durchgängige Apathie, mit der große Teile der Bevölkerung die verschiedenen Regierungssondierungen über sich ergehen lassen, sollte nicht als Desinteresse an Politik und an der Bereitschaft, für die eigenen Interessen einzutreten, missverstanden werden.

Nur so ist es zu erklären, dass der Film Mietrebellen, der ohne finanzielle Förderung gedreht und ohne Verleih beworben wird, seit mehreren Jahren in vielen Städten noch immer vor einem interessierten Publikum läuft. Dort bekommen die Menschen etwas zu sehen, was selten geworden ist in dem wirtschaftsliberalen Kapitalismus unserer Tage: Menschen jeden Alters, die sich wehren, wenn sie ihre Wohnungen verlassen sollen.

Diese Bereitschaft, sich zu wehren, wenn es um konkrete Lebenszusammenhänge wie die eigene Wohnung geht, ist die Grundlage einer Veranstaltungsreihe der außerparlamentarischen Gruppe Interventionistische Linke. Unter dem Titel „Das Rote Berlin“ sollen Strategien für eine sozialistische Stadt diskutiert werden.

Der Titel rekurriert auf das Rote Wien der 1920er Jahre, das heute ein Synonym für eine mieterfreundliche Wohnungspolitik im Kapitalismus geworden ist. Träger war eine österreichische Sozialdemokratie, die mit dem Austromarxismus einen 3. Weg zwischen Kapitalismus und Sowjetmarxismus beanspruchte.

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Peter Nowak
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[1] https://www.bizim-kiez.de/initativen/buero-fuer-ungewoehnliche-massnahmen-kurt-jotter/
[2] https://dejure.org/gesetze/BGB/559.html
[3] https://www.amazon.de/Die-Heuchelei-von-Reform-desinformiert/dp/3958410596
[4] http://www.bertz-fischer.de/mythosmitte.html
[5] https://www.heise.de/tp/features/Mass-und-Mitte-3758545.html
[6] https://dejure.org/gesetze/BGB/559.html
[7] http://www.taz.de/Archiv-Suche/!5472414&s=&SuchRahmen=Print/
[8] http://www.diw.de/deutsch
[9] https://www.mdr.de/nachrichten/politik/inland/diw-kritik-an-union-sondierung-abschied-von-klimazielen-100.html
[10] http://mietrebellen.de/
[11] http://interventionistische-linke.org/
[12] http://interventionistische-linke.org/termin/das-rote-berlin-strategien-fuer-eine-sozialistische-stadt-teil-iii-demokratisierung-und-neue
[13] http://www.dasrotewien.at/seite/kommunaler-wohnbau