Wolfgang Hien über Erfolge und Hindernisse eines modernen Gesundheitsschutzes in der Arbeitswelt

Vereinzelung fördert Arbeitsbelastung

Wolfgang Hien war Chemielaborant und später Arbeitswissenschaftler und Medizinsoziologe. Er leitet das Forschungsbüro für Arbeit, Gesundheit und Biographie in Bremen und beschäftigt sich mit Gesundheitsbelastungen in der Wohn- und Arbeitswelt. Im VSA-Verlag ist kürzlich sein Buch »Gegen die Zerstörung von Herz und Hirn« erschienen.

Wie kamen Sie zu Ihrem Lebensthema, dem Kampf um menschenwürdige Arbeit?

Zentral waren meine eigenen Erfahrungen als Auszubildender bei BASF in den 1960er Jahren. Meine Vorstellungen von Menschenwürde fand ich dort nicht wieder. Man wurde auf die Fabrik konditioniert. Dagegen kämpfte ich an. Ich habe dann auch in anderen Industriebetrieben erlebt, dass Arbeiter unter Bedingungen schuften mussten, die….

….langfristig ihre Gesundheit hochgradig gefährdeten. Für mich war dann die Umweltbewegung wichtig: Ich hatte den erfolgreichen Kampf der Bauern von Wyhl bei Freiburg vor Augen, die in den 1970er Jahren den Bau eines Atomkraftwerks verhinderten. Ich und meine Mitstreiter wollten diese Impulse in die Betriebe tragen.

Wo hat das geklappt?

In vielen Betrieben in der gesamten BRD gründeten sich Initiativen, die die Gesundheit am Arbeitsplatz zum Thema hatten. Schwerpunkte waren die chemische Industrie wie die BASF in Ludwigshafen oder Degussa in Frankfurt/Main, aber auch andere Industriebetriebe wie die Bremer Vulkan-Werft oder die Hamburger Aluminiumwerke. Es wurden Zeitungen und Flugblätter veröffentlicht, die die Kollegen über gesundheitsgefährdende Stoffe am Arbeitsplatz informierten. Zur gleichen Zeit entwickelte eine Gruppe von Werftarbeitern in Bremen eine Kampagne gegen die Asbestverwendung.

Hatten Sie Vorbilder?

In Italien hatte sich in den 1970er Jahren eine Arbeitergesundheitsbewegung gebildet. Ihr Verständnis war: nicht Arbeitsmedizin, sondern Arbeitermedizin. Nicht die Arbeit sollte geschützt werden, sondern die Arbeiter. Ihr Leitspruch lautete »Non Delegata«. Wir wollen nicht, dass Experten darüber bestimmen, wie es uns geht. Wir sind selbst die Experten unserer Situation. Wir wissen selbst, was gut für uns ist und was nicht. Das war ein großes Vorbild für uns.

Hatten Sie sozialen Rückhalt?

Verstärker für unsere Arbeit waren die Gesundheitstage, wo sich die Impulse und Kräfte aus der Umwelt- und Gesundheitsbewegung gebündelt trafen. Der erste Gesundheitstag fand 1980 in Westberlin statt, 1981 in Hamburg und 1984 in Bremen. Dort kamen Menschen aus allen Teilen Deutschlands zusammen, darunter auch viele Kollegen aus unterschiedlichen Betrieben, aus den Gewerkschaften, auch viele kritische Mediziner und Wissenschaftler. Wir tauschten uns aus und hatten das Gefühl, Teil einer großen Bewegung zu sein. Später versackten die Gesundheitstage allerdings in Esoterik und den Streit um rechte Inhalte.

Sehen Sie Erfolge Ihres Kampfes?

Er hat Spuren hinterlassen. Viele unserer Forderungen wurden im Arbeit-, Gesundheits- und Umweltschutz umgesetzt, nicht zuletzt auch deshalb, weil viele von uns haupt- oder ehrenamtlich den »Marsch durch die Institutionen« antraten. Es gibt vor allem in der Großindustrie viele Verbesserungen. Gleichzeitig werden Gesundheitsschutz und Gesundheitsförderung heute oft im Sinne einer leistungssteigernden Managementtechnik genutzt. Nicht die Arbeitsbedingungen sollen humanisiert, sondern die Menschen an die schlechten Arbeitsbedingungen angepasst werden.

Sehen Sie heute noch die Notwendigkeit, für Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz zu kämpfen?

Oh ja! Wenn ich die Arbeitsbedingungen im Pflege- und im Logistikbereich, aber auch in der Gastronomie, in vielen Bereichen des Handwerks und in vielen Bereichen der Dienstleistungsbranche betrachte, so kann ich nur sagen: Hier ist der Kampf um Gesundheit am Arbeitsplatz dringend notwendig. Wir erleben gegenwärtig ein Nebeneinander von einigermaßen guten Bedingungen in manchen Stammbelegschaften großer Betriebe und Verwaltungen und geradezu himmelschreienden Bedingungen in den Randbelegschaften, bei Leiharbeitern, bei der wachsenden Zahl prekärer Beschäftigungsverhältnisse. Und insgesamt nimmt der psychische Druck in der gesamten Arbeitswelt erheblich zu. Aber heute sind die Beschäftigten oft vereinzelt, was Initiativen für mehr Gesundheitsschutz erschwert.