Der Migrationsforscher Bernd Kasparek analysiert die europäische Diskussion um eine Verteilung der Geflüchteten

»Die EU strebt eine Verschärfung des Asylrechts an«

Lesetipp: Bernd Kasparek Europas Grenzen: Flucht, Asyl und Migration, Kritische Einführungen 12., aktualisierte Auflage, 164 Seiten, 9 Karten, Verlag: Bertz + Fischer Artikelnummer 978-3-86505-757-0, 8 Euro;

Sie haben in Ihrem Buch »Europas Grenzen« aufgezeigt, dass es beim Grenzmanagement der Europäischen Union in erster Linie um Flüchtlingsabwehr geht. Setzt sich diese Linie in der aktuellen Diskussion um die Aufnahme der Geflüchteten fort?

Das bestehende System hat innerhalb der EU eine massive Dissonanz ausgelöst, der jetzt diskutierte Mechanismus einer »Koalition der Willigen« ist lediglich der Versuch, dem bestehenden System etwas Flexibilität beizubringen und es damit zu stabilisieren. Was bei der aktuellen Debatte um die Aufnahme von Geretteten aber aus dem Blick gerät, ist, dass die EU eigentlich eine tiefgreifende Verschärfung des europäischen Asylsystems anstrebt.

In den letzten Monaten hat die Seebrücken-Bewegung in vielen Ländern Aufwind bekommen. Welchen Einfluss haben diese zivilgesellschaftlichen Initiativen auf die Migrationspolitik?….

….Zivilgesellschaftliche Initiativen brauchen einen langen Atem, denn ihre Forderungen kommen nur verzögert auf der europäischen Ebene an, auf der Migrationspolitik ausgehandelt wird. Aber sie kommen an.

Inwiefern?

Die mittlerweile beständige Beschwörung einer humanitären Dimension in europäischen Asylpolitikpapieren ist ein Ausdruck davon, die Papiere der 2000er Jahre lesen sich wesentlich zynischer. Das bedeutet nicht, dass daraus eine grundsätzlich andere Politik entsteht, aber auch ein Lippenbekenntnis zur Humanität schafft langfristig institutionelle Zwänge und Logiken, deren Folgen heute noch nicht abschätzbar sind. Der lange Atem bedeutet aber vor allem, die europäische Migrationspolitik beständig herauszufordern und auch mit weitreichenden Forderungen zu konfrontieren.

Sie belegen in Ihrem Buch, dass es in den letzten Jahren häufiger Empörung über kenternde Flüchtlingsboote gab. Aber trotzdem wurde die EU-Politik nicht humanitärer. Sehen Sie Anzeichen für eine Änderung?

Ich bin da, ehrlich gesagt, pessimistisch. Nach den Schiffsunglücken vor Lampedusa im Oktober 2013 mit über 500 Toten gab es tatsächlich mit der italienischen Marineoperation Mare Nostrum einen kurzen Versuch, die Rettung von Menschenleben über den Schutz der europäischen Grenze zu stellen. Diese Operation wurde aber nach rund einem Jahr auf Druck der EU beendet.

Und auch die Vision der kommenden Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen scheint mir eher ein Rückschritt zu sein. Sie betont in ihren politischen Richtlinien wieder die aufgerüsteten Grenzen, die Kriminalisierung der Migration und scheint lediglich bemüht zu sein, endlich die Verschärfung des europäischen Asylsystems durchzusetzen. Das sind ehrlich gesagt keine neuen Konzepte, und zudem sind es genau die Konzepte, die im Sommer der Migration 2015 so offensichtlich gescheitert sind.

Sie beschreiben in »Europas Grenzen« ein Bestreben der Europäischen Union, die Abwehr der Migration in die afrikanischen Länder auszulagern. Was bedeutet das?

Der Versuch, Nachbarländer oder auch Transitländer der Migration in das Projekt der Migrationskontrolle einzubeziehen, ist so alt wie die europäische Migrationspolitik selbst. Der EU-Türkei-Deal ist das aktuellste Beispiel. Die Kommission versucht, dieses Abkommen als Blaupause für eine neue Migrationsaußenpolitik auf verschiedene Staaten Nordafrikas auszuweiten. Besonders brisant ist das derzeitige Bemühen, Niger einzubinden. Und auch die europäische Kooperation mit den libyschen Milizen, den selbst ernannten Küstenwachen, das Ignorieren der tagtäglichen schwerwiegendsten Menschenrechtsverletzungen in libyschen Internierungslagern ist Ausdruck dieser Politik.

Aktuell streiten EU-Politiker*innen über den Verteilmechanismus von Geflüchteten. Müsste die zivilgesellschaftliche Forderung nicht lauten: Die Geflüchteten sollen selber entscheiden, in welches Land sie wollen?

Ja, dies ist die richtige Forderung, und zwar aus verschiedenen Gründen: Zum einen würde es die Subjektivität und die Biografien der Flüchtenden endlich ernst nehmen und sie nicht zu Objekten einer Asylverwaltung degradieren. Der ganze komplizierte Dublin-Apparat könnte eingespart werden. Und vor allem: Es wäre eine Politik, die das europäische Projekt ernst nimmt.

Wie meinen Sie das?

Das europäische Projekt ist historisch ein Projekt der Herstellung von Bewegungsfreiheiten. Hier stehen oft Waren, Dienstleistungen und Kapital im Vordergrund, aber auch die Bewegungsfreiheit von Personen ist ein Gut, welches die EU etwa in den Brexit-Verhandlungen nicht opfern wollte. Eine Ausweitung dieses Prinzips auf Flüchtende wäre eine inklusive Form der europäischen Bürgerschaft und ein offenes Verständnis von den Gesellschaften Europas. Gerade im aktuellen globalen Klima der Konfrontation und der Abschottung wäre dies ein starkes Zeichen.

Welche Pläne gibt es dafür?

Die vorgeschlagene Asylverfahrensverordnung soll möglichst viele Asylsuchende schon an den Grenzen Europas festhalten, geplant ist eine Zugangsprüfung. Flüchtende sollen also erst einmal beweisen, dass sie überhaupt Zugang zum Asylsystem verdienen, erst dann soll ihr Asylantrag in einem beschleunigten Verfahren geprüft werden. Wer es schafft, diese doppelte Hürde zu überwinden, soll dann durch die vorgeschlagene Dublin-Reform an der Grenze Europas festgehalten werden. Jegliche Form selbstbestimmter Weiterreise in der EU wird kriminalisiert.Bernd Kasparek forscht an der Georg-August-Universität Göttingen zu Migration und Antirassistischer Theorie. Er ist Gründungsmitglied des Netzwerks »Kritische Migrations- und Grenzregimeforschung« und Vorstandsmitglied der Assoziation »bordermonitoring.eu«. Mit ihm sprach Peter Nowak.

Erstveröffentlichungsort:
https://www.neues-deutschland.de/artikel/1123259.seenotrettung-die-eu-strebt-eine-verschaerfung-des-asylrechts-an.html Lesetip: Bernd Kasparek Europas Grenzen: Flucht, Asyl und Migration Kritische Einführungen 1 2., aktualisierte Auflage 164 Seiten, 9 Karten Bertz + Fischer Artikelnummer 978-3-86505-757-0