Die Abgastests an Menschen haben Schlagzeilen gemacht, PolitikerInnen aller Parteien äusserten sich empört und der verantwortliche Konzern sagt, dass soll nicht mehr vorkommen. Warum diese Aufregung?
Ich befasse mich als Arbeits- und Gesundheitswissenschaftler seit Jahrzehnten mit Gefahrstoffen und Belastungen am Arbeitsplatz. Auf mich wirkt dieser ganze Hype oder diese ganze Aufregung sehr seltsam. Natürlich machen die Chemie- und die Pharmaindustrie seit mehr als 100 Jahren entweder selbst Experimente, auch mit Menschen, oder sie vergeben solche Experimentalaufträge an Universitäten und andere Institute. Das ist überhaupt nichts Neues. Ich selbst habe auf diese Dinge in Publikationen und in Vorträgen seit den 1980er Jahren des letzten Jahrhunderts immer wieder hingewiesen. Und natürlich ist das Interesse der Industrie grundsätzlich immer, herauszubekommen, wie viel Gifte der Mensch gerade noch verträgt, wie viel er verkraften kann. Und immer wieder hat die Industrie versucht, der Frage auszuweichen, was denn gesundheitlich passiert, wenn die Exposition – also das Ausgesetztsein gegenüber schädlichen Stoffen oder Einflüssen – sich über Jahre und Jahrzehnte hinzieht.
Können Sie dafür ein Beispiel nennen?
Das Problem haben wir auch beim NO2, dem Stickstoffdioxid. Die Versuche, die mit total gesunden Personen und nur mit jeweils wenigen Stunden in Aachen gemacht wurden, sind ziemlich harmlos. Da kann gar nichts Schlimmes herauskommen. Die Exposition lag weit unterhalb der maximalen Arbeitsplatzkonzentration, die bis 2008 jahrzehntelange Geltung hatte. Das waren über lange Zeiten hinweg 5 ppm, das sind 5 Kubikzentimeter Gas auf einen Kubikmeter Atemluft. Das waren umgerechnet 9,5 mg/m3. In Aachen wurde junge gesunde Leute maximal 1,5 ppm ausgesetzt. 2009 gab es eine Entscheidung der MAK-Kommission, das ist eine WissenschaftlerInnenkommission, auch solche aus der Industrie, die die Maximale Arbeitsplatz-Konzentration (MAK) feststellen bzw. Vorschlage für deren amtliche Festlegung machen. Die MAK-Kommission hat 2009 den Grenzwert auf ein Zehntel des bisherigen Grenzwertes heruntergesetzt, auf 0,5 ppm, weil eben doch nicht auszuschliessen ist, dass eine langfristige Exposition, die darüber liegt, Lungenschäden verursacht. Das weiss man längst und in Aachen wurde das nochmal bestätigt.
Wo müsste die eigentliche Kritik ansetzen?
Der eigentliche Skandal liegt erstens darin, dass Hunderttausende von Menschen am Arbeitsplatz über Jahrzehnte einer tatsächlich schädigenden Konzentration ausgesetzt waren, obwohl es seit Jahrzehnten eine klare Kritik an der alten Grenzwertsetzung gegeben hat. Zweitens ist es ein Skandal, dass viele Millionen Menschen, vor allem Kinder, chronisch Kranke und Alte, an stark befahrenen Strassen nicht nur acht Stunden am Tag und vierzig Stunden in der Woche, sondern rund um die Uhr mit erheblichen Konzentrationen belastet sind, die mit Sicherheit statistisch gesehen Schäden verursachen. Der eigentliche Skandal ist, dass hier seit Jahrzehnten ein Massenexperiment am Menschen vorgenommen wird. All das haben wir kritischen WissenschaftlerInnen seit langem thematisiert.
Wie wurde auf diese Kritik reagiert?
Die Reaktion war immer eher verhalten. Man entgegnete uns: Wir leben halt nun mal in einem Industrieland, ein Zurück zur Natur kann es nicht geben, Kollateralschäden gibt es immer. Dass man sich jetzt plötzlich aufregt, ist in vielen Fällen Heuchelei, manchmal vielleicht aber auch eine erste Erkenntnis, nach welcher Logik die Dinge bei uns laufen.
Sind die 25 ProbandInnen, die sich den Abgastests unterzogen haben, überhaupt repräsentativ?
Es geht ja hier um toxikologische Forschungen, um erste Anzeichen einer schädigenden Wirkung beim Menschen zu ermitteln. Man kann derartige Tests durchaus mit so wenigen Leuten machen, je nach Versuchsaufbau kann das schon Erkenntnisse bringen. Wichtig wäre eine sehr genaue Wahrnehmung von Befindlichkeitsstörungen
Die Lobbyvereinigung «Europäische Forschungsvereinigung für Umwelt und Gesundheit», die Tests veranlasste, wurde bereits im letzten Jahr aufgelöst. Kommt die Kritik nicht zu spät?
Es gibt Hunderte von aggressiven Lobbygruppen, und wenn es nach mir ginge, müssten die verboten werden. Zumindest aber müsste aus Steuermitteln den unabhängigen Verbänden und kritischen WissenschaftlerInnen das Hundertfache an Zuwendungen gegeben werden, damit auch sie Lobbyarbeit im Sinne der Menschen und des Schutzes ihrer Gesundheit machen können.
Ist also die Regel, dass konzernnahe Lobbyorganisationen solche Tests machen?
Das kommt häufig vor und am Schlimmsten sind die Geheimhaltungsrechte der Konzerne. Gerade bei Pestiziden wissen wir seit Jahrzehnten, dass sehr besorgniserregende Daten geheim gehalten werden. Basagran, ein früher verwendetes Pestizid des Chemiekonzerns BASF, hat in höheren Dosierungen im Tierversuch Krebs erzeugt. Das kam erst heraus, nachdem eine US-amerikanische BürgerInneninitiative eine Klage auf ihr «Right to know» gewonnen hat. Von Glyphosat ist das Gleiche durchgesickert – auch dieser Stoff erzeugt Krebs. Die zuständigen Behörden, hier das Bundesinstitut für Risikobewertung, ein Teil des früheren Bundesgesundheitsamtes, schwimmt im Strom der industriehörigen Toxikologie mit und gibt sich mit angeblichen Ergebnissen geheim gehaltener Daten zufrieden.
Sie haben in Ihren Buch «Kranke Arbeitswelt» viele Beispiele solcher konzernnaher Wissenschaft aufgelistet. Können Sie eins nennen?
Ein eklatantes Beispiel ist das Asbest. Hier versucht eine starke Lobby, unterstützt von einigen wenigen weltweit führenden WissenschaftlerInnen, Weissasbest als harmlos darzustellen oder zumindest weniger schädlich, nicht oder nur gering krebserzeugend. Diese Lobby versucht also, das Rad der Geschichte zurückzudrehen und die momentan gültigen Bestimmungen und nun doch relativ niedrigen Grenzwerte auszuhebeln. Zum Glück haben sich verantwortungsvolle WissenschaftlerInnen offen gegen diese Lobby gestellt und aufgezeigt, dass deren Argumentation und angeblichen Daten keine Grundlage besitzen. Es gibt nachweisbare Fälle, bei denen zuweilen viel Geld im Spiel ist. Ich habe dazu mal eine tiefergehende Untersuchung über die Verstrickung führender ArbeitsmedizinerInnen mit der Tabakindustrie gemacht. Es ging um Passivrauchen, auch die Belastungen etwa in Wohnungen, wo ja Kinder besonders exponiert sind.
Welche Rolle spielen gesundheitsschädliche Stoffe in der Arbeitswelt?
Expositionen in der Arbeitswelt sind natürlich viel höher als die in der Umwelt. Diese Aussage gilt freilich nur hierzulande, nicht für die Schwellenländer und Dritt-Welt-Länder. Dort spielen Kinder auf regelrechten Giftmülldeponien. Doch zurück zur Arbeitswelt hierzulande: Da wird mit vielen neuen Stoffsystemen hantiert, Epoxidharzen, Isocyanate, Nanopartikel, die nur unzureichend auf Langzeitwirkungen untersucht sind. Auch hier findet ein Menschenversuch in grösseren Massstab statt, der nicht nach drei Stunden endet, sondern der ein Arbeitsleben lang läuft, das schon mit 45 oder 55 zu Ende sein kann wegen vorzeitiger arbeitsbedingter Krankheit oder arbeitsbedingtem Tod.
Wolfgang Hien ist Arbeitswissenschaftler und Medizinsoziologe und Leiter der Forschungsstelle Arbeit, Gesundheit und Biographie in Bremen. Er beschäftigt sich mit krankmachenden Stoffen im Wohn- und Arbeitswelt.
Interview: Peter Nowak
http://www.vorwaerts.ch/theorie-debatte/lobbygruppen-verbieten/