„Der Kapitalismus muss weg“

Athanasios Karathanassis ist Lehrbeauftragter an der Universität Hannover. Im Jahr 2015 hat er im VSA-Verlag das Buch „Kapitalistische Naturverhältnisse. Ursachen von Naturzerstörungen – Begründungen einer Postwachstumsökonomie“ herausgegeben. Der vorwärts sprach mit dem Soziologen über den Pariser Klimagipfel, Naturzerstörung und den Kapitalismus.

vorwärts: Der Pariser Klimagipfel ist Geschichte und hinterher gaben sich fast alle zufrieden. Wie würden Sie im zeitlichen Abstand einiger Wochen die Ergebnisse beschreiben?
Athanasios Karathanassis: Angesichts des nicht mehr zu leugnenden Klimawandels musste es nach all den gescheiterten Verhandlungen das vordringlichste Ziel sein, Erfolge zu präsentieren. So wird ein Minimalkonsens auf Basis einer „freiwilligen Verbindlichkeit“
ohne Sanktionsmöglichkeiten als historischer Durchbruch interpretiert. Die Ergebnisse des Gipfels haben so den Charakter eines moralischen Imperativs. In der Praxis wird die Moral aufgrund mächtiger ökonomischer und politischer Interessen, die ihr entgegenstehen, aber in ihre Schranken verwiesen. Erfolg misst sich letztlich nicht daran, was ausgehandelt wird, sondern an konkreten praktischen Massnahmen. Und es sollte auch nicht – wie auf der COP 21 beschlossen – erst nach fünf Jahren überprüft werden, ob diese auch wirklich umgesetzt wurden. Wäre man vom Erfolg der Verhandlungen so überzeugt, wie es nach aussen scheint, wären Rücktrittsankündigungen verantwortlicher Politikerinnen und Unternehmensschliessungen nur konsequent, falls es in bestimmter Zeit nicht gelingt, klimarelevante Gase signifikant zu senken.
vorwärts: Was wäre für Sie der Massstab für einen Gipfelerfolg gewesen?
Athanasios Karathanassis: Eine wirklich historische Wende hin zu einer „Dekarbonisierung“ wäre etwas anderes gewesen: Das verbindliche Abschalten von Kohlekraftwerken, das sofortige Bereitstellen der erforderlichen finanziellen Mittel für den Aufbau regenerativer
Energiequellen, die ersetzend und nicht ergänzend zu fossilen eingesetzt werden und vieles mehr. Würden Dekarbonisierungsmassnahmen nicht umgesetzt, müssten spürbare und schnellstmögliche ökonomische Sanktionen folgen. Ein Grossteil der fossilen Energieträger musste also in der Erde bleiben; das bedeutete aber entgangene Profite. All das geschieht nicht oder nicht ausreichend, so dass sich auch hier mal wieder zeigt, wie mit zweierlei Mass gemessen wird. Im Zuge der globalen Wirtschaftskrise von 2008 war es äusserst schnell und unbürokratisch möglich, „Rettungsschirme“ in Milliardenhöhe für systemrelevante
Banken auf Kosten von Millionen von Menschen bereitzustellen. Die Menschen und die äussere Natur, die von der Klimakrise betroffen sind, scheinen nicht als systemrelevant zu gelten. Das System der Kapitalakkumulation hat also Priorität. Es scheint so, als müsse
man sich einer versachlichten, gottähnlichen Macht – der Macht der Kapitale – alternativlos beugen. Doch zumindest eines ist klar: Es gibt keine Alternativen zur Natur; es gibt auch keine Alternativen zur Ökonomie, aber es gibt Alternativen zur kapitalistischen Form der
Ökonomie.


vorwärts: In den Reihen der Klimabewegten wird auch der Kapitalismus kritisiert, zum Beispiel in dem Buch „Die Entscheidung: Kapitalismus vs. Klima“ von Naomi Klein. Wie tief geht deren Kapitalismuskritik?

Athanasios Karathanassis: Die Qualität von „Kapitalismus vs. Klima“ liegt darin, ein Türöffner für einen kritischen Blick auf kapitalistische Naturverhältnisse sein zu können. Es weist also in die richtige Richtung, bleibt aber zumeist bei einer Kritik am Neoliberalismus,
was eine Verkürzung ist, die nur eine Variante des Kapitalismus in den Vordergrund stellt. Fragen nach den gesellschaftlich-ökonomischen Ursachen des Klimawandels und weiteren krisenhaften Naturveränderungen lassen sich aber nur durch tiefer gehende Kritik an kapitalistischen Grundprinzipien, die in allen kapitalistischen Phasen existieren und in verschiedenen historischen Varianten ihrer Umsetzung ihre praktische Wirkkraft entfalten, beantworten. Hierzu gehört zuallererst die allen Kapitalismen innewohnende Masslosigkeit in einer begrenzten Welt.


vorwärts: Sie haben im VSA-Verlag ein Buch mit dem Titel „Kapitalistische Naturverhältnisse“ veröffentlicht. Was verstehen Sie darunter und welche Rolle spielt die marxsche Ökonomiektitik dabei?

Athanasios Karathanassis: Zunächst einmal sollte man betonen, dass Marx mehr als einen Blick für den kapitalistischen Umgang mit der Natur hatte. Das liesse sich mit einer Reihe von Zitaten belegen. Aber insbesondere seine Kritik der Politischen Ökonomie ist geeignet,
über die Analyse ökonomischer Gesetzmässigkeiten Verhältnisse von Kapital und Natur zu entschlüsseln. Diese Kritik ist zwar nicht ausreichend aber unerlässlich. In „kapitalistische Naturverhältnisse“ geht es, verkürzt gesagt um die Fragen, wie der Kapitalismus
mit der Natur umgeht, was die Gründe dafür sind, welche Folgen das hat und welche Bedeutung das letztlich für die Entwicklung gesellschaftlich-ökonomischer Alternativen hat. Eine Abgrenzung vom marxschen Fortschrittsglauben, wie zum Beispiel im „Kommunistischen Manifest“ beschrieben, ist hierbei insbesondere für die Skizzierung dieser Alternativen wichtig, da – anknüpfend an Walter Benjamins kritischen Verweis auf das marxsche Revolutions- und Fortschrittsverständnis – nicht nur die Geschwindigkeit der Entwicklung, sondern vor allem die Richtung des Fortschritts in Frage gestellt werden muss.


vorwärts: Ein Kapitel Ihres Buches befasst sich mit postfordistischen Naturverhältnissen. Was sind deren besondere Kennzeichen?

Athanasios Karathanassis: Postfordistische Naturverhältnisse sind zunächst nicht dadurch gekennzeichnet, dass mit wesentlichen fordistischen Wachstumstreibern, wie zum Beispiel der Steigerung der Produktivkräfte oder des Massenkonsums, gebrochen wird. Im
Gegenteil: Sie werden auf entwickelterer Stufe, etwa durch Mikroprozessoren gesteuerte Produktionssysteme und elektronische Massenwaren, weitergeführt, so dass Märkte durch Informations- und Kommunikationstechnologien erweitert und vertieft werden. Der Einzug von „Biotechnologien“ in Produktionsprozesse und die Zunahme gentechnisch veränderter Waren kennzeichnen ebenfalls eine neue Qualität im Umgang mit der Natur. Diese wird nicht mehr nur von aussen, sondern nun auch von innen nach renditeorientierten Kriterien verändert. Kriterien der Kapitalverwertung werden so der Natur innerlich. Ähnlich wie es zunehmend von Lohnarbeitenden gefordert wird, die Interessen des Unternehmens zu verinnerlichen, sich mit diesem bis zur Unkenntlichkeit ihres Selbst zu identifizieren,
werden der Natur ihr fremde „Gesetze“ aufgezwungen. Diese globalen Überformungen sind nur einige neue Schritte der Gestaltung von Gesellschaften und Natur nach den Massgaben der Kapitalrentabilität. So sind wir auf dem Weg zu einer globalen „Kapitalgesellschaft“, in der sowohl die Menschen als auch die äussere Natur zunehmend als Mittel zum Zweck der Profitmaximierung instrumentalisiert werden.


vorwärts: In den letzten Kapiteln sprechen Sie von einer Postwachstumsökonomie. Was verstehen Sie darunter?

Athanasios Karathanassis: Um nur einige Schlagworte zu nennen: Ökonomische Prozesse würden nicht mehr auf maximalen Output abzielen, sondern müssten nach Kriterien der Bedarfsdeckungslogik umgestaltet werden. Das heisst, dass die Ökonomie nicht überall
schrumpft, sondern nur das Übermass an Produktion, Verkehr und Konsum verschwindet. Das hätte auch ein gänzlich anderes Krisenverständnis zur Folge. Möglich wäre das nur, wenn an Stelle von Kapitallogiken Logiken der Bedarfsdeckung zur Praxis werden. Problematisch ist hierbei aber nicht nur die Bedarfsbestimmung; was Mensch wirklich braucht, ist nur eine von vielen Fragen einer damit verbundenen Konsumkritik. Entscheidend ist in einer Postwachstumsökonomie, dass weniger stoffgebundene ökonomische
Prozesse stattfinden, denn die Entkopplung von Wachstum und Naturverbrauch und -Zerstörung ist trotz Fortschritten in der Energie- und Materialeffizienz nicht möglich. Man braucht also eine umfassende Wende, sozusagen eine positive Krise, die nicht nur einen
Wertewandel anstrebt und politische Machtverhältnisse in Frage stellt; es ist insbesondere  eine andere Ökonomie notwendig, die nicht mehr auf massloses Wachstum abzielt und vortäuscht, Massenkonsum sei für das Wohl der Menschheit unumgänglich. Das reicht selbstverständlich nicht aus, eine Postwachstumsökonomie zu umreissen. Es kann nur die Richtung andeuten, vieles ist noch unklar, muss beforscht und praktisch entwickelt werden.
vorwärts: In ihren 16 Thesen zur Leipziger Degrowth-Konferenz im Jahr 2014 schreibt die Interessengemeinschaft Roboterkommunismus: „Der Kardinalfehler der gesamten Bewegung besteht in ihrer Überhöhung des Wachstums zum Inbegriff aller Übel, zum scheinbar letzten Grund gesellschaftlicher Prozesse und somit auch zum Hebelpunkt einer qualitativen politischen Veränderung.“ Würden Sie dieser These zustimmen?
Athanasios Karathanassis: Ein Defizit des „Degrowth-Mainstreams“ ist die nicht ausreichende Verknüpfung von Wachstums- und Kapitalismuskritik. Gäbe es diese, wäre es klarer, dass Kapitalismus ohne Wachstum und somit auch ohne wachsenden Ressourcenverbrauch und Schadstoffemissionen nicht möglich ist. Bisherige Effizienzfortschritte oder naturschonende Lebensweisen reichen nicht aus und werden von den kapitalistischen Wachstumsausmassen bei weitem überkompensiert. Eine Wachstumskritik, die auf halbem Weg verharrt, kann bestenfalls zur Entschleunigung aber nicht zur Verhinderung von Katastrophen beitragen.


vorwärts: Nach der Lektüre Ihres Buches muss man zu dem Fazit kommen: Im Kapitalismus ist ein Ende der Naturzerstörung nicht möglich. Wäre da eine Revolution nicht der beste Beitrag für den Umweltschutz?

Athanasios Karathanassis: Wenn Probleme letztlich nur dann gelöst werden können, wenn ihre Ursachen beseitigt werden, dann bedeutet das, dass gesellschaftliche Grosskrisen, wie die Ausmasse der Naturzerstörung oder Massenarmut nur dann gelöst werden können, wenn wesentliche Ursachen dieser beseitigt werden. Und damit ist klar: Der Kapitalismus muss weg und emanzipatorischer Widerstand ist im wahrsten Wortsinn notwendig. Offen ist jedoch, auf welchen Wegen das möglich sein wird, so dass die Postkapitalismen auch wirklich emanzipatorisch sein werden. Die Frage, inwieweit das realistisch ist, möchte ich mit Herbert Marcuse beantworten, der sagte: „Der unrealistische Klang dieser Behauptung deutet nicht auf ihren utopischen Charakter hin, sondern auf die Gewalt der Kräfte, die ihrer Verwirklichung im Wege stehen.“

Interview: Peter Nowak
Quelle:
vorwärts – die sozialistische Zeitung.
Nr. 05/06 – 72. Jahrgang – 12. Februar 2016, S. 5
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