Transnationale Diffusion

Ein Versuch über den Zusammenhang von Krisen und Protesten

Gemeinsam mit dem Historiker Peter Birke betreut der freie Übersetzer Max Henninger die Zeitschrift „Sozial.Geschichte Online“, ein Nachfolgeprojekt der von der Bremer Stiftung für Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts herausgegebenen Reihe „1999“. Zusammen haben sie vor einigen Wochen im Verlag Assoziation A das Buch „Krisen Proteste“ herausgegeben, das Texte aus den letzten Ausgaben der Zeitschrift versammelt und so versucht, Zusammenhänge zwischen den unterschiedlichen Erscheinungsformen der Krise und den – oft asynchronen – Protesten gegen deren Ursachen und Auswirkungen herzustellen. Lesenswert ist dieser ambitionierte Versuch auch deshalb, weil dabei der Blick auf Auseinandersetzungen gerichtet wird, die in der in Deutschland und der EU derzeit dominierenden nationalen, bestenfalls eurozentristischen Perspektive der Krisenlösungspolitiken nicht erscheinen. Peter Nowak sprach mit Max Henniger über das Projekt.


War es Zufall, dass Euer Buch „Krisen Proteste“ pünktlich vor dem Höhepunkt der hiesigen Krisenproteste, den Blockupy-Aktionstagen heraus kam?

M.H.: Das war nicht geplant. Das Projekt hatte einen Vorlauf von mehr als sechs Monaten. Peter Birke und ich haben uns zu Beginn der zweiten Jahreshälfte 2011 überlegt, einige der in Sozial.Geschichte Online veröffentlichten Beitrage über die Krisenentwicklung in verschiedenen Ländern in Buchform zu veröffentlichen.

Können Sie kurz die Entwicklung von „Sozial.Geschichte Online“ skizzieren?

M.H.: „Sozial.Geschichte Online“ erscheint seit 2009 mehrmals jährlich als Publikation der Stiftung für Sozialgeschichte in Bremen. Die koordinierende Redaktion liegt bei Peter Birke und mir. Es handelt sich um das Nachfolgeprojekt der 1986 ins Leben gerufenen Print-Zeitschrift “1999”, die zwischen 2003 und 2007 unter dem Namen “Sozial.Geschichte” erschienen ist. Thematische Schwerpunkte von “1999” und “Sozial.Geschichte” waren die Geschichte des Nationalsozialismus und die globale Arbeitsgeschichte. Auf „Sozial.Geschichte Online“ wird darüber hinaus auch verstärkt über aktuelle Protestbewegungen und ihre Hintergründe berichtet.

Wie erfolgte die Auswahl der Texte für das Buch?

M.H.: Die Entwicklung der aktuellen Weltwirtschaftskrise und der mit ihr einhergehenden Proteste waren bereits seit Jahren Gegenstand von Beiträgen, die „Sozial.Geschichte Online“ in der Rubrik “Zeitgeschehen” veröffentlicht hat. Ins Buch aufgenommen haben wir Beiträge zu denjenigen Entwicklungen, deren Bedeutung wir im Rückblick als besonders hoch einschätzen. Dazu gehört etwa die von Helmut Dietrich verfasste Chronik der im Dezember 2010 begonnenen Revolte in Tunesien, die im Folgejahr zahlreiche weitere Aufstände im nordafrikanischen und nahöstlichen Raum nach sich gezogen hat.

Könnte man aus dem Titel des Buches „Krisen Proteste“ – ohne Komma oder Bindestrich -herauslesen, dass Ihr keinen Zusammenhang zwischen den beiden Themen seht?

M.H.: Es gibt jedenfalls keinen mechanischen Zusammenhang. In dem Buch geht es auch um Regionen, beispielsweise Ostafrika, die zwar stark von den sozialen Folgen der Krise betroffen sind, bislang aber nicht durch Proteste von sich reden gemacht haben. Gleichzeitig stellt sich in manchen Ländern auch die Frage, wie sich Protestbewegungen, die bereits vor Ausbruch der Krise aktiv waren, im Zuge der Krise verändern. Das gilt beispielsweise für die in vielen Ländern seit Beginn des Jahrtausends zu verzeichnenden Studierendenproteste.

Sie gehen in einem eigenen Aufsatz auf die Ernährungskrise in Afrika südlich der Sahara ein Wo sehen Sie den Zusammenhang zur Krise?

M.H.: Der Beitrag soll den Blick für das globale Ausmaß der Krisenfolgen schärfen. Zu oft wird nur auf Europa und die USA gesehen. Dabei waren die Proteste gegen die Verteuerung von Grundnahrungsmitteln, zu denen es 2007 und 2008 in mehr als dreißig asiatischen, afrikanischen und lateinamerikanischen Ländern gekommen ist, die erste globale Antwort auf die sich aus der Krise ergebenden Hunger- und Spardiktate. Auf Haiti führten die Proteste im April 2008 zum Sturz der Regierung von Jacques-Édouard Alexis. Die „Food Riots“ gehören aber auch zur Vorgeschichte der Aufstände in Tunesien, Ägypten und anderen arabischen Ländern. Die Ernährungskrisen und Hungersnöte, die Länder wie Niger, Somalia und Äthiopien in den letzten zwei Jahren erfasst haben, sind ebenfalls zur globalen Krise in Beziehung zu setzen. Wichtige Stichworte sind hier der Anstieg der Weltmarktpreise für Grundnahrungsmittel, die durch weltweite Investitionen in die Agrotreibstoffproduktion bedingte Verknappung landwirtschaftlicher Nutzflächen und der Aufkauf fruchtbarer Ländereien durch exportorientierte Unternehmen aus Ländern wie Südkorea und Saudi Arabien.

Im Länderbericht zu Deutschland hat Peter Birke die Hamburger „Recht auf Stadt“-Bewegung und die Besetzung des Gängeviertels in den Mittelpunkt gestellt. Wo ist hier der Zusammenhang zu den Krisenprotesten?

M.H.: Anhand der „Recht auf Stadt“-Bewegung lässt sich zeigen, wie die Krisenfolgen hierzulande in einer eher schleichenden Verschlechterung der Lebensverhältnisse vieler Menschen spürbar werden. Das Protestgeschehen in Deutschland bleibt relativ zersplittert. Dabei sind es aber nicht nur Bewegungen, deren Parolen ausdrücklich die Krise thematisieren, die auf die Krisenfolgen reagieren.

Im Gegensatz zu Eurem Buch „Krisen Proteste“ sind die realen Krisenproteste im Wesentlichen noch nationalstaatlich organisiert. Sehen Sie transnationale Bezugspunkte?

M.H.: Es gibt eine transnationale Diffusion der Proteste. Die Food Riots von 2007/08 und das Übergreifen der tunesischen Revolte auf andere arabische Länder sind Beispiele dafür. Die US-amerikanische Occupy-Bewegung hat auch Impulse aus Ländern wie Ägypten und Spanien aufgenommen. Dennoch scheitern Versuche, die Übertragung von Protestbewegungen aus einem nationalen Kontext in den anderen zu organisieren, oft an der Unterschiedlichkeit der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse. Allein in Europa besteht ein sehr ausgeprägtes Gefälle zwischen Zentrum und Peripherie. Um nur ein Beispiel herauszugreifen: In Spanien liegt die Jugenderwerbslosigkeit bei rund 40 Prozent, in Deutschland unter zehn Prozent. Diese unterschiedliche Ausgangslage erschwert zunächst einmal gemeinsame Kämpfe.

Könnte das nicht auch ein Kommentar zu den Blockupy-Protesten sein?

M.H.: Wir haben in der Einleitung geschrieben, dass die raum-zeitliche Entkoppelung von Krisenpolitik und Krisenfolgen für die Linke ein zentrales Problem darstellt, das keineswegs durch bloße Appelle zu bewältigen ist. Die Organisatoren der Krisenproteste der letzten Monate stehen heute vor diesem Problem.

Peter Birke / Max Henninger (Hg.): Krisen Proteste. Beiträge aus Sozial.Geschichte Online ISBN 978-3-86241-413-0, 312 Seiten, April 2012, 18 Euro

Mit Beiträgen von: Peter Birke, Kristin Carls, Helmut Dietrich, Andy Durgan/Joel Sans, Silvia Federici, The Free Association, Max Henninger, Gregor Kritidis, Pun Ngai/Lu Huilin, Karl Heinz Roth

Weitere Informationen über: http://www.stiftung-sozialgeschichte.de/

http://www.labournet.de/express/index.html

»Nicht nur auf Europa und die USA sehen«

MAX HENNINGER ist Redakteur der Netzzeitschrift »Sozial.Geschichte Online«. Gemeinsam mit dem Historiker Peter Birke hat er im Verlag Assoziation A das Buch »Krisen Proteste« herausgegeben. Darüber sprach mit ihm PETER NOWAK.

nd: Der Titel Ihres Buches hat eine ungewöhnliche Schreibweise: »Krisen Proteste«. Will die Getrenntschreibung ausdrücken, dass Sie keinen Zusammenhang zwischen beidem sehen?
HENNINGER: Es gibt jedenfalls keinen mechanischen Zusammenhang. In dem Buch geht es auch um Regionen, beispielsweise Ostafrika, die zwar stark von den sozialen Folgen der Krise betroffen sind, bislang aber nicht durch Proteste von sich reden gemacht haben. Gleichzeitig stellt sich in manchen Ländern auch die Frage, wie sich Protestbewegungen, die bereits vor Ausbruch der Krise aktiv waren, im Zuge der Krise verändern. Das gilt beispielsweise für die in vielen Ländern seit Beginn des Jahrtausends zu verzeichnenden Studierendenproteste.

nd: Ein Aufsatz widmet sich der Ernährungskrise in Afrika südlich der Sahara. Gibt es die nicht viel länger als die Finanzkrise?
M.H.: Zu oft wird nur auf Europa und die USA gesehen. Dabei waren die Proteste gegen die Verteuerung von Grundnahrungsmitteln, zu denen es 2007 und 2008 in mehr als dreißig asiatischen, afrikanischen und lateinamerikanischen Ländern gekommen ist, die erste globale Antwort auf die sich aus der Krise ergebenden Hunger- und Spardiktate. Auf Haiti führten die Proteste im April 2008 zum Sturz der Regierung von Jacques-Édouard Alexis. Die Food Riots gehören aber auch zur Vorgeschichte der Aufstände in Tunesien, Ägypten und anderen arabischen Ländern

nd: Als Beispiel für Krisenprotste in Deutschland wird im Buch e die Hamburger Recht auf Stadt-Bewegung und die Besetzung des Gängeviertels in den Mittelpunkt gestellt. Wo ist der Zusammenhang zu den Krisenprotesten?
M.H.: Aus meiner Sicht reagieren nicht nur Bewegungen, deren Themen ausdrücklich die Krise thematisieren, auf die Krisenfolgen. Das Protestgescheneh in Deutschland ist relativ zersplittert. Anhand dieser stadtpolitischen Bewegung lässt sich zeigen, wie die Kris hierzulande in einer eher schleichenden Verschlechterung der Lebensverhältnisse vieler Menschen spürbar wird.

nd: Man kann die verschiedenen Proteste in der Welt in einem Buch zusammenbringen, die realen Krisenproteste noch hauptsächlich nationalstaatlich organisiert. Sehen Sie transnationale Bezugspunkte?
M.H.: Es gibt eine transnationale Diffusion der Proteste. Die Food Riots von 2007/08 und das Übergreifen der tunesischen Revolte auf andere arabische Länder sind Beispiele dafür. Die US-amerikanische Occupy-Bewegung hat auch Impulse aus Ländern wie Ägypten und Spanien aufgenommen. Dennoch scheitern Versuche, die Übertragung von Protestbewegungen aus einem nationalen Kontext in den anderen zu organisieren, oft an der Unterschiedlichkeit der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse. Allein in Europa besteht ein sehr ausgeprägtes Gefälle zwischen Zentrum und Peripherie. Um nur ein Beispiel herauszugreifen: In Spanien liegt die Jugenderwerbslosigkeit bei rund 40 Prozent, in Deutschland unter zehn Prozent. Diese unterschiedliche Ausgangslage erschwert zunächst einmal gemeinsame Kämpfe.

nd: Ein Kommentar zu den Krisenprotesten hierzulande?
M.H.: Die raum-zeitliche Entkoppelung von Krisenpolitik und Krisenfolgen für die Linke ein zentrales Problem darstellt, das keineswegs durch bloße Appelle zu bewältigen ist.
https://www.neues-deutschland.de/artikel/
229587.nicht-nur-auf-europa-und-die-usa-sehen.html
Interview: Peter Nowak

Analyse der Krisenproteste in Europa

Ein Buch betrachtet Widerstandsbewegungen

Warum gibt es in Europa trotz der großen Krise relativ wenig gemeinsamen Widerstand? Ein kürzlich im Verlag Assoziation A erschienenes Buch mit dem Titel »Krisen Proteste« (312 Seiten, 18 Euro) gibt einige Antworten auf diese Frage und zieht eine Zwischenbilanz der Proteste, Aufstände und Streikbewegungen, die es bisher als Reaktion auf die sozialen Verwerfungen gab.

Die Ungleichzeitigkeit der Krisenpolitik und der Wahrnehmung bei den Betroffenen erschwert einen gemeinsamen Widerstand. Diese Entkoppelung stellt für die Linken ein großes Problem dar, »das keineswegs mit bloßen Appellen und weltweiten Aufrufen bewältigt werden kann«, schreiben die Herausgeber des Buches, Peter Birke und Max Henninger, in der Einleitung. In zwölf Aufsätzen, die größtenteils auf der Onlineplattform Sozial.Geschichte Online veröffentlicht wurden, werden die aktuellen Bewegungen in den unterschiedlichen Ländern auf hohem Niveau analysiert.

Zur Lage in Griechenland gibt es gleich zwei Beiträge. Während der Historiker Karl Heinz Roth die Vorgeschichte der Krise rekonstruiert und dabei auf das Interesse des griechischen Kapitals am Euro eingeht, beschäftigt sich der Soziologe Gregor Kritidis mit der vielfältigen Widerstandsbewegung der letzten Jahre. Er sieht in den Aufständen nach der Ermordung eines jugendlichen Demonstranten durch die Polizei im Dezember 2008 »die Sterbeurkunde für die alte Ordnung«. Ausführlich geht er auch auf die Bewegung der Empörten ein, die im Sommer 2011 aus Protest gegen die EU-Spardiktate öffentliche Plätze in Griechenland besetzten und mit massiver Polizeirepression konfrontiert waren. Ebenso stellt Kritidis die Bewegung zur Schuldenstreichung vor, die es seit einem Jahr gibt.

Kirstin Carls zeigt am Beispiel Italien auf, wie die technokratische Monti-Regierung in den letzten Monaten Einschnitte in die Arbeits-, und Sozialgesetzgebung umgesetzt hat, die Berlusconis Regierung nach heftigem Widerstand hatte zurückziehen müssen. Das Bündnis The Free Association liefert Hintergrundinformationen über die Proteste in Großbritannien. Zwei spanische Aktivisten beschreiben, wie sich ein Teil der Empörten, nachdem sie Zelte auf den öffentlichen Plätzen aufgegeben hatten, auf den Kampf gegen Häuserräumung und die Unterstützung von Streiks konzentrierten. Das Buch kann nach den Blockupy-Aktionstagen letzte Woche in Frankfurt wichtige Anregungen für eine Perspektivdebatte der Krisenprotestbündnisse liefern.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/227787
.analyse-der-krisenproteste-in-europa.html
Peter Nowak