SexarbeiterInnen sollen sich nach den Plänen von Bundesfamilienministerin Schwesig (SPD) künftig bei jeder Kommune an- und abmelden müssen. Angeblich soll diese Maßnahme ihrem Schutz dienen. „Die Anmeldepflicht macht sie zu Objekten weiterer Einschränkung ihrer bürgerlichen Rechte. Es geht um Überwachung, nicht um Schutz“, heißt es in einem Aufruf, der von SexarbeiterInnen aus verschiedenen Ländern sowie zahlreichen Einzelpersonen unterzeichnet und Anfang November in verschiedenen Tageszeitungen, unter anderem in der taz veröffentlicht wurde. Unter den unterzeichnenden Organisationen findet man etwa die Sexworker aus Österreich und das Kollektiv zur Verteidigung der Rechte der SexarbeiterInnen aus Spanien. Aus Deutschland haben ebenso die Rote Hilfe Nürnberg, verschiedene Datenschutzorganisationen, der Bundessprecherrat der Linksjugend Solid und der Bundesvorstand der Piratenpartei den Aufruf unterschrieben. Gewerkschaftliche Gruppierungen hingegen sucht man dort vergeblich.
Verbot statt Solidarität?
Liegt der Grund vielleicht darin, dass in Teilen der feministischen Bewegung und auch in gemischten linken Zusammenhängen noch immer das Prostitutionsverbot diskutiert wird? Dabei wird gern immer wieder betont, dass nicht die SexarbeiterInnen sondern die Freier bestraft werden sollen. Dass ihnen damit allerdings die Ausübung ihres Berufes verunmöglicht werden soll, wird dabei in Kauf genommen. „Wenn es um käuflichen Sex geht, geraten auch Linke gern mal aus der Fassung“, kommentiert der Publizist Markus Liske diese Debatten um in der Zeitung Nolo, dem „Magazin für freiwillige Selbstentgrenzung“, der zum 80 Jahrestag der Ermordung von Erich Mühsam erschienen ist.
Arbeitskampf der SexarbeiterInnen
Dabei gäbe es vor allem für gewerkschaftlich organisierte Linke genügend Möglichkeiten, sich mit den SexarbeiterInnen und ihren Forderungen zur Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen, nicht nur theoretisch zu solidarisieren. Kaum öffentlich wahrgenommen war der Arbeitskampf beim großen deutschsprachigen Portal für sexuelle Dienstleistungen mit dem bezeichnenden Namen Kaufmich.com im Sommer 2014. Die Auseinandersetzung entzündete sich an Neuregelungen des Portals, die für die SexarbeiterInnen mit großen Umsatzeinbußen verbunden waren. Danach sollten nicht angemeldeten BesucherInnen der Webseite die Telefonnummer einer, angemeldeten Besuchenden die Nummern von drei SexarbeiterInnen täglich angezeigt werden. Bei kostenpflichtigen Premium-Mitgliedern der Webseite sollten die Nummern auf 15 täglich beschränkt werden.
Kurz nach der Einführung dieser neuen Regelung begann der Protest der SexarbeiterInnen, weil sich massive Umsatzeinbußen ergaben. Als Gegenmaßnahmen haben einige SexarbeiterInnen ihre Telefonnummern an verschiedenen Stellen ihres Profils online gestellt und damit eine bewusste Regelverletzung vollzogen. Aus Solidarität beteiligten sich daran auch KollegInnen, die selber gar ihre KundInnen nicht über das Internet akquirieren. Daraufhin wurden die Profile der Protestierenden versteckt. Sie wurden bei Suchanfragen von KundInnen nicht mehr berücksichtigt. Auch ihre Blogartikel und Kommentare tauchten auf der Webseite nicht mehr auf. Obwohl die Auseinandersetzung zwischen SexarbeiterInnen und Portalbetreibenden von Kaufmich alle Merkmale eines Arbeitskampfs trug, gab es aus linken und gewerkschaftlichen Zusammenhängen kaum Reaktionen. Trotzdem hatten die protestierenden KollegInnen Erfolg. Die Portalbetreibenden erhöhten die Zahl der Kontakte für die nicht angemeldeten NutzerInnen wieder. Das Portal sexarbeiterinnenprotest.blogsport.eu informiert über diese und andere Arbeitskämpfe in der SexarbeiterInnenbranche. Es wird Zeit, dass es gewerkschaftliche Solidarität auch von außerhalb gibt.
Esst viel frisches Obst und Gemüse! Vermeide fetthaltige Nahrung und Süßigkeiten! Auf dem ersten Blick scheinen diese Ratschläge sehr vernünftig zu sein. Wer wollte bestreiten, dass ein frischer Apfel bekömmlicher ist als ein überzuckerter Powerdrink. Daher beginnt der Medizinjournalist Matthias Martin Becker sein Buch »Mythos Vorbeugung« ebenfalls mit einem Ratschlag: »Lieber nicht rauchen! Oder wenigstens weniger. Steigt auf Eure Fahrräder, es wird Euch nicht schaden! Wahrscheinlich«.
Becker begründet kenntnisreich, dass auch eine gesunde Ernährungs- und Lebensweise keine Garantie für ein Leben ohne Krankheiten ist. Dieser Eindruck werde aber bei vielen Kampagnen erzeugt. Krankheit wird so zum individuellen Versagen. Den Patienten wird vorgeworfen, die sozialen Sicherungssysteme durch ihre ungesunde Lebensweise zu belasten. Dabei zeigt Becker in seinem Buch immer wieder auf, dass Gesundheit und Krankheit durchaus eine Klassenfrage ist. Engagierte Mediziner und Sozialpolitiker wie der ehemalige Präsident der Berliner Ärztekammer Ellis Huber verwiesen bereits in den 80er Jahren auf den Zusammenhang von Armut und Gesundheit. »Wenn Sie sich in die U1 setzen und in Richtung Krumme Lanke fahren, dann sie verlieren sie an jeder Station zwei Monate Lebenserwartung«, zitiert Becker Huber über einen Streifzug durch das Westberlin der frühen 80er Jahre. Zwischenzeitlich hat sich die Linienführung der U-Bahn in Berlin geändert, nicht aber das Gesundheitsgefälle zwischen bürgerlichen und proletarischen Stadtteilen. Noch deutlicher ist die Differenz bei der Lebenserwartung in London. »In der britischen Hauptstadt beträgt der Unterschied zwischen den wohlhabenden und den ärmsten Bezirken 17 Jahre«, schreibt Becker.
Für die meisten gesundheitlichen Probleme in der Gesellschaft sei eher die Ungleichheit verantwortlich. Sie zu überwinden, sei demnach die beste Vorbeugung. Auch diese Erkenntnis ist keineswegs neu, wie Becker am Beispiel des Mediziners und Sozialpolitikers Rudolf Virchow zeigt. Als Teil einer Expertenkommission besuchte er 1848 das von einer schweren Epidemie betroffene Oberschlesien und fand dort Menschen in unbeschreiblicher Armut und katastrophalen hygienischen Verhältnissen. Virchow merkte schnell, dass er sich mit sozialen Bestrebungen in der preußischen Feudalgesellschaft Feinde machte und konzentrierte sich ganz auf seine medizinische Arbeit. Becker zeigt auf, dass gerade im Zuge der Krise in Ländern wie Griechenland und Spanien Krankheiten, die bisher als beherrschbar galten, wieder eine tödliche Gefahr vor allem für arme Menschen werden. Sein gut lesbares, informatives Buch ist auch eine Streitschrift gegen die Privatisierungstendenzen im Gesundheitswesen.
Martin Matthias Becker: Mythos Vorbeugung, Wien 2014. Promedia Verlag, 224 Seiten, 17,90 €.
Immer mehr Soligruppen organisieren Unterstützung für Arbeitskämpfe in der Bundesrepublik
Am Wochenende trafen sich Streikkomitees aus verschiedenen Städten in Frankfurt am Main, um ihre Erfahrungen auszutauschen. Verabredet wurde, die Amazon-Beschäftigten weiter zu unterstützen.
Stell Dir vor, bei Amazon wird gestreikt und vor den Werktoren verhindern Unterstützer, dass Streikbrecher zum Einsatz kommen. Genau so könnte die nächste Streikwoche des Amazon-Versandhandels aussehen. Denn mittlerweile gibt es in mehreren Städten politische Gruppen, die Streikende von außen unterstützen. Am Wochenende trafen sich ca. 30 Personen in Frankfurt am Main zum zweiten bundesweiten Vernetzungstreffen.
Ende Juni hatte in Leipzig das erste bundesweite Treffen stattgefunden. In der Stadt gibt es seit einem Jahr eine hauptsächlich von Studierenden getragene Initiative, die den Beschäftigten des dortigen Amazon-Stützpunktes bei ihrem Arbeitskampf den Rücken stärkt.
Auch in anderen Auseinandersetzungen gründeten sich Soli-Komitees für Streiks. So führten beim Einzelhandelsstreik von 2013 Unterstützergruppen in Erfurt und Berlin Solidaritätsaktionen durch, ebenso an der Berliner Charité und beim Hamburger Verpackungshersteller Neupack.
Über das politische Ziel, prekäre Arbeits- und Lebensbedingungen zu bekämpfen, waren sich die Teilnehmer beim Treffen in Frankfurt einig. Im Detail gab es aber durchaus Differenzen. Soll lediglich ein bundesweites Netzwerk der Streiksolidarität aufgebaut werden, wie es dem Bündnis »Streik-Soli-Leipzig«, das zu dem Treffen eingeladen hatte, vorschwebt? Oder soll sich das Bündnis auch ein Selbstverständnis geben, wie es die Gruppe »Kritik und Klassenkampf« aus Frankfurt am Main vorschlug? Für manche standen im ersten Teil des Treffens solche Organisationsfragen zu stark im Vordergrund. So rutschte der Erfahrungsaustausch der Streiksoligruppen in die späten Abendstunden.
Als es aber um die Unterstützung des Amazon-Streiks ging, waren sich die Teilnehmer einig. Auf Vorschlag eines Amazon-Beschäftigten soll das nächste Treffen der »Streiksolidarität« im Frühjahr am Werkstandort Bad Hersfeld stattfinden. Vielleicht werden aber manche den osthessischen Kurort bereits vorher durch Solidaritätsaktionen kennenlernen.
Auch im Reproduktionsbereich soll die Streiksolidarität ausgebaut werden. Der Studierendenverband der LINKEN, SDS.Die Linke, lädt für das kommende Wochenende nach Frankfurt ein, um die Unterstützung für den Kitastreik im nächsten Jahr vorzubereiten.
Über die Idee für eine Konferenz zur außerbetrieblichen Streiksolidarität wurde noch nicht entschieden. Eine solche Konferenz böte die Chance, sich eine Geschichte anzueignen, die nicht erst 2013 begonnen hat. Bereits 2008 war der damalige Einzelhandelsstreik in Berlin von eigenständigen Unterstützungsaktionen linker Gruppen begleitet. Die Initiative ging damals vom Euro-Mayday-Bündnis aus, das mehrere Jahre lang am 1. Mai versuchte, Demonstrationen von Menschen in prekären Arbeitsverhältnissen zu organisieren. Höhepunkt der damaligen Solidaritätsarbeit war die Aktion »Dichtmachen«, bei der im Juni 2008 eine Berliner Reichelt-Filiale für mehrere Stunden blockiert wurde. Im Film »Ende der Vertretung« wurde die durchaus nicht konfliktfreie Kooperation der Unterstützergruppen mit den DGB-Gewerkschaften thematisiert. Und in Nordrhein-Westfalen gab es eine monatelange Unterstützungsarbeit für den Streik von Beschäftigten der Cateringfirma Gate Gourmet, der von Basisgewerkschaften geführt wurde.
Politische Online-Kampagnen, „Klicktivismus“ und die Unterfütterung solcher Bewegungen: Indiz für eine Schwächung der Protestkultur?
„Demokratie braucht Bewegung“, lautete der Titel eines Kongresses, der am Wochenende in Berlin stattgefunden [1] hat. Oft gehört und schön gesagt, könnte man denken. Doch veranstaltete den Kongress mit Campact [2] ausgerechnet eine Organisation, die nicht wenige für den Ausdruck einer Schwundstufe der Protestkultur halten. Die Bewegung, die Campact meint, erschöpft sich oft in der Fingerübung, die man braucht, um mit einem Click eine der Kampagnen von Campact zu unterstützen, lautet die Kritik.
Vergesst den Klicktivismus
Dafür wurde sogar ein eigener Begriff kreiert: „Klicktivismus“ (oder „Clicktivismus“). Er hat sich allerdings als Synonym für eine Widerstandssimulation noch nicht wirklich durchgesetzt. Dabei ist die Kritik alt [3] und wird mittlerweile auch von Menschen vertreten, die aus dem Umfeld der Campact-Gründer kommen.
So wird Attac-Mitbegründer Felix Kolb, der noch vor zwei Jahren in einem Taz-Streitgespräch [4] das Hohelied auf die grundsätzlich „gerecht und demokratisch strukturierte Gesellschaft“ in Deutschland sang, heute in der Taz als Clicktivismus-Kritiker zitiert [5].
Nun könne man es sich leicht machen und Kritiker des Neides zeihen, die ein nach den eigenen Ansprüchen nicht erfolgloses Projekt schlecht reden wollen. Schließlich kommt Campact aus einer Bewegung, die nicht mehr über Gesellschaft im Allgemeinen und Kapitalismus im Besonderen reden wollte, sondern konkrete Probleme in der Gesellschaft in ihren Kampagnen aufgreifen und Abhilfe schaffen wollte. Politisch Verantwortliche wurden so nicht etwa infrage gestellt, sondern sie wurden dafür kritisiert, dass sie nicht öfter und wirkungsvoller eingreifen.
Campact – die Bildzeitung der Protestbewegung?
Ein gutes Beispiel ist die aktuelle Campact-Kampagne gegen Kohleverstromung [6]. In der Kurzformel „Herr Gabriel, Kohlekraft abschaffen“ gelingt Campact etwas, wofür die Bildzeitung mit ihren Schlagzeilen seit Jahren bekannt ist: Komplexe Sachverhalte werden in wenigen Worten zusammengefasst, die scheinbar alle verstehen, dazu werden auch schnell mal neue Wörter kreiert.
Kohlekraft ist dafür ein gutes Beispiel, weil damit semantisch an die momentan gesellschaftlich in Deutschland eher abgelehnte Atomkraft erinnert wird. Was ist dagegen einzuwenden, wenn nun die Methode der Bild-Schlagzeilen umgekehrt und für die Protestbewegung genutzt wird?
Doch Kritiker bezweifeln, dass solche Methoden einfach anders genutzt werden können. Auf jeden Fall wird durch die Campact-Kampagnen der Appell an Staat und Regierung wieder populär gemacht. Das zeigt sich schon daran, dass an die politisch Verantwortlichen adressiert wird, im Fall der Kohleverstromung an den zuständigen Minister Gabriel.
Vor kurzem hatten Umweltaktivisten sogar eine Demo organisiert [7], bei der Bundeskanzlerin Merkel dafür kritisiert [8] wurde, dass sie nicht zum Klimagipfel nach New York jettete, sich also eigentlich umweltpolitisch vorbildlich verhielt. In den letzten Jahren wandten sich Initiativen unter dem Motto „Atomausstieg selber machen“ [9] gegen die Hoffnungen, die man in Regierungen und Staat setzt. Nun hat Campact allerdings die Staatsgläubigkeit nicht erfunden, sondern nur auf die Höhe der technischen Möglichkeiten gehoben.
Schließlich gab es bereits vor der massenhaften Computernutzung die Unterschriftenappelle, die auch nur eine Fingerübung zur Voraussetzung hatten. Eine der bekanntesten Unterschriftensammlungen in den 1980er Jahren in der BRD war der Krefelder Appell [10], der sich gegen die Stationierung neuer Nato-Mittelstreckenwaffen in Westeuropa wandte und für eine globale Abrüstung eintrat.
Schon durch den Appell-Charakter wird deutlich, dass solche Aufrufe an Regierungen adressiert sind. Doch hier wird auch ein Unterschied zu den Online-Kampagnen von Campact deutlich. Die Unterschriften wurden im öffentlichen Raum gesammelt, sei es an Infoständen, auf Demonstrationen oder gelegentlich sogar bei Hausbesuchen. Den Unterschriften gingen oft lange Debatten voraus, für das Unterschriftensammeln bereiteten sich politische Gruppen vor, schulten sich in ihrem Auftreten, verfassten Flugblätter mit Argumenten für das Anliegen der Unterschriftensammlung.
Das zeigte, dass eine Unterschriftensammlung, so sehr sie am Ende auch nur ein Appell an die Regierungen war, ohne eine politische Bewegung nicht erfolgreich sein konnte. Ein Online-Appell wird aber in der Regel am Computer und nicht im öffentlichen Raum vollzogen. Es braucht also gerade keine politische Bewegung dafür und er löst auch keine aus.
Dem steht nicht entgegen, dass Campact-Organisatoren betonen, dass der Klick auf eine Petition nicht alles ist und sie diese Kampagnen durchaus in größere Bewegungen einbetten wollen. Das ist auch gelegentlich der Fall. So existiert eine Bewegung für gesunde Ernährung [11], die von Campact unterstützt [12] wird. Es fragt sich allerdings, welchen Anteil Campact dabei überhaupt hatte.
Denn es ist ja gerade die Besonderheit einer Bewegung auf der Straße, dass nur dort interagiert werden und Erfahrungs- und Lernprozesse stattfinden können. Dabei können auch Menschen, die noch auf eine Änderung der Regierungen hofften zusammen die Erfahrung machen, dass strukturelle Probleme und nicht der Wille einer Regierung für die kritisierten Zustände verantwortlich sind. So entsteht in einer Protestbewegung Gesellschaftskritik.
Eine hauptsächlich auf Onlinekampagnen ausgerichtete Bewegung aber macht solche Lernprozesse zumindest schwieriger. Beim Jubiläumskongress blieb Campact ganz in ihrer Tradition. Während der Ort nur nach Anmeldung bekannt gegeben wurde, und daher spontanen Besuchern die Teilnahme kaum möglich war, wurde auf den Livestream [13] verwiesen. Bewegung brauchte es dafür nun wirklich nicht.
Ein Gastbeitrag von Campact zur Kritik an Online-Petitionen
Peter Nowaks Beitrag Wenn Bewegung zur Fingerübung wird reproduziert mit Blick auf Campact eine These, die so alt ist wie das Instrument der Online-Petitionen. Das Verdikt: „Klicktivismus“! Online-Petitionen reduzierten das Engagement auf das bequeme Klicken mit der Maus. Dieses Urteil ist politischen Eliten recht – und es ist ungefähr so absurd wie der Vorwurf, ein Schraubenzieher eigne sich nicht dazu, einen Nagel in die Wand zu schlagen.
In Köln demonstrierten vor zwei Jahren belgische Arbeiter vor der Europazentrale von Ford. Nun fand der erste Prozess gegen einen der Arbeiter statt.
Demonstranten werden nach einer Kundgebung von der Polizei eingekesselt und erkennungsdienstlich behandelt. Einige Monate später treffen die ersten Strafbefehle ein. Ein solches Szenario kennen Linke hierzulande zur Genüge. Doch der Kessel, mit dem die Kölner Polizei am 7. November 2012 auf eine unangemeldete Protestaktion reagierte, war eine Ausnahme. Betroffen waren 250 Arbeiter aus dem belgischen Genk, die vor der Kölner Europazentrale des Autoherstellers Ford gegen die geplante Schließung ihres Werks protestierten.
»Wir wollten unsere Kölner Kollegen warnen. Jeden Tag kann es passieren, dass die da oben weitere Stellenstreichungen und ganze Werksschließungen verabschieden«, hieß es in einer Erklärung der belgischen Ford-Arbeiter. Gewerkschaftslinke aus verschiedenen Branchen solidarisierten sich mit den belgischen Arbeitern. »Sie riefen zur grenzenlosen Solidarität gegen Fabrikschließungen auf, statt wie die Mehrheit des DGB und auch vieler Betriebsräte Lobbyarbeit für ihren eigenen Standort zu machen«, erklärten linke Gewerkschafter des Bochumer Opel-Werks. Dort sorgte lange eine kämpferische Belegschaft dafür, dass auf Entlassungen und drohende Stilllegungen von Werksbereichen mit Protestaktionen reagiert wurde. Doch während des vergangenen Jahrzehnts hat sich die Belegschaft im Bochumer Opel-Werk verändert. Viele im Arbeitskampf erfahrene Beschäftige wurden verrentet oder verließen mit einer Abfindung den Betrieb. Der Rückgang der Protestbereitschaft wurde auch bei den Betriebsratswahlen deutlich, die lange Zeit einflussreiche linksoppositionelle Liste »Gegenwehr ohne Grenzen« (GoG), die sich gegen Standortnationalismus wendet, ist erstmals nicht mehr vertreten. Für die geschrumpfte Gewerkschaftslinke waren die Proteste der Genker Beschäftigten eine Möglichkeit an die Tradition anzuknüpfen. Nachdem im vorigen Herbst 15 belgische Ford-Arbeiter, die an den Protesten in Köln beteiligt waren, Strafbefehle erhalten hatten, gründeten sie den »Solikreis 7. November«, der eine Einstellung sämtlicher Verfahren forderte. Nur gegen fünf Beschuldigte wurden die Strafbefehle zurückgezogen. Am 20. Oktober begann vor dem Kölner Amtsgericht der erste Prozess. Mehr als 60 Gewerkschafter aus Deutschland und Belgien bekundeten vor dem Gericht ihre Solidarität. Am Mittwoch voriger Woche wurde der Belgier Gaby Colebunders wegen Missachtung des Vermummungsverbots zu einem Verwarnungsgeld in Höhe von 600 Euro verurteilt, das auf ein Jahr zur Bewährung ausgesetzt wurde. Alle anderen Anklagepunkte, wie beispielsweise schwerer Landfriedensbruch, hatte das Gericht fallengelassen.
Der »Solikreis 7. November« sprach von einem Freispruch zweiter Klasse und einem Erfolg der Solidaritätsarbeit. Diese sei jedoch noch längst nicht beendet. Die neun noch ausstehenden Verfahren sind vom Gericht für Sommer 2015 angesetzt worden. Der Bevollmächtigte der IG-Metall Köln, Witich Roßmann, sprach von einer Überreaktion und forderte eine Einstellung der Verfahren. »Polizei und Staatsanwaltschaft werden lernen müssen, konstruktiv und verständnisvoll mit den unterschiedlichen europäischen Protestkulturen umzugehen«, so Roßmann. Der Verweis auf angeblich unterschiedliche nationale Arbeitskampfkulturen wurde von linken Gewerkschaftern kritisiert. Sie erinnerten daran, dass ein hauptsächlich von Migranten getragener Streik 1973 bei Ford in Köln unter dem Beifall des IG-Metall-Vorstands mit einem brutalen Polizeieinsatz und Ausweisungen von Arbeitern geendet hatte. Die Hetze der Medien gegen den GDL-Streik in der vorigen Woche machte deutlich, dass der Gebrauch des Streikrechts in Deutschlands keineswegs Konsens ist. Befürwortern fiel zur Verteidigung der GDL lediglich ein, Konkurrenz tue nicht nur in der Wirtschaft, sondern auch den Gewerkschaften gut. Die belgischen Ford-Arbeiter und ihre Unterstützer halten es eher mit einem Wert, der in der deutschen Gewerkschaftsbewegung selten anzutreffen ist: der transnationalen Solidarität.
Der Berliner Sozialrechtler Lutz Achenbach über das Urteil des EuGH
Deutschland darf einer Rumänin Hartz-IV-Leistungen verweigern. Hat sich damit die deutsche Rechtslage durchgesetzt?
Zunächst einmal wurde ein Einzelfall entschieden, der mit der Frage, mit der wir uns seit Langem befassen, gar nichts zu tun hat.
Warum?
In dem Fall, über den der EuGH entschieden hat, ging es um eine Rumänin, die mit ihrem Kind bei ihrer Schwester in Leipzig lebt und noch nie gearbeitet oder sich beworben hat. Hier hat das Gericht entschieden, dass keine Hartz-Leistungen gezahlt werden müssen. Wir kennen aber viele Fälle von EU-Bürgern, die dem Arbeitsmarkt in Deutschland zur Verfügung stehen, sich bewerben und teilweise auch schon hier gearbeitet haben und denen Hartz-IV-Leistungen verweigert werden. Darüber hat das Gericht nicht entschieden und sie sind von dem Urteil daher auch nicht betroffen.
Warum wird dann dem Urteil in der Öffentlichkeit eine solche Bedeutung zugesprochen?
Die Leipziger Richter, die den Fall vorliegen hatten, haben natürlich ein begründetes Interesse daran, dass hierüber von einem europäischen Gericht entschieden wird. Das liegt auch daran, weil im hier einschlägigen SGB II nichts darüber enthalten ist, wie mit EU-Bürgern verfahren wird, die nicht mal arbeitssuchend sind.
Sind Sie über das Urteil enttäuscht?
Es hätte natürlich gute Argumente dafür gegeben, auch der Frau aus Rumänien Leistungen nach Hartz IV zuzusprechen, beispielsweise das Diskriminierungsverbot innerhalb der EU. Viele hätten sich auch gewünscht, dass das Gericht grundsätzlicher über die Frage entscheidet, welche Verbindung ein EU-Bürger zum deutschen Arbeitsmarkt in Deutschland haben muss, wenn er Leistungen nach Hartz IV bekommt. Das hat der EuGH nicht gemacht.
Mit einerEntscheidung des Sozialgerichts Köln wird der Druck auf Erwerbslose und ihre Angehörigen noch einmal erhöht
Der 19. Senat des Landessozialgerichts NRW fällte eine Entscheidung [1], die die Situation von Hartz IV-Empfängern noch einmal erheblich verschlechtertn kann. Es verpflichtet auch nahe Angehörige der Hartz IV-Bezieher, über deren Lebenssituation Angaben zu machen. Ein Zeugnisverweigerungsrecht wurde abgelehnt.
Ein Erwerbsloser aus Köln wollte vor Gericht mit einer Klage erreichen, dass das Jobcenter Köln zur Zahlung von Leistungen zum Lebensunterhalt verpflichtet wird. Die Behörde lehnte die Leistungen ab, weil der Kläger nicht hilfebedürftig sei. Das Einkommen seines Stiefvaters decke auch den Bedarf des Klägers. Im Klageverfahren hatte der Kläger geltend gemacht, keine Angaben zu den Einkommensverhältnissen seiner Mutter und seines Stiefvaters machen zu können.
Das Sozialgericht Köln wollte die Mutter und den Stiefvater als Zeugen vernehmen. Diese beriefen sich auf ihr Zeugnisverweigerungsrecht als Verwandte bzw. Ehegatten von Verwandten. Das Sozialgericht hatte festgestellt, dass weder die Mutter noch der Stiefvater ein Zeugnisverweigerungsrecht haben. Das Landessozialgericht hat diese Entscheidung nunmehr bestätigt.
Bedarfsgemeinschaften oft Zwangsgemeinschaften
Grundsätzlich sei jeder verpflichtet, vor Gericht als Zeuge auszusagen, es sei denn, das Gesetz räume ihm ausdrücklich ein Recht ein, die Aussage zu verweigern. Grundsätzlich hätten zwar in gerader Linie Verwandte und Verschwägerte ein Zeugnisverweigerungsrecht. Dies gelte jedoch nicht, wenn es um familiäre Vermögensangelegenheiten geht. Unter derartige familiäre Vermögensangelegenheiten falle auch die Frage, über welches Einkommen bzw. Vermögen Mitglieder einer Bedarfsgemeinschaft verfügen, wenn dieses ggfs. auf den „Hartz IV“- Anspruch anzurechnen sei. Das Landessozialgericht sprach in der Pressemitteilung von der hohen Relevanz der Entscheidung wegen der hohen Anzahl der familiären Bedarfsgemeinschaften.
Mit dieser Entscheidung wird der Druck auf Erwerbslose und ihre Angehörigen noch einmal erhöht. Besonders schwierig kann die Situation werden, wenn es Streit innerhalb der familiären Bedarfsgemeinschaft gibt und ein Familienmitglied die Aussage verweigert und so dazu beiträgt, dass keine Leistungen gezahlt werden.
Viele familiäre Bedarfsgemeinschaften sind eher Zwangsgemeinschaften, die gerade dadurch entstehen, dass Hartz IV-Beziehern der Auszug erschwert wird. Das gilt besonders für Hartz IV-Empfänger unter 25, die oft keine Möglichkeit haben, den elterlichen Haushalt zu verlassen. Doch nicht nur die familiären Bedarfs- respektive Zwangsgemeinschaften machen vielen Hartz
IV-Beziehern das Leben schwer.
Erwerbslose am Pranger
Auch Nachbarn bieten sich manchmal als Denunzianten an und monieren öffentlich, dass Erwerbslose angeblich nicht in ihren Wohnungen leben. Eine solche Denunziation kann wie ein öffentlicher Pranger wirken, wie sich in Oberhausen zeige. Dort wurde eine alleinerziehende Mutter und Hartz IV-Bezieherin von Nachbarn beschuldigt [2], nicht in ihrer Wohnung zu leben. Nachdem eine Denunziation beim zuständigen Jobcenter nicht sofort zu der von den Nachbarn erwarteten und geforderten Kündigung führte, munitionierten sie lokale Zeitungen mit ihren Denunziationen.
Das Amt verwies selber auf den Datenschutz und verweigerte Angaben zu der Angelegenheit. In den Presseartikeln wurde das eher als Beweis zu einem angeblichen Missbrauch von Hartz IV-Leistungen hingestellt, ohne dass sie dafür einen Beleg präsentierten. Der Fall macht deutlich, dass neben Institutionen wie dem Jobcenter Aktivbürger manchmal die Lebenssituation von Erwerbslosen erschweren. Initiativen der Erwerbslosen monieren [3] immer wieder, dass eine solche Denunziation von den Behörden geradezu gefördert wird, wenn diese Urheber geheim halten und so den Betroffenen die Möglichkeit erschweren, die Gründe zu erforschen.
Dabei verweisen sie auf einen Punkt, der auch beim Streik der GDL im Kern steht: Soilidarität. Prekäre Arbeitsbedingungen sind kein Problem nur der Betroffenen, sondern der gesamten Gesellschaft
Nicht nur der GDL-Streik in den letzten Tagen machte deutlich, dass es die Arbeiterbewegung allen Unkenrufen zum Trotz durchaus noch gibt und dass sie durchaus noch eine Macht haben kann. Die wütenden Reaktionen aus Politik und Medien auf den Ausstand des in der GDL organisierten Bahnpersonals zeigten deutlich, dass für viele das Streikrecht wohl eher ein Gegenstand für das Demokratiemuseum ist, der an Jahrestagen vorgezeigt werden kann.
Wenn es aber genutzt wird, wird gleich nach weiteren Reglementierungen gerufen. Zumindest in bescheidenen Maßen gibt es aber auch Gruppen und Einzelpersonen [1], die diejenigen unterstützen, die ihr Streikrecht gebrauchen [2]. Solche Unterstützung könnten bald auch andere Lohnabhängige nötig haben. Denn durch die mediale Präsenz der streikenden Lokführer, gingen der Aktionstag der Lehrbeauftragten [3] am vergangenen Freitag etwas unter.
Bundesweit waren in verschiedenen Städten nach Angaben der Organisatoren über 85.000 Wissenschaftler in prekären Beschäftigungsverhältnissen auf der Straße. Die Aktionen reichten von Kunstaktionen bis zu Kundgebungen und Belagerungen von Institutionen, die für die schlechte Bezahlung und Ausstallung verantwortlich sind.
Gegen Schuldenbremse und für mehr Demokratie
Zu den Forderungen der Lehrbeauftragten [4] gehören unter Anderen die Einrichtung von dauerhaften Beschäftigungsverhältnissen, die Anpassung der Stundensätze der Lehrbeauftragten an die Tarifentwicklung im öffentlichen Dienst und mehr Wahl- und Mitbestimmungsrechte für Lehrbeauftragte an den Hochschulen.
Damit wird deutlich, dass die Beschäftigten mit ihren Aktionen nicht nur das durch die Schuldenbremse zum Verfassungsrang erhobene wirtschaftsliberale Spardogma angreifen, sondern auch für mehr Demokratie am Arbeitsplatz eintreten.
Schon mit ihrem auch auf Transparenten formulierten Anspruch [5], die prekären Arbeitsverhältnisse öffentlich zu machen, durchbrechen die Beschäftigten ein lange Zeit unbeschriebenes Dogma, das vor allem im prekären Wissenschaftsbetrieb galt und eine Solidarisierung erschwerte. Fast alle wollten über ihr Einkommen nicht sprechen. Leben in prekären Arbeitsverhältnissen galt eher als Makel, der karriereschädigend war und deshalb wollte man darüber nicht reden.
Solidarität statt Konkurrenz
Mit dem Anspruch, diese Verhältnisse öffentlich zu machen, machen die Beschäftigten deutlich, dass es sich nicht um individuelle Schuld, sondern um ein gesellschaftliches Problem handelt. Nur auf dieser Grundlage kann eine Solidarität entstehen, die auch für einen erfolgreichen Arbeitskampf nötig ist. Ohne diese Solidarität kann eine solche Auseinandersetzung letztlich nicht erfolgreich sein.
Das gilt für den GDL-Streik ebenso wie für den Widerstand der Prekären. Daher ist auch so fatal, dass selbst manche erklärte Verteidiger des streikenden Bahnpersonals mit der belebenden Konkurrenz unter den Gewerkschaften, also liberal argumentieren und das Wort Solidarität möglichst vermeiden. So schrieb [6] der Leiter des Taz-Inlandsressorts Martin Reeh in seiner engagierten Verteidigung der Streikenden:
Denn erst wenn es auch in anderen Branchen Konkurrenz zu Monopolgewerkschaften gibt, werden die Arbeitnehmer mehr herausholen können. Konkurrenz tut gut. Das gilt in der Wirtschaft, das gilt genauso für Gewerkschaften.
Damit wird aber ein alter Erfahrungsgrundsatz der Arbeiterbewegung konterkariert. Nicht Konkurrenz, sondern Solidarität brachte ihnen bisher Erfolge. Das spricht nicht gegen den GDL-Streik sondern für eine Unterstützung auf den Grundsatz der Solidarität, statt ein Rekurrieren auf der Konkurrenz, mit der auch viele Wirtschaftsliberale Spartengewerkschaften unterstützen, die in der Regel eben nicht dem Grundsatz der Solidarität verpflichtet sind.
Auch bei der GDL wird die weitere Entwicklung zeigen, ob sie sich zu einer kämpferischen Gewerkschaft entwickelt, die konsequent alle ihre Mitglieder vertritt, oder ob ihr kämpferischer Auftritt nur die Ouvertüre für die Interessenvertretung derjenigen ist, die mehr Einfluss und Macht im Produktionsprozess haben. Hier liegt auch ein Grund, warum über den Aktionstag der Lehrbeauftragen in der Öffentlichkeit viel weniger berichtet wird als über den GDL-Streik.
Die prekären Wissenschaftler haben diese Produzentenmacht oft nicht. Das kann sich ändern, wie der Aktionstag und die große Resonanz unter den Betroffenen zeigt. Dazu war ein Vorlauf nötig. Schon länger organisieren sich prekäre Wissenschaftler im Internet [7]. Sie verfassten Offene Briefe und Petitionen [8].
Die Beschäftigen kündigten nach dem Aktionstag an, dass ihr Widerstand im Sinne besserer Arbeitsbedingungen und mehr Demokratie am Arbeitsplatz weitergehen wird. Dazu müsste es allerdings auch Solidaritätsstrukturen geben, die über die Beschäftigten hinaus gehen. Schließlich sind prekäre Arbeitsbedingungen kein Problem nur der Betroffenen, sondern der gesamten Gesellschaft.
Wenn sich am kommenden Wochenende in Frankfurt/Main Gruppen und Einzelpersonen treffen, die mit Arbeitskämpfen solidarisch sind [9], wird es um diese Frage gehen.
In Deutschland wehrt sich ein Bündnis öffentlichkeitswirksam gegen Verschärfungen bei der Sterbehilfe, Michael Schmidt-Salomon über Sterbehilfe
Die Todesstrafe ist in Belgien schon lange abgeschafft. Doch manche Langzeitstrafgefangene scheinen den Tod einer langen Gefängnisstrafe vorzuziehen. 15 Strafgefangene haben in Belgien einen Antrag gestellt, unter fachkundiger Begleitung in einem Krankenhaus ihr Leben beenden zu können.
Den Anfang machte Frank Van den Belegen. Der wegen Vergewaltigung und Mord zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilte Mann hat juristisch dafür gekämpft, sterben zu dürfen. Jetzt hatte er Erfolg[1]. Zu den Kritikern dieser Entscheidung zählte auch die Angehörigen der von Van den Belegen ermordeten Frau, die fordern, er solle bis zum Lebensende hinter Gittern verbringen und könnte sich daher nicht einfach zum Sterben entschließen.
Es gibt ein Leben vor dem Tod
Andere Kritiker der liberalen Sterbehilferegelung sehen sich durch die starke Häufung des Sterbewunsches bei Langzeithäftlingen in ihrer Auffassung bestätigt, dass es für unerträglich gehaltene Lebensumstände sind, die bei vielen Menschen den Wunsch zum Sterben beflügeln. Dass müssen durchaus nicht nur Gefängnisse sein. Auch eine schlechte soziale Lage, Altersarmut, das Gefühl überflüssig zu sein, kann den Sterbewunsch befördern.
Das Bündnis „Mein Ende gehört mir“[2] wendet sich gegen eine weitere Verschärfung des Sterbewunsches und setzt dabei auf Werbung, über die man spricht. So finden sich seit einigen Wochen in vielen deutschen Großstädten nicht nur an den Litfaßsäulen, sondern auch auf große Reklametafeln, die auf LKWs montiert waren, Poster mit der Aufschrift „Mein Ende gehört mir“. Daneben haben sich zahlreiche Prominente fotografieren lassen.
„So wie es ein Recht auf Erste Hilfe gibt, sollte es auch ein Recht auf Letzte Hilfe geben“
Michael Schmidt-Salomon[3] ist Vorstandsmitglied der Giordano Bruno Stiftung[4], die die Kampagne „Mein Ende gehört mir“ seit langem unterstützt.
Unter dem Motto „Mein Ende gehört mir“ haben Sie eine öffentliche Plakatkampagne gestartet. Was ist das Ziel?
Michael Schmidt-Salomon: Wir wollen verhindern, dass die Selbstbestimmungsrechte der Patientinnen und Patienten am Lebensende eingeschränkt werden. Denn bislang sind ärztliche Freitodbegleitungen in Deutschland strafrechtlich nicht verboten. Ein solches Verbot einzuführen, ist Ausdruck eines illiberalen Denkens, das schwerstleistenden Menschen die Chance raubt, ihr Leben so zu beenden, wie sie es wünschen.
Wir sind überzeugt: So wie es ein Recht auf Erste Hilfe gibt, das dafür sorgt, dass unser Leben im Notfall gerettet wird, sollte es auch ein Recht auf Letzte Hilfe geben, das garantiert, dass wir unser Leben in Würde beschließen können. Die Umsetzung eines solchen Rechts verlangt nicht nur eine Verbesserung der palliativmedizinischen Versorgung, sondern auch die Möglichkeit, mit Unterstützung eines Arztes eigenverantwortlich aus dem Leben zu scheiden, wenn das Leiden unerträglich wird.
Sollten Ärzte nicht Leben erhalten, statt beim Sterben zu helfen?
Michael Schmidt-Salomon: Ärzte sollten sich dem Patientenwillen verpflichtet fühlen – nicht einem religiösen, medizintechnokratischen oder von ökonomischen Interessen gespeisten Dogma der unbedingten Lebensverlängerung. In der Regel gehen Patienten zum Arzt, weil sie möglichst lange und möglichst gut weiterleben wollen. Doch es gibt Bedingungen, unter denen selbst die beste Palliativmedizin nicht verhindern kann, dass das Leben zu einer Qual wird. Ein guter Arzt sollte den Sterbewunsch seiner freiverantwortlich handelnden Patienten ebenso respektieren wie deren Willen zum Leben.
Was aber ist, wenn der Patient nicht freiverantwortlich entscheidet, wenn sein Sterbewunsch auf eine psychische Störung zurückzuführen ist?
Michael Schmidt-Salomon: In einem solchen Fall wäre eine Freitodbegleitung schon unter geltendem Recht unzulässig. Ein schwerstdepressiver Mensch braucht keine Hilfe zum Sterben, sondern Hilfe zum Leben. Allerdings ist diese Hilfe sehr viel leichter möglich, wenn ärztliche Freitodbegleitungen akzeptiert werden.
Warum?
Michael Schmidt-Salomon: Weil man mit Sterbewilligen nur dann ein offenes Gespräch führen kann, wenn der Suizid nicht prinzipiell verpönt ist. Wir sollten hier von Erfahrungen auf anderen Gebieten lernen. Rigorose Forderungen wie „Keine Drogen!“, „Kein Sex unter Teenagern!“, „Keine Abtreibung!“, „Keine Suizide!“ sind kontraproduktiv. Sie führen im Ergebnis zu mehr Drogentoten, mehr Teenager-Schwangerschaften, mehr Schwangerschaftsabbrüchen und auch zu mehr Verzweiflungssuiziden.
Sie kritisieren in Ihrem Aufruf konservative Politiker, die die Möglichkeit zur Sterbehilfe einschränken wollen. Aber es gibt auch Stimmen aus der Linken, die vor der Aufweichung der Sterbehilfe warnen. Wie reagieren sie darauf?
Michael Schmidt-Salomon: Leider gibt es auch unter Linken einige Menschen, die den Nazivergleichen reaktionärer Sterbehilfegegner wie Robert Spaemann auf den Leim gehen. Deshalb zur Klarstellung: Im Nationalsozialismus ging es niemals um „Euthanasie“, den „guten, schönen Tod“, sondern um systematischen Massenmord an behinderten und psychisch kranken Menschen! Wer den vernebelnden Sprachgebrauch der Nazis übernimmt, bagatellisiert damit den Massenmord und verhöhnt die Opfer! Zudem belegen zahlreiche Studien, dass nicht die Gewährung, sondern die Verhinderung der ärztlichen Suizidassistenz die Gefahr erhöht, dass Patienten ohne deren Verlangen getötet werden. Tatsächlich ist nirgends die Gefahr größer, fremdbestimmt sterben zu müssen, als dort, wo Menschen nicht selbstbestimmt sterben dürfen.
Das „Geschäft mit der Leidensverlängerung“ ist sehr viel lukrativer als das „Geschäft mit dem Tod“!
Sterbehilfe ist vor allem Lebenshilfe
Aber könnte bei einer vereinfachten Sterbehilfe nicht gerade auf einkommensschwache Menschen der Druck wachsen, durch Sterbehilfe dazu beigetragen, dass sie nicht weiter die öffentlichen Haushalte belasten?
Michael Schmidt-Salomon: Das wird oft behauptet, die langjährigen Erfahrungen im US-Bundesstaat Oregon, in der Schweiz und den Beneluxländern zeigen aber, dass es einen derartigen Effekt nirgends gegeben hat. Sollte es jemals zu solchen Folgen kommen, müssten wir natürlich entschieden gegenlenken. Gegenwärtig aber zielt der ökonomische Druck exakt in die umgekehrte Richtung, denn das „Geschäft mit der Leidensverlängerung“ ist sehr viel lukrativer als das „Geschäft mit dem Tod“!
In dem Buch „Letzte Hilfe“, das ich mit dem Berliner Sterbehelfer Uwe-Christian Arnold geschrieben habe, berichten wir unter anderem von dem Fall einer Patientin, die gegen ihren Willen fünf Jahre lang im Wachkoma gehalten wurde. Das brachte allein dem Pflegeheim einen zusätzlichen Umsatz von 200.000 Euro. Wenn man nachforscht, warum einige Gruppen heute so massiv gegen Selbstbestimmungsrechte am Lebensende eintreten, stößt man nicht nur auf religiöse Motive wie die Vorstellung, der Mensch dürfe über sein „von Gott geschenktes Leben“ nicht verfügen, sondern auch auf handfeste ökonomische Interessen. „Leidensverlängerung“ ist heute ein Multi-Milliardengeschäft, das sich keiner der Profiteure verderben lassen möchte. Wir hoffen, dass unser Buch dazu beitragen kann, dass die wahren Hintergründe der Debatte nicht weiter verschwiegen werden.
Wäre es nicht sinnvoller, die Welt so zu gestalten, dass sie für alle Menschen lebenswert ist, als die Sterbehilfe zu vereinfachen?
Michael Schmidt-Salomon: Natürlich sollten wir alles dafür tun, dass Menschen ihre Existenz bis zum Schluss als lebenswert empfinden können. Doch selbst unter idealsten gesellschaftlichen Bedingungen, von denen wir bekanntlich weit entfernt sind, wären wir nicht in der Lage, jeder Person einen würdevollen natürlichen Tod zu ermöglichen. Hospizdienste und Palliativmediziner können vielen Patienten helfen, aber längst nicht allen. Dies gilt insbesondere für Patienten, die gar nicht befürchten, in absehbarer Zeit sterben zu müssen, sondern auf unabsehbare Zeit unter für sie unwürdigen Bedingungen weiterleben zu müssen. Es wäre zutiefst inhuman, Menschen, die aufgrund einer schweren Form von MS oder ALS unbedingt sterben wollen, in ihrer Not allein zu lassen.
Dennoch: Würden nicht viele Schwerkranke durchaus weiterleben wollen, wenn die Pflege und Betreuung besser wäre? Müsste darauf nicht das Augenmerk liegen?
Michael Schmidt-Salomon: Genau darum geht es ja! Es ist beileibe kein Zufall, dass ausgerechnet die Länder, die Freitodbegleitungen ermöglichen, über die beste palliativmedizinische Versorgung der Welt verfügen. Zudem sollte man die positiven Effekte nicht übersehen, die mit der Möglichkeit der ärztlichen Freitodbegleitung einhergehen. Denn die Gewissheit, im Notfall mit Unterstützung des Arztes das eigene Leid beenden zu können, führt zu einer deutlichen Verbesserung der Lebensqualität – auch wenn viele Patienten diese Hilfe am Ende gar nicht in Anspruch nehmen. Wer sich intensiver mit dem Thema beschäftigt, der erkennt schnell, dass Sterbehilfe vor allem Lebenshilfe ist.
Wie beurteilen Sie Sterbehilfe-Projekte, wie sie von dem ehemaligen konservativen Politiker Roger Kusch vorangetrieben wurden?
Michael Schmidt-Salomon: Die Idee, den Zeitpunkt einer Freitodbegleitung von der Höhe der Spende abhängig zu machen, konnte wohl nur einem ehemaligen CDU-Rechtsaußen wie Kusch kommen.
Sollte man dem mit Verbotsgesetzen begegnen?
Michael Schmidt-Salomon: Nein! Ginge es den Politikern wirklich darum, das „Geschäft mit dem Tod“ zu unterbinden, würden sie kein Verbot der Freitodbegleitungen erwägen, sondern dafür sorgen, dass sie als ärztliche Aufgabe anerkannt und vergütet werden. Damit wäre die Gefahr eines „Geschäftsmodells Sterbehilfe“ gebannt, da kein Mensch Geld für eine Hilfeleistung ausgeben würde, die er von seinem Arzt ohne Zusatzkosten erhält.
Sollte es hingegen zu einem Verbot der Suizidbeihilfe kommen, würden sich begüterte Menschen ihren Sterbewunsch weiterhin verdeckt in Deutschland oder legal in der Schweiz erfüllen können. Die aktuellen Verbotsbestrebungen missachten somit nicht nur die individuellen Selbstbestimmungsrechte, sondern auch das Prinzip der sozialen Gerechtigkeit. Wir sollten unbedingt verhindern, dass die Höhe des Kontostands darüber entscheidet, ob ein Mensch selbstbestimmt sterben kann oder nicht.
Das Bündnis „Freiheit statt Angst“ weist auf die Totalüberwachung von Flüchtlingen hin
Am 26. Oktober 2004 wurde Frontex [1] aus der Taufe gehoben. Die Organisation mit Sitz in Warschau soll die Außengrenzen der Festung Europa vor Flüchtlingen schützen. Knapp 200 Menschen erinnerten am vergangenen Samstag mit einer Kundgebung an dieses Datum. „10 Jahre Frontex – kein Grund zum Feiern“ [2], lautete das Motto. Aufgerufen hatte das Bündnis „Freiheit statt Angst“ [3], das in den letzten Jahren schwerpunktmäßig zum Thema Überwachung gearbeitet hat.
Gläserne Migranten
Das Bündnis erinnerte daran, dass Frontex Teil einer europäischen Sicherheitsstruktur ist, die für die lückenlose Überwachung von Geflüchteten auf verschiedenen Ebenen steht. So gibt es Dateien, in denen die Fingerabdrücke [4] von Menschen gespeichert sind, die die Grenzen passieren. In einer anderen Datei sind alle Menschen gespeichert, denen vorgeworfen wird, sich ohne gültige Papiere im EU-Raum aufgehalten zu haben. Auch Menschen, die Gäste aus dem globalen Süden einladen [5], sind in einer eigenen Datei gespeichert, was schon lange auf Kritik [6] stößt.
Wie die gesammelten Daten zur Repression der Geflüchteten bis hin zur Abschiebung genutzt werden, wurde in den letzten Wochen in Berlin und an anderen Städten immer wieder deutlich. An der Kundgebung beteiligte sich auch eine Gruppe Geflüchteter, die ihre Unterkünfte in Berlin verlassen müssen und nicht wissen, wo sie unterkommen sollen. Sie hatten zuvor bereits eine Demonstration vom Oranienplatz, der lange Zeit das Zentrum des Flüchtlingswiderstands war, zur Schule in der Ohlauer Straße gemacht, wo die dort lebenden Flüchtlinge erneut zur Räumung aufgefordert worden sind.
Anders als noch im Sommer ist die Zahl der Unterstützer geschrumpft, die sich direkt vor der Schule mit den Geflüchteten solidarisieren. Doch auf anderer Ebene wächst die Unterstützung für die Menschen. So hat in einer Gemeinsamen Stellungnahme [7] neben Flüchtlingsorganisationen auch Berliner Kultureinrichtung den Berliner Senat aufgefordert, die mit den Flüchtlingen am Oranienplatz geschlossenen Vereinbarungen einzuhalten. Auch die Kundgebung der Überwachungsgegner kann als Ausweitung der Unterstützer gewertet werden. Sie haben damit deutlich gemacht, dass es Menschen gibt, die heute schon besonders von ständiger Ausforschung betroffen sind. Geflüchtete gehören dazu.
Anders als in Deutschland werden die Angriffe auf die Rechte der Beschäftigten auch von den Gewerkschaften nicht widerstandslos hingenommen
In Deutschland wird ein Streik, der auch in der Öffentlichkeit spürbar ist, noch immer in die Nähe von Aufruhr und Revolution gebracht und in der veröffentlichten Meinung bekämpft. Dieses Erbe der deutschen Volksgemeinschaft war erst wieder beim Streik der Lokführer zu beobachten. In Italien hingegen ist ein ausgeübter Arbeitskampf und nicht nur ein Streikrecht in der Verfassung Bestandteil der Demokratie.
Am Freitag haben Gewerkschaften mit einem Generalstreik große Teile des öffentlichen Lebens zum Stehen gebracht. Besonders die Basisgewerkschaft SI Cobas[1] war dabei sehr aktiv. In Rom kam es zu einer Demonstration gegen Pläne zur Privatisierung von Nahverkehrsgesellschaften. Betroffen waren Busse, Straßenbahnen und U-Bahnen. Vor allem in den Metropolen Rom und Mailand, in denen viele Menschen wegen des Streiks auf das Privatauto angewiesen sind, kam es zu längeren Warteschlangen.
Die Arbeitsniederlegungen waren der Beginn einer längeren Auseinsetzung gegen eine zentrale Arbeitsmarktreform der Regierung Renzi. Am 25. Oktober gab es die erste landesweite Großdemonstration gegen diese Reform, mit der der italienische Ministerpräsident ganz bewusst an die Agenda 2010 des SPD-Bundeskanzlers Schröder anzuknüpfen versucht. Dagegen richtet sich der Widerstand von Gewerkschaften, einigen linken Parteien und der außerparlamentarischer Linken. Es stellt sich hiermit auch die Frage, ob sich in Italien eine Politik der Agenda 2010, die den Preis der Ware Arbeitskraft zulasten der Lohnabhängigen reduzieren soll, in Italien realisieren lässt oder ob es dort einem Bündnis aus Gewerkschaften und außerparlamentarischen Gruppen gelingt, diese Agenda-Politik zu verhindern.
In Deutschland gab es gegen die Agenda-Politik Widerstand von Erwerbslosen und von Teilen der Gewerkschaftsbasis. Die Gewerkschaftsführungen allerdings in die Agendapolitik einbezogen und in bestimmte Gremien kooptiert, die sie vorbereiteten. Damit wurde in Deutschland die Ausweitung der Proteste erfolgreich verhindert. Nun muss sich zeigen, ob die Basis in Italien noch kampffähig ist. Schließlich sind auch in Italien die Zeiten lange vorbei, wo es den Gewerkschaften real gelang, eine Gegenmacht auszuüben.
Streitpunkt Kündigungsschutz
Vor allem die Renten- und Arbeitsmarkt-Reform treibt die Menschen auf die Straße. Genau in der Frage ist der rechte Sozialdemokrat angetreten, die einst erkämpften Sozialstandards zu überwinden. Er sah sich selber in der Tradition eines Gerhard Schröder und seiner Agenda 2010. Dafür wurde von der Konservativen aller Parteien mit Vorschusslorbeeren bedacht. Renzi sollte die Reste des Sozialstaats in Italien schleifen und das Land an den von der deutschen Agenda 2010 vorgegebenen EU-Standard anpassen. Die konservative Badische Zeitung brachte mit aller Klarheit zum Ausdruck, was von Renzi erwartet[2] wird:
Viele Italiener lasten es nicht dem Ministerpräsidenten an, dass er nur häppchenweise Reformen voranbringt. Schuld daran, dass der unerträgliche Status quo in Italien nur ganz langsam verändert wird, seien Mächte, die Italien seit Jahrzehnten im Griff haben und Renzi das Leben schwer machten: ein verknorpeltes und auf Privilegien ausgerichtetes System politischen Schmarotzertums, eine linke Elite, die sich allen notwendigen Änderungen auf dem Weg zu einem modernen und wettbewerbsfähigen Staatswesen entgegen stelle sowie die Gewerkschaften.
Was die Konservativen aller Länder erträumen, versucht Renzi umzusetzen, der deswegen auch in großen Teilen der veröffentlichten Meinung Europas als Reformer verkauft wird. Dazu muss man wissen, dass dieser Begriff längst die Seiten gewechselt hat. Galten zu Zeiten des Fordismus Sozialdemokraten als Reformer, die die Arbeitszeit verkürzen und die Arbeitswelt humaner gestalten wollten, wird die Bezeichnung seit mindestens 2 Jahrzehnten für Menschen gebraucht, die die Gesellschaft nach den Verwertungsinteressen des Kapitals gestalten. Arbeitszeitverlängerung, weniger Rechte für die Gewerkschaften und Beschäftigten gehören dazu. In diesem Sinne versucht sich Renzi als Reformer und hat in Teilen der Gewerkschaften und dem linken Flügel in den eigenen Reihen der Demokratischen Partei (PD) seine Hauptgegner.
Aktuell ist der Job Act der Hauptstreitpunkt. Wie die Agenda 2010 in Deutschland wird er in soziale Rhetorik verpackt. So wird die Schaffung einer allgemeinen Arbeitslosensicherung ebenso vor wie die Abschaffung vieler prekärer Vertragsformen, beginnend bei zeitlich befristeten Honorarverträgen versprochen. Eine nationale Arbeitsagentur soll ins Leben gerufen werden, um die Voraussetzungen für aktive Arbeitsmarktpolitik zu schaffen.
Doch der Kernpunkt des Job Act ist die Schwächung des Kündigungsschutzes, der in Italien sehr rigide war, was der starken Stellung der Gewerkschaften in den 70er Jahren geschuldet ist. Jetzt sollen bei betriebsbedingten Kündigungen zum Beispiel wegen schlechter Wirtschaftslage die Rechte der Lohnabhängigen auf Kündigungsschutzklagen abgeschafft werden; stattdessen sollen sie generell bloß eine Abfindung erhalten. Damit würden entgegen der Rhetorik die prekären Beschäftigungsverhältnisse weiterwachsen.
Widerstand der Prekären
Schon heute leben viele gut ausgebildete junge Italiener in Deutschland, in der Hoffnung, dass sie dort besser überleben können. Aber die Enttäuschung ist groß, weil sie oft die Erfahrung machen müssen, dass der Lohn genau so gering ist wie ihre Rechte.
Einige der jungen Italiener, die sich in den letzten Jahren in der Bewegung gegen die prekäre Arbeits- und Lebensbedingungen engagiert haben, tragen diese Diskussion. In Berlin regten sie die Debatte über einen sozialen Streik[3] an, über den in Italien schon länger diskutiert wurde. Mitte September hatten italienische Aktivisten[4] zu einem europaweiten Kongress nach Rom eingeladen, um das Konzept eines Streiks der Prekären[5] bekannt zu machen.
Hier zeigt sich, dass die verschiedenen Suchbewegungen von Prekären, sich zu organisieren, beispielsweise die Euromaydaybewegung[6] vor einigen Jahren (Prekarisierte aller Länder[7]), trotz aller Rückschläge nicht vergeblich war. Dass nun Prekäre aus Italien die Debatte in Deutschland mit beleben, weckt historische Reminiszenzen. In den 60er Jahren trafen oft gewerkschaftlich gut organisierte italienische Migranten in Deutschland auf eine Arbeiterschaft, die noch in volksgemeinschaftlichen Denken verhaftet war, eine Begegnung, die nicht immer konfliktfrei verlief. Über 60 Jahre später könnte sich diese Konstellation wiederholen. Italienische Beschäftigte hatten historisch erlebt, dass eine gute gewerkschaftliche Organisierung ihnen Erfolge bringt, die aber schnell verloren werden können. Ende der 70er Jahre war der Kampf um die Scala Mobile ein großes innen- und sozialpolitisches Thema.
Die automatische Anpassung der Löhne an die Inflation wurde in der Nachkriegszeit durchgesetzt, als kämpferische Gewerkschaften und ihnen nahestehende Parteien eine starke Stellung hatten. Auf Druck der Weltbank wurde diese Lohnanpassung gegen heftigen Widerstand der starken reformistischen Gewerkschaften[8], aber auch einer militanten Fabrikguerilla[9], die es in jenen Jahren in Italien gab, zurückgenommen.
Auch bei der Organisierung migrantischer Beschäftigter ist Italien weiter. Bereits am 1. März 2010 organisierten sie dort den ersten eigenständigen Streik[10] unter dem Motto „24 Stunden ohne uns“[11]. In der italienischen Logistikbranche kämpfen oft migrantische Beschäftigte seit Jahren für einen Tarifvertrag[12]. Mittlerweile werden ihre Forderungen auch international unterstützt, indem vor IKEA-Filialen protestiert wurde, weil der Konzern sich besonders ablehnend zu den Forderungen der Beschäftigten in Italien zeigt.
Ob der Kampf gegen den Kündigungsschutz in der nächsten Zeit in Italien ein Kristallisationspunkt werden könnte, bei dem traditionelle Gewerkschaften und die Bewegung der jungen Prekären kooperieren, wird sich zeigen. Schon jetzt aber wird deutlich, die italienische Variante der Agenda 2010 wird dort nicht so geräuschlos umgesetzt werden können wie in Deutschland.
Die Schadenersatzklage des schwedischen Konzerns Vattenfall vor dem Hintergrund deutscher Interessen
4,7 Milliarden Schadenersatz fordert Vattenfall von der Bundesrepublik, weil sich der Konzern durch den vorzeitigen Atomausstieg in seine Gewinnerwartungen beschränkt sieht. Dieser Schritt sorgt seit Langem auch in der linksliberalen Presse für Empörung. Nun hatten manche erwartet und erhofft, dass der Regierungswechsel in Schweden hier Veränderungen bringt.
Schließlich wurde eine konservativ-liberale Regierung, die auf den Ausbau der Atomkraft gesetzt hat, durch ein Bündnis von Sozialdemokraten und Grünen abgelöst, die als AKW-kritisch gelten. Doch schnell stellte sich wieder einmal heraus, dass auch AKW-Kritiker an der Regierung nicht die Macht haben, den Energiekonzernen Vorschriften zu machen. Auch eine rot-grüne Regierung wird Vattenfall weiterhin bei der Klage unterstützen.
Schwedische Grüne für Vattenfall nicht zuständig
Nach Informationen der Taz wurde dem grünen Energieminister vom sozialdemokratischen Premierminister Ibrahim Baylan die Zuständigkeit für Vattenfall entzogen und auf den industriefreundlichen sozialdemokratischen Wirtschaftsminister Damberg übertragen.
Der neue schwedische Premierminister Stefan Löfven von den Sozialdemokraten entschied am vergangenen Donnerstag, dass die Zuständigkeit für Vattenfall vom – grünen – Energieminister Ibrahim Baylan federführend an den sozialdemokratischen Wirtschaftsminister Damberg übergehen solle. Damit dürfte der Einfluss der Grünen auf den gesamten künftigen Vattenfall-Kurs entscheidend sinken. Ein solches Vorgehen ist nicht ungewöhnlich und auch in Deutschland bekannt.
Grüne Minister werden in eine Regierung kooptiert, um möglichen Widerstand von Umweltschützern zu neutralisieren, bekommen aber erst gar keine Zuständigkeit zu Politbereichen, in denen sie ökologisch bedenkliche Entwicklungen auch nur verzögern könnten, wenn davon Kapitalerwartungen tangiert sein könnten.
Dabei kann man ja aus den bisherigen Erfahrungen grüner Regierungsbeteiligungen ohne weiteres davon ausgehen, dass auch die schwedischen Ökopolitiker Vattenfall gar nicht ernsthaft Grenzen setzen wollen. Aber allein die Möglichkeit, dass sie weitere Gutachten anfordern und damit Unruhe im Konzernvorstand auslösen könnten, soll durch den Ressortzuschnitte verhindert werden.
Widerstand gegen TTIP wächst
Die Schadenersatzklage des schwedischen Konzerns findet auch deshalb momentan so viel Beachtung, weil sie in eine Zeit fällt, in der das Transatlantische Freihandelsabkommen zwischen den USA und den EU für viel Aufregung sorgt. Erst am vergangenen Wochenende brachte ein internationaler Aktionstag gegen dieses Abkommen in vielen Städten Europas und der USA Menschen auf die Straße.
Lange Zeit wurde der Widerstand gegen diese Verträge vor allem als Abwehr gegenüber vermeintlich undemokratischen Zumutungen von Seiten der USA interpretiert. Besonders im Kulturbereich waren schon mal Töne zu hören, die eine Überlegenheit der europäischen Kultur gegenüber den USA deutlich machten.
Inzwischen wird stärker wahrgenommen, dass diese Abkommen Konsequenzen der kapitalistischen Entwicklungen sind und dass es Politiker in allen Ländern waren und sind, die die Weichen dafür stellten, dass die Interessen dieses Kapitals eine solche Bedeutung bekommen haben. Der Publizist Hannes Hofbauer spricht in seinen neuesten Buch Die Diktatur des Kapitals von einem politisch gewollten und vorangetriebenen Demokratieabbau.
Deutschland war Vorreiter bei Investitionsschutzabkommen
In dem Buch wird auch aufgezeigt, wie mit Investitionsschutzgesetzen ein Sonderrecht für Konzerne vorangetrieben wurde. Sie breiteten sich nicht zufällig in einer Zeit aus, in der weltweit Rechte des Kapitals einen immer höheren Stellenwert bekamen.
Anfang der 1990er-Jahre gab es nur etwa zehn bekannte Fälle, 2012 zählte die Handels- und Entwicklungsorganisation UNCTAD 514 laufende Verfahren, 2013 sind nochmals 58 neu dazugekommen. Doch die Dunkelziffer ist höher.
Während beim Internationalen Zentrum für die Beilegung von Investitionsstreitigkeiten (ICSID) wenigstens noch grob über die Fälle unterrichtet wird, finden viele Verfahren ohne Wissen der Öffentlichkeit statt, weil andere Schiedsorte vereinbart wurden, über die wiederum Stillschweigen herrscht. Deutschland gehörte zu den Ländern, die diese Entwicklung schon früh vorantrieben und davon profitierten.
Bereits 1959 hatte die BRD das weltweit erste Investitionsschutzabkommen mit Pakistan geschlossen. Die BRD war damals aus historischen Gründen militärpolitisch eingeschränkt und wollte auf diese Weise die Sicherung ihrer Kapitalinteressen weltweit sichern. Inzwischen hat Deutschland 140 solcher Abkommen oft mit Ländern des globalen Südens geschlossen.
In der Regel sorgen die Abkommen in Deutschland kaum für Diskussionen. Dagegen ist die Empörung natürlich groß, wenn Vattenfall ebenfalls auf gleichem Wege seine Interessen durchsetzen will. Eine Bewegung gegen das TTIP, die sich nicht für deutsche Standortinteressen einspannen lassen will, müsste aber diese Abkommen insgesamt infrage stellen, auch dann, wenn deutsche Konzerne davon profitieren.
Auf dem Weg zu einer bundesweiten Gefangenengewerkschaft
Im Mai gründeten Gefangene in der JVA Tegel eine Gefangenengewerkschaft. Dies wurde sofort mit Repression und Einschüchterungsversuchen beantwortet. Dabei sind die zentralen Forderungen bisher Mindestlohn auch für Gefangene und Einbeziehung in die Rentenversicherung. In mehreren europäischen Ländern, wie Italien und Österreich, ist das längst Realität. In der Bundesrepublik dagegen sind die Gefangenen nur ein Teil eines ganzen Heeres von BilliglöhnerInnen. Die KapitalistInnen und die mit ihnen befreundeten PolitikerInnen werden nicht müde, den Untergang des Abendlands heraufzubeschwören, wenn diese Menschen wenigstens den Mindestlohn erhalten.
Herausforderung an die bestehenden Gewerkschaften
Die Gründung ist auch eine Herausforderung an die bestehenden Gewerkschaften. Dort sind Inhaftierte als Mitglieder bisher ausgeschlossen, da die Rechtsform ihrer Tätigkeit nicht ein klassisches Arbeitsverhältnis, sondern ein „öffentlich-rechtliches Beschäftigungsverhältnis eigener Art“ ist. Obwohl sie ihre Arbeitskraft zur Verfügung stellen, haben Inhaftierte kaum Möglichkeiten, ihre ohnehin eingeschränkten Rechte einzufordern. Darüber hinaus sind Gefangene deutscher Justizvollzugsanstalten gemäß Paragraph 41 des Strafvollzugsgesetzes bis zum Rentenalter verpflichtet, zu arbeiten. Ein Verstoß kann disziplinarisch, zum Beispiel mit dem Entzug von Vergünstigungen wie dem Fernseher in der Zelle, geahndet werden und führt zudem dazu, dass man die Gefangenen zur Zahlung von Haftkosten heranzieht. In manchen Gefängnissen wird ArbeitsverweigererInnen sogar nach 22 Uhr der Strom abgestellt.
2012 starteten in einigen Bundesländern Initiativen zur Abschaffung der Arbeitspflicht. Sie waren nur in drei Bundesländern erfolgreich. Der Sonderstatus der Arbeit in den Gefängnissen sorgt weiterhin dafür, dass die Inhaftierten von der Rentenversicherung ausgeschlossen sind. Ein Gesetz zur Einbeziehung der Gefangenen wurde 1976 im Parlament beschlossen, aber bis heute nicht umgesetzt. Der Rentenanspruch von Menschen, die mehrere Jahre in Haft waren, verringert sich drastisch. Nach acht bis zehn Jahren gibt es in der Regel kaum noch Hoffnung für ein Auskommen über Hartz-IV-Niveau. Vor allem bei der Entlassung älterer Menschen ist das ein immenses Problem. Wie der Gefangenenbeauftragte des Komitees für Grundrechte erklärte, erhält seine Organisation immer wieder Briefe von Gefangenen, die über schlechte Arbeitsbedingungen, miese Löhne und die fehlenden Rentenbeiträge klagen. Mit der Gefangenengewerkschaft würden sie sich eine Organisation schaffen, mit der sie selber für ihre Rechte kämpfen könnten.
Gefängnis als verlängerte Werkbank
Das wird besonders aktuell in einer Zeit, in der sich auch in Deutschland ein gefängnisindustrieller Komplex herausbildet. So wurde allein in Berlin im letzten Jahr mit Knastarbeit ein Umsatz von über 7 Millionen Euro gemacht. In anderen Bundesländern ist diese Entwicklung teilweise noch weiter fortgeschritten. In Hessen gibt es bereits eine teilprivatisierte Haftanstalt, die Kaffee verkauft. Der Knastshop „Santa Fu – kreative Zellen“ wirbt mit „heißen“ und „originellen“ Produkten und Geschenkideen „direkt aus Hamburgs Knast“. Der Justizvollzug Nordrhein-Westfalen bietet auf der Seite www.knastladen.de Produkte für Privatkunden, aber auch für die öffentliche Hand an. Der sächsische Online-Shop www.gitterladen.de sieht die Gefangenenarbeit „als verlängerte Werkbank des Handwerks und der Industrie“, um deren „Auftragsspitzen schnell und kompetent abfangen“ zu können.
Unterstützung von außen notwendig
Die GewerkschafterInnen im Knast hätten also durchaus auch die Macht, Forderungen durchzusetzen. Zumal sich mittlerweile in den Gefängnissen Berlin-Plötzensee, Willich und Aschaffenburg Vorbereitungskreise für eine Gefangenengewerkschaft gegründet haben. Eine solidarische Unterstützung von draußen wäre die beste Starthilfe, die wir der Gefangenengewerkschaft geben können.
In der beschaulichen Landhausstraße im Berliner Bezirk Wilmersdorf gab es in den letzten Wochen gleich zweimal mehrstündige Kundgebungen unter rot-schwarzen Fahnen. Die FAU Berlin protestierte damit gegen die Kündigung von acht Beschäftigten der Schwedischen Schule Berlin (SSB), die dort ihr Domizil hat. Die gesamte Belegschaft der Schule war am 28. Mai entlassen worden. Zuvor hatten sie in einem Offenen Brief gegen von der Schulleitung geplante Lohnkürzungen bei der Hortbetreuung protestiert. Es war nicht ihr erster Arbeitskampf. Bereits vor vier Jahren kämpfte die Belegschaft der Schule erfolgreich gegen schlechte Arbeitsbedingungen und hatte schnell Erfolg. Damals entstand auch die FAU-Gruppe an der Schule. Mehrere der schwedischen Beschäftigten waren zuvor schon in der Schwesterngewerkschaft SAC organisiert, die allerdings wesentlich größer als die FAU ist. Die SAC hat mittlerweile in Schweden eine Solidaritätskampagne mit den Berliner KollegInnen gestartet. „Es gab weder Arbeitsverträge noch LehrerInnenzimmer oder Arbeitsräume. Eine Stunde pro Woche arbeiteten wir unentgeltlich in der Schule und mussten uns auch darauf einstellen, bei Klassenfahrten und an vereinzelten Wochenenden unsere Arbeitskraft unbezahlt zur Verfügung zu stellen“, berichtete einer der langjährigen SAC-Aktiven, der wesentlich zum damaligen Erfolg der KollegInnen beigetragen hat. Die Kündigung scheint fast wie eine Revanche der Schulleitung. Die protestantische Kirche Schwedens, der die Berliner Schule untersteht, ist für die FAU sicher ein Wunschgegner. Doch die Kampagne in Berlin ist sehr bürgerInnenfreundlich angelegt. Während der Kundgebungen waren aus den Lautsprechern schwedische Kinderlieder zu hören, und auf Luftballons stand: „Komi gen, Lena“, was übersetzt „Komm schon, Lena“ bedeutet. Dieser freundliche Appell an die SSB-Geschäftsführerin Lena Brolin, die Kündigung wieder zurückzunehmen, zeigte bisher allerdings keine Wirkung. Alle Gesprächsangebote der FAU wurden bisher ignoriert, erklärt ein betroffener Erzieher gegenüber Jungle World. Auch gegenüber der Presse reagiert die Schulleitung ignorant und lässt alle Nachfragen unbeantwortet. Mittlerweile haben sich schon 13 Eltern mit den Beschäftigten solidarisiert und fordern deren Wiedereinstellung und eine Schlichtung in dem Konflikt. Wenn auch sie nicht gehört werden, dürfte es noch öfter Kundgebungen unter schwarz-roten Fahnen in Wilmersdorf geben, und die Appelle an Lena dürften nicht mehr so freundlich ausfallen.
Friedrich Merz will wieder in die aktive Politik eingreifen und seine Fans in der Union trommeln für eine Agenda 2020, während Washington vor einer selbstzerstörerischen deutschen Wirtschaftspolitik warnt
„Das Richtige tun. Für eine Agenda 2020“ , lautet [1] ein Brief von Unionsabgeordneten, der nicht nur in der Überschrift an jene Agenda 2010 anknüpft, mit der unter Bundeskanzler Gerhard Schröder der Weg für Leiharbeit und Niedriglohn erst in Deutschland und dann auch im gesamten EU-Raum freigemacht wurde. In dem Brief heißt es:
Die harten Jahre und die heftigen Auseinandersetzungen um den richtigen Weg sind uns allen noch vor Augen. Es muss uns alle Anstrengung wert sein, nicht wieder in solch eine Situation zu geraten. Doch anstatt sich zu den Erfolgen der Agenda 2010 zu bekennen, will die SPD sie nun in Teilen verschämt zurückdrehen. Wir müssen aber in einer Agenda 2020 das Richtige tun, damit es uns auch noch in vier, acht oder in zehn Jahren gut geht.
Dass die Agenda 2010 wesentlich mit dafür gesorgt hat, dass Niedriglohn, Hartz IV trotz Vollzeitarbeit und die damit verbundene Altersarmut mittlerweile in der vielzitierten Mitte der Gesellschaft angekommen ist, wird natürlich nicht erwähnt. Dass „Wir“ und „uns“ in dem Text so häufig verwendet werden, deutet darauf, dass die Kapitalseite durch die Durchsetzung der Agenda 2010 tatsächlich wesentlich bessere Verwertungsbedingungen bekommen hat.
Schließlich war das erklärte Ziel der Maßnahme, den Wert der Ware Arbeitskraft zu senken. In vielen Medien wurde gemutmaßt, dass sich der Brief nicht nur gegen die SPD richtet, der zu Unrecht nachgesagt wurde, sie wäre von der Agenda 2010-Politik abgerückt, sondern auch gegen den Flügel in der Union, der zu nachgiebig gegenüber sozialen Forderungen sei. Manche sahen den Brief sogar gegen die Merkel-Politik insgesamt gerichtet.
Doch Merkel ist bekanntlich flexibel. Sie hatte sich noch vor 10 Jahren als eine Art Deutschlandausgabe von Maggie Thatcher inszenieren lassen, die die letzten Reste des Sozialstaats schleift, die die SPD noch stehen gelassen hat. Erst als deutlich wurde, dass damit keine Wahlen zu gewinnen waren, schwenkte Merkel um.
Friedrich Merz [2] hatte diesen Schwenk nicht mitgemacht und sich damals aus der aktiven Bundespolitik zurück gezogen, um als hochdotierter Wirtschaftsanwalt zu arbeiten. Nun wird über ein mögliches Comeback geschrieben [3], so dass er die Interessen seiner Klientel auch in der Politik wieder offen vertreten kann.
Teile des Kapitals orientieren sich nach Rechts
Die FAZ benennt den politischen Kontext, in dem ein Merz wieder politisch aktiv werden könnte: Der Wirtschaftsflügel ist unzufrieden mit der Politik der großen Koalition (Stichworte: Rente ab 63, Mindestlohn) – und mithin auch der eigenen Parteispitze. Der frühere Vorsitzende des CDU-Wirtschaftsrates, Heinrich Weiss, liebäugelt gar mit Positionen der „Alternative für Deutschland“.
Tatsächlich hat der Aufsichtsratsvorsitzender der SMS-Group, Weiss [4], der in den 80er Jahren Vorsitzender des CDU-Wirtschaftsrates war, offen seine Unterstützung für die AfD erklärt [5], will aber vorerst nicht Mitglied werden. Er möchte den wirtschaftsliberalen Flügel in der AfD stärken, erklärte Weiss und sieht sich damit mit dem AfD- Mitglied Hans Olaf Henkel auf einer Wellenlänge. Auch mit den Familienkonservativen in der AfD, die gegen weitere Rechte für Schwule und Lesben agieren, hat der ehemalige Burschenschaftler Weiss keine Probleme.
Nur manche Rechtsausleger will er nicht in der Partei sehen, weil die deren Zukunft schaden. Weiss erklärt zudem: „Viele Unternehmer denken wie ich.“ Damit scheint er nicht ganz Unrecht zu haben. Der Firmengründer der Außenwerbungsfirma Wall ist sogar von der FDP in die AfD übergetreten, meldet [6] der Spiegel. Er bezeichnet die AfD als Partei des deutschen Mittelstands. Wall war in den letzten Jahren als eifriger Protagonist der Initiative Soziale Marktwirtschaft hervorgetreten [7]. Dieses Interesse für die AfD macht deutlich, dass auch heute Kapitalkreise eine ihnen zeitgemäße Rechte unterstützen, mit der sie vor allem dem Druck auf die Union erhöhen sollen, um Kapitalinteressen besser durchzusetzen.
Nach dem Ausfall der FDP könnte für manche Kapitalkreise die AfD dafür geeignet erscheinen. Der Zeitpunkt ist nicht ungünstig gewählt. Viel wird über eine mögliche neue Wirtschaftskrise gesprochen, die auch in Deutschland Auswirkungen [8] hat. Das könnte die Kapitalkreise animieren, nun erst einmal propagandistisch neue soziale Einschnitte für die Masse der Bevölkerung vorzubereiten.
Es gibt genügend historische Parallelen, wie eine Wirtschaftskrise mit der Angst vor neuer Massenarbeitslosigkeit von Kapitalkreisen für einen Angriff auf den Sozialstaat genutzt wurde. Wenn das Kapital nach rechts geht, unterstützt es auch politische Parteien, die eine solche Politik des sozialen Kahlschlags in Teilen der Bevölkerung hegemonial durchsetzen und Kritiker repressiv bekämpfen können.
Die Weltwirtschaftskrise, die mit dem Jahr 1929 begann, hat für Teile des deutschen Kapitals die NSDAP, die vorher eine von vielen völkischen Kleingruppen in der Weimarer Republik war, für Teile des Kapitals attraktiv gemacht. Auch damals betonte sie, dass bestimmte Flügel der Partei, die die nationalsozialistische Propaganda zu ernst nahmen, ausgeschaltet werden müssen, damit die Partei eine Zukunft hat. Nun kann die AfD heute nicht mit der NSDAP des Jahres 1929 gleichgesetzt werden. Es fällt aber auf, dass das Kapital bei der Suche nach autoritären Krisenlösungsmodellen und Angriffen auf den Sozialstaat die real existierenden Rechtsparteien als Bündnispartner ansieht.
Druck auf die SPD
Dabei wird die Auseinandersetzung für eine Politik der neuen sozialen Zumutungen auch innerhalb der Regierungskoalition ausgetragen. Selbst so harmlose Reförmchen wie eine Frauenquote für Dax-Unternehmen wird von der CSU-Politikerin Gerda Hasselfeldt zur Disposition gestellt [9].
Die Eintrübung der wirtschaftlichen Lage ist Anlass für uns darüber nachzudenken, ob alles was wünschenswert ist, sofort umgesetzt werden muss. Wir sollten deshalb kritisch prüfen, ob wir das, was wir im Koalitionsvertrag vereinbart haben, sofort machen müssen oder ob wir es später in der Wahlperiode angehen.
Damit ist natürlich auch weiterhin die konkrete Ausformulierung des Mindestlohns in der Debatte. Es geht zunächst einmal darum, die SPD unter Druck zu setzen, dass Reform weiterhin ein Begriff sein muss, vor dem die Subalternen Angst haben sollen und nicht etwa denken, er könnte Verbesserungen bringen. Die SPD als Agenda 2010-Partei wird sich da erfahrungsgemäß nicht lange unter Druck setzen lassen müssen, bis sie diese Position selber einnimmt.
Wenn das nicht schnell genug geht, könnte immer noch eine Koalitionskrise inszeniert werden, der Neuwahlen folgen, damit es der AfD ermöglicht wird, auch im Bundestag als Variante der rechten Krisenlösungsalternative aufzutreten.
„Die deutsche Wirtschaftspolitik ist gefährlicher und zerstörerischer als die jeder anderen Nation“
Demgegenüber stehen Kapitalkreise, die zumindest eine kurzfristige Krisenbehebung eher im Bündnis mit der SPD und den Gewerkschaften sehen. So setzten sich ausgerechnet die EZB und die Bundesbank für moderat steigende Löhne ein und forderten [10] die DGB-Gewerkschaften auf, sich im Interesse der Wirtschaft nicht weiter mit Lohnzurückhaltung zufrieden zu geben.
Auch in der durchaus wirtschaftsnahen internationalen Presse wird die von Deutschland maßgeblich forcierte Austeritäspolitik als „gefährlich und zerstörerisch“ [11] bezeichnet. So schreibt [12] die Washington Post:
Die deutsche Wirtschaftspolitik ist gefährlicher und zerstörerischer als die jeder anderen Nation. Das Land nutzt seine Dominanz in der Europäischen Union dazu, den kriselnden Staaten im Süden Austerität aufzuzwingen, und verurteilt dadurch mehr als 50 Prozent der jungen Leute in Spanien und Griechenland zur Arbeitslosigkeit. Die deutsche Politik hat den sozialen Zusammenhalt in den Mittelmeerländern erschüttert und dazu beigetragen, dass rechtsextreme Parteien wie der Front National in Frankreich und die Goldene Morgenröte in Griechenland erstarken. Die schlichtweg dumme Haushaltspolitik der Merkel-Regierung beginnt zudem, sogar der deutschen Wirtschaft zu schaden. Der weltweit erfolgreichsten Exportnation fehlt es an Nachbarn, die ihre Produkte noch kaufen könnten.
Wenn nun Teile des Kapitals diesen auch von Kapitalkreisen als zerstörerisch gesehenen Weg nicht nur fortsetzen sondern forcieren wollen, ist durchaus nicht nur aus sozialpolitischen Gründen Alarm angesagt. Auch am Ende der Weimarer Republik entschieden sich große Teile der Bevölkerung und der Kapitalverbände für eine solche zerstörerische Krisenlösungsstrategie.