Proteste sollen an Indymedia erinnern


Internationaler Aufruf zur Aktion am 25. August

Am 25. August 2017 verbot das Bundesinnenministerium die linke Internet-Plattform Indymedia-Linksunten. Zum Jahrestag dieser umstrittenen Maßnahme sollen nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen Ländern Menschen gegen das staatliche Verbot protestieren. »Solidarisch gegen Verbote – auf die Straße am 25. August«, heißt es in einem Aufruf, der in mehreren Sprachen in den sozialen Netzwerken verbreitet wird. Die Plattform sei zum ersten Ziel neuer staatlicher Härte gegen Linke nach den G20-Protesten im letzten Juni in Hamburg geworden, heißt es darin. Nach den Krawallen auf Hamburgs Straßen begannen Medien, Polizei und Politiker*innen eine Kampagne gegen die außerparlamentarische Linke. Dabei gerieten auch zahlreiche Projekte ins Visier, die mit den Ereignissen in Hamburg nichts zu tun hatten.

Indymedia Linksunten wurde nach dem Vereinsrecht verboten. Zurzeit laufen umfangreiche Ermittlungen wegen Mitgliedschaft und Unterstützung einer terroristischen Vereinigung nach Paragraf 129a gegen Freiburger Linke. Der internationale Solidaritätstag soll die Botschaft vermitteln, dass sie nicht alleine stehen. Doch darüber hinaus soll er ein Protest gegen Restriktionen im Internet sein. »Die Zensur von Indymedia linksunten ist ein weiterer besorgniserregender Schritt in Richtung weniger Freiheiten und mehr Kontrolle. Europaweit werden, wie zuletzt etwa in Frankreich, Netzwerkdurchsuchungs-, Polizei- und Zensurgesetze eingeführt oder verschärft«, heißt es im Aufruf. Als Beispiele werden die europaweiten Fahndungsaufrufe und die mittlerweile über 80 Polizeirazzien im In- und Ausland auf der Suche nach vermeintlichen Straftäter*innen der G20-Proteste in Hamburg aufgeführt.

Der Aufruf richtet sich aber nicht nur an die linke Szene. »Wir rufen solidarische Genoss*innen in Nah und Fern dazu auf, mit großen, kleinen, lauten und leisen Aktionen aufzuzeigen, dass Zensur, weitere freiheitsfeindliche Gesetzgebungen und Polizeimaßnahmen von uns weder geschluckt noch unbeantwortet bleiben werden«, heißt es da.
Während in den letzten Monaten zahlreiche Menschen gegen die Verschärfungen von Polizeigesetzen in verschiedenen Landeshauptstädten wie München und Düsseldorf auf die Straße gingen, blieben die Reaktionen auf das Verbot der linken Medienplattform bisher vergleichsweise überschaubar. Eine der größeren Demonstrationen fand mit knapp 700 Teilnehmer*innen wenige Wochen nach dem Verbot in Freiburg statt. Auch journalistische Interessenvertretungen wie die Deutsche Journalist*innenunion haben bisher zu dem Verbot der Plattform geschwiegen, was von einigen DJU-Mitgliedern in einem Offenen Brief scharf kritisiert wurde.

Mit dem Aktionstag wird auch an die Wurzeln von Indymedia erinnert. Die Internetplattform wurde 1999 auf dem Höhepunkt der globalisierungskritischen Bewegung gegründet und hatte Ableger in vielen Ländern auf allen Kontinenten. Das Projekt war von Anfang an massiver staatlicher Repression ausgesetzt. Berüchtigt war der Angriff schwerbewaffneter Polizeieinheiten auf Indymedia-Vertreter*innen beim G7-Gipel in Genua am 20. Juli 2001. Anschließend kam es in vielen Ländern zu Protesten. Daran gemessen, dürften die Proteste am 20. August bescheidener ausfallen. Doch für die Organisator*innen ist wichtig, dass sie nicht auf Deutschland beschränkt bleiben, weil das Projekt Indymedia von Anfang an einen transnationalen Charakter hatte.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1095962.proteste-sollen-an-indymedia-erinnern.html

Taras Salamaniuk, ukrainischer Sozialwissenschaftler, im Gespräch über Linke in der Ukraine

»Kommunistische Ideologie wird stärker kriminalisiert«

Der Ukrainer Taras Salamaniuk lebt in Berlin und ist Mitarbeiter am Weizenbaum-Institut für die vernetzte Gesellschaft. In der Ukraine war er in verschiedenen Gruppen der sogenannten »neuen Linken« aktiv. Für das Zentrum für Sozial- und Arbeitsforschung (CSLR) untersuchte er die Rolle der verschiedenen linken Gruppen in den Maidan- und Anti-Maidan-Protesten.

Über die Rolle rechter Gruppen bei den ukrainischen Maidan-Protesten wird viel gestritten. Wird sie überschätzt?
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Die Rechte und die Israelsolidarität

Warum der Kampf gegen den Antisemitismus davon befreit werden muss, als Legitimationsideologie eines Staates und dessen Regierung zu dienen

Es scheint einer jener periodisch auftretenden Flügelkämpfe der Restlinken, wenn nun mehrere linke Initiativen zum Boykott des Leipziger Kulturzentrums Conne Island[1] aufrufen. Da wird gleich von Querfront geredet und ein Rundumschlag gegen israelsolidarische Linke insgesamt gemacht. Der Grund der Kritik aber ist berechtigt und wird im Conne Island durchaus kontrovers diskutiert[2].

Das Zentrum hatte den selbsternannten Verteidiger des Abendlands Thomas Maul[3], der in der AfD die „einzige Stimme der Restvernunft“[4] sieht, die Möglichkeit gegeben, dort einen Vortrag zum moslemischen Antisemitismus und seinen angeblichen linken Verharmlosern zu halten. Ein Teil seiner Bündnispartner hatte Maul ausgeladen, nachdem ihnen sein Lob auf die AfD und seine permanenten Angriffe auf feministische Positionen bekannt geworden sind.

Nun war Maul schon lange, bevor es die AfD gab, durch eine mangelnde Abgrenzung zu einer rechten Islamkritik aufgefallen. Bei seiner Lesung im Rahmen der Linken Buchtage im Jahr 2010 in Berlin wurde im Publikum unwidersprochen der Hass auf den Islam propagiert[5].

Identitäre werben für Magazin der Ex-Antideutschen

Maul betonte hinterher, dass er mit keinen Wort selber zum Hass aufgerufen habe, distanzierte sich aber auch nicht von entsprechenden Äußerungen aus dem Publikum. Nun bleibt allerdings nach der Lektüre vieler von Mauls Texten offen, ob es sich bei seinen Beiträgen eher um Provokationen gegen das von ihm erkennbar nicht geschätzte aktuelle linke Milieu oder um ausformulierte rechte Positionen handelt. So kann man auch bei seinem AfD-Lob zwischen den Zeilen lesen, dass es ihm eher darum geht, die oft rituelle Empörung über die AfD anzuprangern.

Das zentrale Medium von Maul ist die Publikation Bahamas[6]. Vor zwei Jahrzehnten von einigen Ex-Maoisten gegründet hatte es einen gewissen Einfluss auf die Debatten in der frühen antideutschen Strömung. Heute bekennt sich kaum noch jemand in der Linken dazu, Bahamas zu lesen. Dafür hat die Zeitung neue Freunde gefunden. Martin Sellner von der rechten Identitären Bewegung findet Gefallen[7] an dem Magazin[8].

Das ist kein Zufall, wenn es um das Lob für Trump oder die Verachtung von Feminismus und Antirassismus geht, findet man in den Texten der aktuellen Bahamas-Ausgaben nichts, was nicht auch in Medien der schlaueren Rechten stehen kann.

Da wird in einen Bahamas-Text über die Black-Panther-Bewegung in den USA eine regelreche Gräuelpropaganda betrieben, wie sie sonst nur in der US-Rechten üblich ist, für die in dem Blatt viel Verständnis geäußert wird. In der aktuellen Ausgabe wurde Trumps Rede zum Bruch des Atomabkommens mit dem Iran im Wortlaut abgedruckt.

Wie in der Rechten wird auch in der Bahamas die Merkelsche Flüchtlingspolitik angeprangert, nicht etwa weil sie ein freundliches Gesicht zur Abschottung fordert, sondern weil sie angeblich 2015 die Grenzen geöffnet hat. Die rechten Fakenews von der Grenzöffnung durch Merkel werden von der Bahamas-Redaktion bereitwillig übernommen. Mittlerweile kokettiert die Bahamas-Redaktion selber mit dem Etikett Rechtsantideutsche[9], die wiederum von den Antideutschen bekämpft werden, die sich noch als links verstehen.

Sogar mit den berühmt-berüchtigten kleinen Mann und der kleinen Frau in Deutschland macht die Bahamas ihren Frieden[10]. Schließlich ist der jetzt oft gegen Moslems und Migranten, also auf der aktuellen politischen Linie der Bahamas.

Wie die Praxis der Rechtsantideutschen aussieht, schildert ein Teilnehmer an der diesjährigen israelsolidarischen Demo gegen den islamistischen und teilweise antisemitischen Al Quds-Tags[11]. Ein Teil der Teilnehmer habe sich im Anschluss an einer Antifademo gegen einen von der AfD initiierten Frauenmarsch gegen den Islamismus beteiligt, die Rechtsantideutschen hingegen hätten sich samt ihrer Israelfahnen in diese Frauendemo eingereiht.

So ist die aktuelle Bahamas eigentlich wieder auf einer Linie mit einem alten Freund und Gesinnungsgenossen. Jürgen Elsässer veröffentliche in den ersten Jahren zahlreiche Texte in der Bahamas, bevor es ihn durch die gesamte linke und linksliberale Medienlandschaft trieb.

Nun hat er mit Compact ein eigenes Medium, das viel bekannter als die Bahamas und mehr auf praktische politische Einflussnahme, denn auf theoretischen Tiefgang aus ist. Doch Elsässer galt ja auch in seiner antideutschen Phase als Populist. Auch die Vorzüge des Populismus hat die Bahamas mittlerweile entdeckt.

Inhaltlich dürfte es heute zwischen Compact und Bahamas viele Gemeinsamkeiten geben, vor allem die Verachtung von allem, was als Erbe der 68er-Bewegung bezeichnet wird. Dazu gehören vor allem Antirassismus und Feminismus und auch der Marxismus überhaupt. Bei der Bahamas wird er, wenn überhaupt noch, als philosophische Bewegung gelten gelassen.

Politische Bewegungen, die sich auf den Marxismus berufen, werden gnadenlos bekämpft. Elsässer hat seine Abkehr von jeder marxistischen Phase bereits vor mehr als 10 Jahren vollzogen. Kein linkes Zentrum will für ihn heute noch zu einer Diskussionsveranstaltung einladen. Es ist daher zu fragen, warum eine Distanzierung von einem Thomas Maul so schwer viel schwerer fällt, wie sich am Fall des Leipziger Conne Island zeigt.

Rechte Israelsolidarität kein Kampf gegen den Antisemitismus

Das liegt vor allem daran, weil Maul und andere Bahamas-Autoren als frühe Streiter gegen jeden Antisemitismus gelten. Manchen scheint es als ein Zugeständnis an die Israelkritiker, wenn man einen ihrer Autoren auslädt. Hier rächt sich, dass man zu wenig zur Kenntnis nimmt, dass die rechte Israel-Solidarität eben nicht nur eine Schimäre ist.

Es ist auch nicht einfach eine Taktik, damit rechte Parteien vorzeigbarer werden. Das spielt sicher eine Rolle. Aber die rechte Israel-Solidarität ist im Wortsinn eine Unterstützung von Israel als Bollwerk gegen den Islamismus.

Damit wirbt die ultrarechte israelische Regierung und übt einen engen Schulterschluss mit Ultarechten wie dem ungarischen Ministerpräsident Orban, der kürzlich bei seinem Israel-Besuch sehr freundlich empfangen wurde. Massive Kritik hingegen kam von der israelischen Opposition.

Denn Orban wurde von der israelischen Regierung wegen seiner massiven Flüchtlingsabwehr nicht kritisiert, sondern gelobt. Orban verhindere damit die Einreise von antisemitischen Moslems, so Netanyahu.

Die Rechtsantideutschen plappern das nur nach. Dann sehen sie alle Orban auch nach, dass er sich wesentlich auf antisemitische Figuren in der ungarischen Geschichte wie den Hitler-Verbündeten Horthy stützt. Seine jahrelange Kampagne gegen Soros und seine Stiftung, die alle Kriterien des modernen Antisemitismus[12] trägt, wird entschuldigt.

In der Bahamas wird plötzlich gegen die angeblich „notorisch antizionistische“ Soros-Stiftung polemisiert und schon die ungarische Kampagne gerechtfertigt. Tatsächlich ist Soros kein Freund der aktuellen israelischen Rechtsregierung, er ist aber keinesfalls Antizionist.

Hier zeigt sich auch deutlich, dass die rechte Israelsolidarität eben kein Kampf gegen den Antisemitismus ist. Im Gegenteil ist diese Israelsolidarität selber antisemitisch, wenn es um Juden geht, die nicht bedingungslos zur aktuellen israelischen Regierung stehen.

Nicht nur nichtzionistische Organisationen wie Breaking the Silence[13], die sich kritisch mit der israelischen Armee befasst[14], geraten ins Visier. Auch die Interessenvertretung der eindeutig proisraelischen Linkszionisten in den USA J-Street[15] wird von Netanyahu und seinen Claqueuren schon als Verräter bekämpft.

Für eine Neudifferenzierung der linken Israelsolidarität

Ein Conne-Island-Boykott, vor allem wenn dann gleich große Teile der Israelsolidarität mit den Rechtsantideutschen in einen Topf geworfen werden, bleibt eher reaktiv. Angesichts einer Israelsolidarität, die von verschiedenen europäischen Rechtsparteien getragen wird – die typisch deutsche Marginalie der Rechtsantideutschen spielen da nur eine kleine Rolle – müsste es eine gute Gelegenheit sein, sich in der Linken über die Israelsolidarität und den Kampf gegen den Antisemitismus neu zu verständigen.

Die Engführung des Antisemitismus auf einen auf Israel bezogenen Antisemitismus hat sich in mehrfacher Weise als verhängnisvoll erwiesen. Der Hauptgrund ist, dass ein Großteil der Juden, die keine Anhänger der israelischen Rechtsregierung sind, von der Solidarität ausgenommen oder gar von den rechten Israelsolidarischen selber antisemitisch angegriffen wird.

Die Soros-Stiftung ist da nur das bekannteste Beispiel. Durch die Konzentration auf den israelbezogenen Antisemitismus geriet in Vergessenheit, dass sich Antisemitismus immer auch und hauptsächlich gegen die Kosmopoliten, gegen Menschen, die sich nicht auf Staat und Nation festlegen lassen, richtet.

Heute sind daher besonders Juden vom Antisemitismus betroffen, die sich nicht auf die israelische Politik festlegen lassen. Ihnen wird aber von einem Teil der Israelsolidarischen, nicht nur den Rechtsantideutschen, jede Solidarität verweigert. Schlimmer noch: Zumindest die Bahamas und ihr Umfeld beteiligen sich an den Angriffen auf Juden und jüdische Organisationen, die angeblich nicht bedingungslos zur israelischen Rechtsregierung stehen.

Zur Neuformulierung eines linken Kampfes gegen jeden Antisemitismus müsste der Begriff besonders begründet werden. Er schließt auch den Antisemitismus gegen Juden ein, die sich nicht mit Israel identifizieren, die als Anarchisten, Antinationale, Kosmopoliten, Sozialisten auf Distanz zum Staat Israel bestehen. Es ist nicht einzusehen, warum ihnen die Solidarität gegen Antisemitismus verweigert wird, die gerade sie oft besonders benötigen.

So würde auch deutlich, dass der Kampf gegen den Antisemitismus kein Staatsprojekt ist. Für manche Israelsolidarischen spielt Israel heute die Rolle, die manche Parteikommunisten der Sowjetunion zumaßen. Sie wurde zum Vaterland der Werktätigkeiten erklärt und jeder Kommunist, der daran zu zweifeln wagte, wurde zum Verräter erklärt und exkommuniziert.

Parallel dazu wird Israel von den Rechten und Rechtsantideutschen zur neuen Sowjetunion. Zumindest die Politik der aktuellen Rechtsregierung wird frenetisch verteidigt und die kleinste Kritik als Antisemitismus bekämpft.

Es ist an der Zeit, den Kampf gegen den Antisemitismus wieder zu einer Sache einer nichtstaatlichen linken Bewegung zu machen und ihn davon zu befreien, Legitimationsideologie eines Staates zu werden. Das wäre das Beste, was man den rechten Israelverteidigern entgegenhalten könnte.

Peter Nowak

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[1] https://conneislandboycott.wordpress.com/
[2] https://www.conne-island.de/news/214.html
[3] https://www.thomasmaul.de/
[4] https://www.thomasmaul.de/2018/05/afd-als-einzige-stimme-der-restvernunft.html
[5] https://www.freitag.de/autoren/peter-nowak/eine-gelungene-und-eine-gescheiterte-debatte
[6] http://www.redaktion-bahamas.org/
[7] https://twitter.com/martin_sellner/status/681434711235923968?lang=de
[8] https://dasgrossethier.wordpress.com/2018/05/21/sellner-liest-bahamas/
[9] http://nichtidentisches.de/2017/12/rechtsantideutsch-zur-genese-eines-phaenomens/
[10] http://redaktion-bahamas.org/aktuell/2018/05/05/konferenz-leipzig-programm/
[11] http://www.qudstag.de/
[12] https://www.heise.de/tp/features/Der-ewige-Soros-4004513.html
[13] https://www.breakingthesilence.org.il/
[14] https://www.juedische-allgemeine.de/article/view/id/28459
[15] https://jstreet.org/

Stigmatisiert und entwertet

Kundgebung erinnert an Gewalt gegen Obdachlose. Zu Brandanschlägen ermittelt weiter die Polizei

Unter dem Motto „Stoppt die Hetze und Gewalt gegen Wohnungslose, Erwerbslose und Geringverdienende“ hatte die Initiative „Niemand ist vergessen“ am Samstag zu einer Kundgebung am S-Bahnhof Frankfurter Allee aufgerufen. Da- mit sollte an den Mordversuch an zwei wohnungslosen Männern erinnert werden, die vergangene Woche am S-Bahnhof Schöneweide von einem Unbekannten im Schlaf mit einer brennbaren Flüssigkeit begossen und angezündet wurden. Beide überlebten schwerverletzt. Etwa 40 Menschen nahmen an der Kundgebung teil.
„Wir haben die Kundgebung am S-Bahnhof Frankfurter Alllee gemacht, weil Angriffe gegen Obdach- und Wohnungslose an vielen Orten stattfinden“, begründete Julia Ziegler von der Organisationsgruppe die Ortswahl. Die Initiative gründete sich 2008 zum Gedenken an Dieter Eich, der am 23. Mai 2000 von Nazis in Berlin-Buch ermor- det wurde. Einer der Täter hatte später über sein Motiv gesagt: „Der musste weg, der war asozialer Dreck.“ Seitdem befasst sich die Initiative auch mit der Geschichte der Verfolgung von als asozial stigmatisierten Menschen im Nationalsozialismus, die nach 1945 nicht entschädigt und oft weiter verfolgt wurden.
Darüber, wie Obdach- und Wohnungslosen das Leben im Stadtraum erschwert wird, informierten während der Kundgebung Bilder und Texte an einer Infowand. So würden Bänke im öffentlichen Raum so gestaltet, dass es unmöglich ist, sich daraufzulegen. Mit dem Leitbild „Saubere Stadt“ werde oft die Vertreibung von Wohnungs- und Obdachlosen gerechtfertigt, kritisierte der Tübinger Publizist Lucius Teidelbaum, Autor des 2013 veröffentlichten Buches „Obdachlosenhass und Sozialdarwinismus“, in einer Rede bei der Kundgebung. Teidelbaum betreibt den Blog Berberinfo, auf dem er Angriffe auf Wohnungs- und Obdachlose auflistet. Initiativensprecherin Ziegler forderte: „Armut darf nicht sanktioniert werden.“ Unterstützungsangebote sollten nicht an Bedingungen geknüpft und „Menschen als handelnde, selbstbestimmte Subjekte anerkannt werden, auch wenn sie keine Wohnung haben“.
Zu dem Anschlag vom vergangenen Montag in Schöneweide ermittelt die Polizei weiter. Zurzeit würden Videoaufnahmen ausgewertet, sagte eine Polizeisprecherin am Sonntag der taz. Bereits am Mittwoch konnte eines der Opfer befragt werden. Über seine Aussagen ist jedoch nichts bekannt. Der andere Mann liegt weiterhin im Koma.

montag, 30. juli 2018 taz

Peter Nowak

Schwere Zeiten für kritische Geister

Engagierte Studierende haben nicht nur mit der Verschulung des Studiums Probleme. Immer häufiger sehen sie sich auch mit Polizeieinsätzen und behördlichen Sanktionen konfrontiert.

Die Zeiten, in denen in nahezu regelmäßigen Abständen Studierende ihren Seminaren aus politischen Gründen fernblieben und stattdessen für mehr Geld, für Bildung und autonome Seminare demonstrierten und Hochschulgebäude besetzten, sind schon lange vorbei. Vorbei sind auch die Zeiten, als sich die universitäre Linke darüber stritt, ob ein Vorlesungsboykott Streik genannt werden sollte. Die Studierenden führten schließlich keinen Arbeitskampf.

Doch an den Berliner Hochschulen hat im vergangenen Semester vor ­allem der mittlerweile beendete Streik der studentischen Hilfskräfte zur ­Politisierung auf dem Campus beigetragen. Der Höhepunkt war die Besetzung des Audimax der Technischen Universität Berlin (TU) am 13. Juni, den die Universitätsleitung fünf Tage später von der Polizei räumen ließ.

»Die Universitätsleitung hat vollkommen überzogen reagiert. Die Besetzerinnen und Besetzer hatten realistische Forderungen aufgestellt und angeboten, den Hörsaal innerhalb der nächsten 24 Stunden zu räumen, sollte auf ihre Forderungen eingegangen werden«, kritisierte Konstantin Korn vom Vorstand des »Freien Zusammenschlusses von Studierendenschaften« (FZS) den Polizeieinsatz. Kritik kam auch von den beiden DGB-Gewerkschaften Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) und Verdi sowie von der Basisgewerkschaft Freie Arbeiterinnen- und Arbeiter-Union (FAU), die allesamt in den Arbeitskampf der studentischen Beschäftigten involviert gewesen waren.

Die Räumung des Audimax war nicht der erste Polizeieinsatz an der TU Berlin in diesem Jahr. Bereits Ende Mai zerrten Polizisten bei einer immobilienwirtschaftlichen Ringvorlesung am Institut für Architektur eine Kritikerin des Immobilienentwicklers Christoph Gröner aus dem Saal. Ein Großteil der Veranstaltungsteilnehmer quittierte das Eingriffen der Polizei nicht etwa mit Protest, sondern mit Applaus.
Das Forum Urban Research and Intervention (FURI), eine Gruppe kritischer Wissenschaftler und Studierender, kritisierte den Polizeieinsatz und die Reak­tionen. »Wir bedauern, dass das anwesende Publikum die Eskalation der Veranstaltung mit dem Eingreifen der Polizei nicht verhindert hat. Wir sehen uns als Studierende besonders in der Verantwortung, den universitären Raum vor unwissenschaftlichem und diskriminierendem Verhalten sowie dem Eingreifen der Polizei zu schützen und ­andere Wege zu finden, meinungsoffene Debatten zu gewährleisten«, heißt es in einem offenen Brief von FURI.

Doch gerade die wie Eigenwerbung wirkende Veranstaltung Gröners zeigte, dass kritische Auseinandersetzung heutzutage nicht nur für die Universitätsleitung, sondern auch für viele Kommilitonen entbehrlich ist.

In Berlin hat im vergangenen Semester vor allem der Streik der studentischen Hilfskräfte zur Politisierung auf dem Campus beigetragen.

Die wenigen linken Studierenden sind nicht nur in Berlin schnell mit Sanktionen konfrontiert. Staatliche ­Repression gegen kritische Studierende ist nach Einschätzung von Nathalia Schäfer vom FZS-Vorstand in allen Bundesländern unabhängig von der poli­tischen Zusammensetzung der Landesregierung häufiger geworden. So versucht die Polizei im grün-schwarz regierten Baden-Württemberg derzeit, zwei Datenträger der Verfassten Studierendenschaft der Universität Freiburg zu entschlüsseln. Sie enthalten die Daten von 25 000 Studierenden der Univer­sität in Form von Wählerverzeichnissen, die kompletten Personal- und Arbeitnehmerdaten der Verfassten Studierendenschaft sowie sämtliche Lohnabrechnungen mit Kontakten und Kontodaten der AStA-Angestellten. Die ­Datenträger waren aus Sicherheitsgründen nicht im AStA-Büro, sondern in der Privatwohnung des Administrators gelagert, weil es in den Räumen der Verfassten Studierendenschaft schon häufiger zu Einbrüchen gekommen sei. Die Wohnung wurde bei einer Razzia gegen die linke Internetplattform »Indymedia Linksunten« durchsucht.

»Nach Unterrichtung des Regierungspräsidiums Freiburg und des LKA, dass die beschlagnahmten Daten­träger Eigentum der Verfassten Studierendenschaft seien, und dass wir nichts mit der verbotenen Internetplattform zu tun hätten, wurden diese ohne weiteres wieder an uns zurückgegeben«, schrieb der Studierendenrat auf seiner Website. Allerdings hatten die Behörden zuvor Kopien angefertigt, wie das Bundesinnenministerium einräumte, an deren Entschlüsselung weiter gearbeitet werde.. Der Freiburger AStA kämpft seitdem um die Rück­gabe der Daten.

Im schwarz-grün regierten Hessen sorgte ein heftiger Polizeieinsatz Mitte April 2017 auf dem Gelände der Goethe-Universität in Frankfurt am Main bei linken Studierenden für Empörung. Damals drangen etwa 150 Polizisten ohne richterlichen Durchsuchungsbeschluss in das Studierendenhaus auf dem Universitätsgelände ein und beschlagnahmten Computer. Voraus­gegangen war ein Angriff einer Gruppe vermummter Personen mit Steinen, Stahlpollern, und Farbbeuteln auf ein Hotel der Maritim-Gruppe an der Frankfurter Messe aus Protest gegen den Bundesparteitag der AfD, der ­wenige Tage später im Kölner Maritim-Hotel stattfinden sollte. Nach Angaben der Polizei vermutete sie mehrere flüchtige Angreifer in einen Café in dem Studierendenhaus. Alle Personen, die sich in dem Gebäude aufhielten, wurden festgesetzt und konnten erst nach ­einer Personalienkontrolle gehen. Während der hessische ­Innenminister ­Peter Beuth (CDU) den Polizeieinsatz ­gegen Kritik verteidigte, hat das Amtsgericht Frankfurt ihn mittlerweile für rechtswidrig erklärt.

In Bayern kann linkes studentisches Engagement sogar den Arbeitsplatz kosten. Ein Berufsverbot gegen den angehenden Lehrer Benedikt Glasl ­begründete die Regierung von Oberbayern mit Erkenntnissen des Ver­fassungsschutzes, denen zufolge der Mann sich während seines Studiums in zwei der Linkspartei nahestehenden Organisationen engagiert hatte. Das Bayerische Verwaltungsgericht entschied Mitte März per einstweiliger Anordnung, dass Glasl seine Ausbildung fortsetzen und bis Jahresende an einer Schule hospitieren könne.

https://jungle.world/artikel/2018/30/schwere-zeiten-fuer-kritische-geister

Peter Nowak

„Es bleibt beim bekannten Zusammenspiel des Ärzte-Richter-Filzes“

Interview mit Rene Talbot von der Bundesarbeitsgemeinschaft Psychiatrieerfahrener zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts über die Fixierung von Psychiatriepatienten

Das Bundesverfassungsgericht hat am 24.7. zur Frage von Fixierungen von Psychiatriepatienten entschieden[1]: „Die Fixierung von Patienten stellt einen Eingriff in deren Grundrecht auf Freiheit der Person dar. Aus dem Freiheitsgrundrecht sowie dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ergeben sich strenge Anforderungen an die Rechtfertigung eines solchen Eingriff.“ Telepolis sprach mit Rene Talbot von der Bundesarbeitsgemeinschaft Psychiatrieerfahrener[2] über die Entscheidung.

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Energiearmut wird unterschätzt

Experte Oliver Wagner kritisiert fehlende Maßnahmen gegen Stromsperren

Oliver Wagner ist Projektleiter beim Wuppertal Institut für Klima , Umwelt, Energie und unter anderem Experte für kommunale Energiepolitik. Mit ihm sprach Peter Nowak über Energiearmut in Deutschland

Ist Energiearmut…

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Mehr für den kleinen Geldbeutel

Ein Unternehmen wirbt mit regionaler Herstellung seiner Produkte und meint schlecht bezahlte Arbeit von Berliner GefängnisinsassInnen. Die Gefangenengewerkschaft fordert die Zahlung des Mindestlohns

Drucken, Falten, Nähen – das alles passiert in Berlin & Deutschland. Regionales Wirtschaften funktioniert einfach besser als miese Arbeitsbedingungen in Drittländern.“ So wirbt das Berliner Unternehmen Paprcuts für seine Produkte, etwa reißfeste Handyhüllen, Tabakbeutel und Portemonnaies. Hergestellt werden diese auch in Berliner Justizvollzuganstalten. Deshalb erhielt Paprcuts vergangene Woche Post von der Berliner Gruppe der Gefangenengewerkschaft/Bundesweite Organisation (GG/BO). Sie fordert den Mindestlohn für arbeitende Gefängnisinsassen und ihre Einbeziehung in die Rentenversicherung. „Wie euch durch eure Verträge mit der JVA Reinickendorf und Faktura bekannt ist, zahlt ihr den ArbeiterInnen aber nur 1–2 Euro die Stunde, also etwa 1/9 von dem, was arbeitende Menschen draußen er- halten“, heißt es in dem Schreiben. Zudem würden die Frauen in der JVA Reinickendorf über strenge Zeit- und Qualitätskontrollen bei der Arbeit klagen, berichtet Martina Franke von der Soligruppe der GG/BO der taz. Franke ärgert es besonders, dass Paprcuts die Arbeit in der JVA als soziales Projekt bewirbt. „Wir fordern das Unter- nehmen auf, zu erklären, warum es sich in der eigenen Werbung explizit gegen schlechte Arbeitsbedingungen in Drittländern wendet und dann einen Teil der Produkte in der JVA zu ebenso schlechten Bedingun- gen herstellen lässt.“ Schließlich seien Knäste ebenso wie Werkstätten für Menschen mit Behinderungen, in denen ebenfalls Produkte von Paprcuts hergestellt werden, „Billiglohnin- sein, in welchen auf Kosten der Beschäftigte Profite gemacht werden“, moniert Franke. Als positives Signal sieht sie, dass Paprcut sich zu Gesprächen bereit erklärt hat. Geschäftsführer Oliver Wagner äußerte sich über deren Erfolgsaussichten allerdings skeptisch. „Wir empfinden das Schreiben der GG/ BO als überaus konfrontativ und zweifeln an, dass hier ein konstruktiver Dialog möglich sein wird. Daher möchten wir uns ungern in das Zentrum dieses Dialogs stellen lassen und uns für die Forderungen von der Gefangenengewerkschaft öffentlich instrumentalisieren lassen“, so Wagner. Die Vergabe der Aufträge an die JVA bezeichnet er weiterhin als soziales Projekt. Franke sieht es als positiv an, dass Wagner von der JVA weitere Informationen über die Arbeitsbedingungen angefordert hat. Auf die Frage, ob nicht eher die JVA als die Gefangenen von einer Lohnerhöhung profitieren würde, gibt sich Franke kämpferisch. „Falls sich ein Unternehmen bereit erklärt, den Mindestlohn zu zahlen, und die JVA den Gefangenen trotzdem nur 1 bis 2 Euro Stundenlohn auszahlt, gehen wir an die Öffentlichkeit.“

aus: taz
24. juli 2018

Von Peter Nowak

Viel Lärm um Sami(r) A.

Oder: Das Elend des Rechtspositivismus. Bei den Auseinandersetzungen ging es am Wenigsten um die Rechte von Migranten. Ein Kommentar

Die Debatte um die Migration bleibt in Deutschland auch nach dem Paukenschlag von Seehofer uneindeutig. Ihm war es wichtig, im Verein mit rechten Regierungen in Österreich und Italien, auch Deutschland in der Migrationsfrage näher an die Visagrand-Staaten heranzuführen.

Dabei geht es nicht darum, dass in Deutschland bisher eine Willkommenskultur für Migranten herrscht, sondern um ein freundliches Gesicht bei der Flüchtlingsabwehr. Dazu gehört auch ein rechtliches Prozedere für Migranten, die es erst einmal nach Deutschland geschafft haben, wenn sie nur die entsprechenden Netzwerke zur Unterstützung hatten. Zu diesen gut Vernetzen gehörte auch Samir A. (häufig auch „Sami A[1].“ ), der in den Medien immer wieder als Leibwächter Bin Ladens firmiert, obwohl das nicht bewiesen und schon gar nicht juristisch bestätigt ist.

Sicher scheint, dass der tunesische Staatsbürger Samir A. als Student 1997 nach Deutschland gekommen ist und seit Ende der 1990er Jahre mehrmals in Pakistan gewesen war. Während er behauptet, eine religiöse Ausbildung gemacht zu haben, werfen ihm andere vor, zum Sicherheitsdienst von al-Qaida gehört zu haben. Die deutschen Behörden werfen ihm islamistische Aktivitäten vor und lehnen einen Asylantrag ab.

Mehrere Anklageversuche in Deutschland wurden mangels Beweisen eingestellt. Derweil konnte der Mann, der in Deutschland als salafistischer Prediger aktiv war, durch seine gute Vernetzung eine Abschiebung nach Tunesien immer wieder verhindern. Als die Boulevardmedien seinen Fall bekannt machten, erklärten sowohl Seehofer als auch Merkel, dass sie hier aktiv werden wollten.

Daher war seine Abschiebung nur noch eine Frage der Zeit. Es ist sehr wahrscheinlich, dass eine günstige Gelegenheit gesucht und gefunden wurde, als es gerade mal keine Gerichtsentscheidung gab, die eine Abschiebung verhinderte. Daran entzündet sich nun die Kritik von Gerichten, Medien und auch der Politik.

Dabei könnte man realpolitisch bei den tunesischen Verantwortlichen auf eine Vereinbarung drängen, dass Samir A. nicht gefoltert wird. Durch die Aufmerksamkeit, die der Fall gefunden hat, ist es sehr wahrscheinlich, dass er eine Vorzugsbehandlung bekommt, die Unbekannten versagt wird.

Wenn die Debatte um Samir A. etwas Positives hatte, dann ist es die verstärkte Aufmerksamkeit, die auch andere Abschiebungen der letzten Zeit bekommen haben. Dadurch konnte festgestellt werden, dass ein junger Afghane abgeschoben wurde, obwohl über seinen Asylantrag noch nicht beschieden wurde. Bei ihm ist die Forderung nach Rückführung völlig berechtigt.

Rechtsstaat versus Willkür?

Unter den Kritikern an der Abschiebung von Samir A. befinden sich auch Menschen, die eigentlich Anhänger eines strengen Grenzregimes sind, aber streng rechtstaatlich muss es sein. Dazu gehört Burkhardt Ewert von der Neuen Osnabrücker Zeitung, der im Deutschlandfunk kommentierte[2]:

Beide Seiten brechen das Recht: der Staat, wenn er vorschnell abschiebt. Die Flüchtlingshelfer, wenn sie Abschiebungen um jeden Preis verhindern wollen. Keiner ist dabei besser oder schlechter als der andere. Beide gefährden gleichermaßen die Substanz und Akzeptanz von Rechtsstaat und Demokratie.

Burkhardt Ewert, Deutschlandfunk

Der Kommentator vertritt im Anschluss sogar Positionen, die man sonst nur aus AfD-Kreisen hört, wenn er auch den Herbst 2015, als Merkel die Grenzen nicht vor den Migranten geschlossen hat, als Willkür bezeichnet.

Dafür gibt es einen Namen: Willkür. Sie ist zutiefst bedenklich, undemokratisch und gefährlich. Denn ein demokratischer Rechtsstaat, der seine Gesetze nicht anwendet, schadet seinen Grundfesten und damit sich selbst. Schon die Öffnung der Grenze für die massenhafte Einreise ohne Kontrolle und Registrierung von Flüchtlingen im Herbst 2015 war so ein Fall.

In der Europolitik, fast ist es derzeit vergessen, wurden Abkommen ebenfalls früh gebeugt, um nicht zu sagen gebrochen – Maastricht etwa, das Drei-Prozent-Kriterium. Dann also die Abschiebungen, die seit Jahren bestenfalls halbherzig und eigentlich gar nicht durchgesetzt wurden, obwohl die Rechtslage sie eindeutig vorsieht.

Burkhardt Ewert, Deutschlandfunk

Dabei ist im Fall von Samir A. die Aufregung wirklich unnötig. Es handelt sich bei ihm nicht um einen Geflüchteten, dem in Deutschland seine Rechte voranhalten werden. Er reiste privilegiert als Student in Deutschland ein und war dann im islamistischen Milieu aktiv.

Die tunesische Justiz ermittelt gegen ihn. Daraufhin stellte er in Deutschland einen Asylantrag, der abgelehnt wurde. Seit mehr als 10 Jahren versuchte das BAMF, ihn an Tunesien auszuweisen. Nun wurde er überstellt und muss sich dem Verfahren stellen. Es ist wirklich schwer einzusehen, was daran so skandalös sein soll?

Warum nicht auch Kritik an den Gerichten?

Wenn überhaupt, dann müsste man fragen, warum dieser Samir A. Privilegien hatte, von denen beispielsweise kurdische und türkische Linke nur träumen können. Samir A. konnte auch deshalb in Deutschland nicht der Prozess gemacht werden, weil die islamistischen Aktivitäten im Ausland verübt worden.

Nun gibt es in Deutschland den berüchtigten Paragraphen 129b, der genau dafür gemacht sein soll, um solche Aktivitäten auch in Deutschland zu sanktionieren. Linke aus der Türkei und Kurdistan werden nach diesem Paragraphen für an sich völlig legale Tätigkeiten wie das Sammeln von Spenden und das Organisieren von Konzerten zu teilweise langjährigen Haftstrafen verurteilt.

Es ist völlig richtig, die Abschaffung dieses Paragraphen zu fordern. Aber es ist auch zu fragen, warum es ausgerechnet gegen Islamisten wie Samir A. stumpf bleibt? Warum kann das Organisieren eines Grup Yorum-Konzerts nach dem Paragraph 129 b zu hohen Haftstrafen führen, nicht aber salafistische Aktivitäten?

Die Sache wird noch besonders brisant, wenn man weiß, dass Deutschland historisch immer wieder als „Schutzmacht des Islams“ aufgetreten ist, wie es der Historiker David Motadel[3] in seinen Buch „Für Prophet und Führer“[4] darlegt. Es ist schon eine Überlegung wert, sich zu fragen, ob die Unfähigkeit in Deutschland Islamisten wie Samir A. zur Verantwortung zu ziehen, an diesen historischen Gründen liegt.

„Schutzmacht für Islamisten“?

In den Prozessen gegen türkische und kurdische Linke jedenfalls gibt es eine gute Kooperation mit der türkischen Justiz, die auch nicht beeinträchtigt war, als die Türkei wegen Erdogans Deutschland-Schelte heftig in der Kritik stand.

Nachdem nun in der autoritären Republik der Ausnahmezustand überflüssig wurde, werden sich die Beziehungen normalisieren. Erste Schritte auf ökonomischem Gebiet sind schon gemacht worden. Tunesien ist heute allerdings nicht mit der autoritären Türkei zu vergleichen.

Es gab dort 2011 eine Revolution und daraus ist ein einigermaßen funktionierender bürgerlicher Staat geworden. Dafür wurden Vertreter des Landes – ein Dialogquartett – gar 2015 mit dem Tausende Tote, Hauptsache rechtstaatlich

Als Beispiel auf weltpolitischer Ebene kann der liberale Publizist Marko Martin gelten, der in der Jüdischen Allgemeinen[6] eine Eloge auf das jüngste Anti-Trump-Buch[7] der ehemaligen US-Außenministerin Madeleine Albright verfasst hat. Besonders hebt Martin hervor, dass die ehemalige US-Politikerin im Gegensatz zu Trump vehement für den Rechtsstaat eintrete: Er bringt ein Zitat von Albright:

Was eine Bewegung faschistisch macht, ist nicht die Ideologie, sondern die Bereitschaft, alles zu tun, was nötig ist – einschließlich Gewaltanwendung und der Missachtung der Rechte anderer -, um sich durchzusetzen und Gehorsam zu verschaffen.

Madeleine Albright
Dann kommentiert er:

Madeleine Albright weist darauf hin, dass – entgegen manch linker Interpretation – dies weniger mit fehlgeleitetem Patriotismus oder übersteigertem Nationalgefühl zu tun habe, als vielmehr mit einem genuinen Hass auf das Einhegende von Gesetzeswerken, welche die Bürger- und Menschenrechte schützen.

Marko Martin, Jüdische Allgemeine

Nun ist Albright keine Moralphilosophin, sondern eine langjährige aktive Politikerin, die den Krieg gegen Jugoslawien und das Embargo gegen den Irak unter Saddam-Hussein verteidigt und vorangetrieben hat. Dafür hat sie auch ausdrücklich[8] den Tod von Tausenden irakischen Kindern in Kauf genommen.

Das macht deutlich, dass die Verteidiger des Rechtsstaats nicht gegen Kriege, gegen Unterdrückung und Ausbeutung sind und durchaus den Tod von vielen Menschen in Kauf nehmen. Ihnen ist es nur wichtig, dass alles seinen formalen, also seinen rechtsstaatlichen Gang geht.

Das ist auch die Quintessenz des oben erwähnten Kommentars von Ewert, der die Herrschaft der Willkür überall da sieht, wo angeblich Entscheidungen ohne rechtsstaatliche Fundierung getroffen wurden. Gerichtsentscheidungen werden hier wie eine Monstranz herumgezeigt und gelten als quasi unangreifbar. Schon wer sie kritisiert, macht sich angreifbar. Ein solcher Rechtspositivismus verkennt, dass Recht von Menschen gemacht und veränderbar ist.

Das NSU-Urteil oder dieser Staat schützt uns nicht

Statt sich derart über Samir A. aufzuregen, hätte das NSU-Urteil (vgl. NSU: Nach dem Urteil ist vor der Aufklärung[9] eine viel stärkere Kritik verdient.

Dabei geht es nicht mal in erster Linie darum, dass mit Andre E. unter dem Beifall seiner Gesinnungsgenossen ein bekennender Neonazi mit einem besonders milden Urteil bedacht wurde. Vielmehr wurde im NSU-Urteil gegen alle Beweise die staatliche Version festgeschrieben, dass die NS-Terrorgruppe aus drei Personen bestand, von denen zwei nicht mehr leben. Verbindungen des NSU zu anderen Staatsapparaten wurden ignoriert.

Die Hoffnung der Angehörigen, dass das Verfahren mindestens einen Teil ihrer offenen Fragen beantwortet[10], wird ignoriert. Dieser Staat schützt uns nicht“, kommentierten[11] Bafta Sarbo[12] und Tahir Della von der Initiative Schwarzer Menschen in Deutschland[13] das Urteil.

Anders als für Islamisten war für sie Deutschland historisch nie Schutzmacht. Das gilt auch bis heute, wie die Debatte der letzten Tage gezeigt hat. Die Angehörigen der Opfer wurden mit ihrer Kritik am NSU-Urteil von einem Großteil der Öffentlichkeit ignoriert oder fallengelassen. Völlig falsch behandelt wurden sie schon vor der Selbstaufdeckung des NSU.

Sie forderten, im rechten Milieu zu ermitteln[14], während man sie und ihr Umfeld verdächtigte.

Und wenn das NSU-Urteil erst einmal rechtskräftig ist, werden sich die Kritiker noch den Vorwurf gefallen lassen müssen, sie würden eine rechtsstaatliche Entscheidung nicht anerkennen. Da wird eben die Funktion des Rechtspositivismus als das deutlich, was er im Kern ist. Er ist eine Schutzmacht des bürgerlichen Staates und seiner Gewalt.

Peter Nowak

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http://www.heise.de/-4117794
https://www.heise.de/tp/features/Viel-Laerm-um-Sami-r-A-4117794.html
Links in diesem Artikel:
[1] https://www.sueddeutsche.de/politik/asyl-kontroverse-was-bei-der-abschiebung-des-gefaehrders-sami-a-geschah-1.4061780
[2] https://www.deutschlandfunk.de/streit-um-abschiebungen-meinung-und-recht-zu-vermischen.720.de.html?dram:article_id=423483
[3] http://www.davidmotadel.com/
[4] https://www.klett-cotta.de/buch/Geschichte/Fuer_Prophet_und_Fuehrer/84719
[5] https://www.tagesspiegel.de/politik/friedensnobelpreis-2015-die-retter-tunesiens/12432738.html
[6] https://www.juedische-allgemeine.de/article/view/id/32237
[7] https://www.newyorker.com/news/news-desk/madeleine-albright-warns-of-a-new-fascism-and-trump
[8] https://www.youtube.com/watch?v=omnskeu-puE
[9] https://www.heise.de/tp/features/NSU-Nach-dem-Urteil-ist-vor-der-Aufklaerung-4108288.html
[10] http://www.nsu-tribunal.de/
[11] https://www.neues-deutschland.de/artikel/1094181.nsu-urteil-in-muenchen-dieser-staat-schuetzt-uns-nicht.html
[12] http://als-ich.iwspace.de/panellistinnen/bafta-sarbo/
[13] http://isdonline.de
[14] https://www.nsu-watch.info/2014/01/kein-10-opfer-kurzfilm-ueber-die-schweigemaersche-in-kassel-und-dortmund-im-maijuni-2006/

Innenminister nehmen linke Band ins Visier

Grup Yorum muss Verbot in Deutschland befürchten

Die Bundesinnenministerkonferenz, die vor einigen Wochen in Quedlinburg getagt hat, befasste sich auch mit dem möglichen Verbot einer Musikband. Doch dabei handelte es sich nicht um eine der Neonazigruppen, deren Auftritte in den letzten Monaten wiederholt für Entsetzen und Protest gesorgt haben. Die Innenminister prüften vielmehr unter dem Oberbegriff »Ausländerextremismus« ein Verbot der linken türkischen Band Grup Yorum. Die 1985 gegründete Band wird als Bestandteil der linken türkischen DHKP-C betrachtet. Diese Organisation beruft sich auf Che Guevara und hat vor allem in einigen Armenvierteln der türkischen Metropole Istanbul Anhänger*innen. Die Organisation ist in der Türkei und in Deutschland verboten. In den Jahren sind zahlreiche angebliche DHKP-C Unterstützer*innen in Deutschland mittels des Paragraphen 129b wegen Mitgliedschaft oder Unterstützung einer ausländischen terroristischen Vereinigung zu langjährigen Haftstrafen verurteilt worden. Zu den inkriminierten Tätigkeiten, die ihnen vorgeworfen werden, gehört auch das Organisieren von Grup-Yorum-Konzerten, das Kleben von Plakaten und der Verkauf von Tickets für ihre Auftritte. Seit Jahren werden in Deutschland die Konzerte der Band massiv behindert.

Im Ausland lebende Musiker*innen werden an der Einreise nach Deutschland gehindert, Räume werden auf staatlichen Druck gekündigt. In den letzten Jahren wurden Grup-Yorum-Konzerte unter massive Auflagen gestellt. So war es den Veranstalter*innen bei den Konzerten 2016 und 2017 in Fulda untersagt, für das Konzert Eintritt zu nehmen. Selbst für Essen und Getränke durfte kein Geld kassiert werden. Und auch das Sammeln von Spenden war verboten. Die Polizei setzte diese Auflagen konsequent durch.

Zurück blieb ei großer Schuldenberg für die Veranstalter*innen. »Wir hatten moderate Preise für das Konzert und für Essen und Getränke geplant. Doch dann konnten wir die Tickets wegwerfen und mussten die schon gekauften Lebensmittel verschenken«, klagt Elgen Y, die in einem Solidaritätsverein arbeitet. Jetzt könnten die Restriktionen gegenüber der linken Band noch zunehmen. Auf eine Anfrage der LINKE-Fraktion im Bundestag stellte sich das Bundesinnenministerium ausdrücklich hinter die von den Bundesländern verhängten Auftrittsverbote und Auflagen gegen Grup Yorum. Mit Verweis auf die linke türkische Zeitung »Yürüyüs« sieht das Ministerium die Band fest in die Strukturen der DHKP-C integriert. Die Band unterstütze den »weltweiten revolutionären Kampf« so das Innenministerium. Die innenpolitische Sprecherin der LINKEN, Ulla Jelpke, kritisiert hingegen, dass das Bundesinnenministerium nicht belege, wo die Übereinstimmungen zwischen Grup Yorum und DHKP-C liegen. Im Gegensatz zu Konzerten rechtsextremer Gruppen werde auf Konzerten von Grup Yorum »nicht gegen andere Menschen gehetzt, sondern zu Völkerverständigung aufgerufen«.

Die Unterstützer*innen von Grup Yorum wollen sich auch durch die drohende Verschärfungen nicht einschüchtern lassen. »Wen stören genau die Grup-Yorum-Konzerte, die seit Jahren unter dem Motto ›Unser Herz und unsere Stimme gegen Rassismus‹ stehen«, fragt Elgen Y. Sie erinnert daran, dass Grup Yorum auf antifaschistischen und antirassistischen Konzerten mit sehr viel Applaus bedacht wird. »Die Menschen fragen sich, warum eine linke Band kriminalisiert wird, während Neonazis auf ihren Konzerten unbehelligt bleiben.«

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1095031.verbot-der-linken-tuerkischen-band-grup-yorum-innenminister-nehmen-linke-band-ins-visier.html

Peter Nowak

Siegt der „tiefe Staat“ über Trump?

Bizarre Reaktionen nach dem Treffen mit Putin: Der Machtkampf in den USA und in Deutschland über die Verschwörungstheorie zur „russischen Einmischung“

Es ist schon bizarr, welche Reaktionen das Treffen zwischen Trump und Putin in den USA und auch in Deutschland ausgelöst hat. Man könnte fast den Eindruck haben, Trump habe Putin den Atomkoffer persönlich übergeben, so vehement jaulten die Vertreter des „tiefen Staates“ und die vom ihm abhängigen Politiker aller Parteien auf.

Dabei verlief das Treffen zwischen Putin und Trump recht unspektakulär. Es gab weder gemeinsame Abkommen noch eine gemeinsame Stellungnahme, aber auch keinen Eklat. Man könnte also wie Bundesaußenminister Maas sagen, es ist gut, dass es stattgefunden hat, weil es immer besser ist, wenn Politiker, die über ein Atombombenpotential verfügen, das die Welt gleich mehrmals in die Luft sprengen könnte, nicht ständig den Eindruck erwecken, als würden sie gleich einen Krieg auslösen wollen.

Da es aber keine konkreten Vereinbarungen gab, hätte man das Treffen auch schnell abhaken und zu den wichtigeren Fragen übergehen können. Doch in den USA entwickelte sich Deutung des Treffens zu einem Machtkampf.


Die Verschwörungstheorie über die russische Wahlmanipulation

Politiker des tiefen Staates, die sich in allen Parteien finden, wollten Trump nicht durchgehen lassen, dass er auf der Pressekonferenz mit Putin nicht die Verschwörungstheorie von der russischen Wahlbeeinflussung nachgebetet hat.

Der Druck war so stark, dass sich Trump dann mit der Ausrede behelfen musste, er habe eigentlich das Gegenteil von dem gemeint, was er auf der Pressekonferenz gesagt hat. Der tiefe Staat hatte zuvor schon seine Macht gezeigt, als er pünktlich zur Russlandreise Trumps Anklage gegen zwölf russische Geheimdienstmitarbeiter erhob, die er der Cyberangriffe beschuldigte. Alle halten sich in Russland auf, so dass wohl niemand je vor einem US-Gericht stehen wird. Doch das war gar nicht Ziel der Anklage.

Es sollte eine Kulisse aufgebaut werden, um Trump zu zwingen, diese angeblichen Angriffe zum Hauptgegenstand der Gespräche zu machen, also das Treffen im Desaster enden zu lassen. Allein, Trump ließ sich in Helsinki nicht in dieses Korsett zwängen und wies den Fabrikationen des tiefen Staates nicht mehr Glaubwürdigkeit als Putin zu.

Die Vertreter des tiefen Staates jaulten auf, wie man beide überhaupt auf eine Stufe stellen könne. Diese Kritik könnten die Putin-Freunde freilich ebenso für sich reklamieren. In der Realität dürften sich beide Staatsapparate wenig nehmen bei der Fabrikation von Lügen und Mythen im Staatsinteresse.

Vom tiefen Staat der USA ist nun bekannt, wie er bereits vor 100 Jahren die Angst vor Linken und Revolutionären geschürt hat, wie er in den 1950er Jahren die antikommunistische Hexenjagd befeuerte, die zum Justizmord an den jüdischen Linken Ethel und Julius Rosenberg[1] führte. Es war der tiefe Staat, der in den 1960er und 1970er Jahren sämtliche oppositionelle Gruppen infiltrierte, Martin Luther King gezielt diskreditierte[2], mit gefälschten Briefen die Black Panther Party[3] zerstören wollte[4].

Es waren mutige Frauen und Männer, Whistleblower würde man sie heute nennen, die dafür sorgten, dass diese Fakten bekannt geworden sind. Es war auch der tiefe Staat, der die Gründe für den Irakkrieg fabrizierte. Manche Politiker, die die Behauptungen von Massenvernichtungswaffen im Irak verbreiteten, waren selber nicht im Bilde, dass sie einer Fälschung des tiefen Staats aufgesessen waren.

Es hätte tausend gute Gründe für die irakische Bevölkerung gegeben, Saddam Hussein durch eine Revolution zu stürzen. Die Fälschungen aus den USA waren der falsche Grund und führten zum Desaster im Irak bis heute. All diese Fakten sind bekannt und so ist es direkt erfrischend, wenn ein US-Präsident klar sagt, dass er nicht von den vermeintlichen Erkenntnissen des tiefen Staats zur Wahlbeeinflussung durch Russland überzeugt ist.

Schade nur, dass diese Erkenntnis von einem Trump kommt. Keiner der möglichen Präsidentschaftskandidaten, die irgendwie als liberal durchgehen oder sogar etwas links von der Mitte, wie Bernie Sanders, hätte daran nur gedacht. Das spricht nicht für Trump, aber gegen seine Gegner. Das trifft auch auf Deutschland zu.

Spätestens nach der Aufdeckung des NSU wäre Zeit gewesen, dass Politiker deutlich erklären, dass die Geheimdienste ein Problem sind und keine Lösung.

Nicht an der russischen Einmischung, sondern am US-Wahlsystem ist Clinton gescheitert

Es gibt einige Grundsätze der bürgerlichen Demokratie, die sie von einer für das Kapital in der Regel dysfunktionalen Willkürherrschaft unterscheidet. Die Ausnahme von der Regel sind die unterschiedlichen Formen faschistischer Herrschaft.

Zu den Grundsätzen gehört das Credo, dass Geheimdiensterkenntnisse nicht mit Fakten verwechselt werden dürfen, dass eine Anklage keine Verurteilung ist und bis zu einem rechtskräftigen Urteil die Beschuldigten als unschuldig zu gelten haben. Gegen alle diese Grundsätze wird in der Causa „russische Wahlbeeinflussung“ permanent verstoßen. Natürlich wird auch nicht nachgefragt, wie denn die USA und andere Länder die Wahlen in Staaten beeinflussen, deren Führungen ihnen missliebig ist. Nein, Wahlbeeinflussung gibt es nur beim Gegner.

Die ganze Kampagne um die russische Wahlbeeinflussung soll über die für die Systemkräfte deprimierende Tatsache hinwegtrösten, dass die so gut vernetzte Kandidatin des Establishments die Wahl verlor. Dabei waren sich alle ihres Sieges so sicher. Die Kräfte des alten Systems wollen sich nicht eingestehen, dass Clinton nicht an Russland, sondern am US-Wahlsystem gescheitert ist.

Sie hatte mehr Stimmen als Trump, aber ihr fehlten die entscheidenden Wahlmänner und -frauen. Zudem wurde die Antipathie unterschätzt, die Clinton in vielen Teilen der USA entgegenschlug. Die Taz-Kolumnistin Bettina Gaus war in der Zeit der Vorwahlen in den USA. Gaus prophezeite danach einen Sieg von Trump, als alle auf Clinton setzten. Ihre Prognosen hatten nicht russische Einflussversuche, sondern politische Einstellungen und Haltungen eines guten Teils der US-Bevölkerung im Blick.


Auch in Deutschland wird die Mär von der russischen Wahlbeeinflussung verbreitet

In den USA ringen verschiedene Kapitalfraktionen miteinander. Die Mär von der russischen Wahlbeeinflussung ist dabei eine wichtige Waffe. Doch auch in Deutschland findet sie viel Verbreitung von verschiedenen Seiten. Da sind zum Beispiel die Dauerinterviewpartner des Deutschlandfunks wie die Anhänger der Clinton-Demokraten, so zum Beispiel Andrew Denison[5], die immer erklärten, Trump werde nie Präsident. Als er es dann wurde, berichteten sie über seinen baldigen Sturz. In einem Interview[6] im Deutschlandfunk zum Putin-Besuch von Trump gab Denison einige Kostproben seiner Weltsicht.

Donald Trump ist in eine Falle geraten, weil wenn er zugibt, dass die Russen ihm den Wahlsieg gegeben haben, dann ist seine Macht illegitim. Er hat ja sowieso zwei Millionen weniger Stimmen als Hillary Clinton. Dann ist seine Macht illegitim. Wenn er es nicht zugibt, dann scheint er zunehmend realitätsfremd zu sein, und das heißt, zu diesem Zeitpunkt haben wir einen Präsidenten, der unheimlich geschwächt ist, und dadurch kann er selbst bei einem Gipfel mit Putin außer Schlagzeilen erzeugen die Fundamente der Beziehungen nicht stark ändern.

Andrew Denison, Deutschlandfunk[7]
Es ist schon erstaunlich, dass ein Mann, der ernsthaft behauptet, die Russen und nicht das US-Wahlsystem habe Trump ins Präsidentenamt gebracht, als Politikberater herumgereicht wird. Auf die Frage des Interviewers, wie er zu seiner Einschätzung komme, antwortete Denison auf abgedrehte Weise:

Ich stütze mich auf den ehemaligen Direktor der National Intelligence, Herrn Clapper, sowie einen anderen, der sehr deutlich geschrieben hat, wie die Russen in Wisconsin und Michigan den Wahlsieg gewonnen haben – dort, wo Bernie Sanders auch gegen Hillary gewonnen hat.

Andrew Denison, Deutschlandfunk[8]

Die Russen haben die Wahlen in Wisconsin und Michigan gewonnen? Und ist Bernie Sanders auch ein Geschöpf Russlands? Dass Sanders in dem wirren Statement erwähnt wird, kann auch als Drohung an ihn verstanden werden. Wenn er gegen die Interessen des tiefen Staates handelt, schießt der sich auch auf ihn ein.

Dass sogar der gefallene russische Oligarch Michail Chodorkowskij im Kampf gegen Putin aus der Versenkung geholt wird[9], zeigt aber auch die Verzweiflung der EU in der Russland-Frage.

Chodorkowskij stand in Fragen der kriminellen Energie und des kapitalistischen Bereicherungswillen anderen Oligarchen in Nichts nach, unterlag aber im internen Machtkampf. Nach seiner Verurteilung wird er als Bürgerrechtler herumgereicht, in Russland ist er heute unbeliebter als Gorbatschow.

Wenn die FAZ mit ihm aufwarten muss, muss es um die Trümpfe der EU schlecht aussehen. Dass anlässlich von Trumps Europa-Reise die EU als „Gegner“ benannt wurde, ist nur die Beschreibung eines Fakts.

Führende Politiker Deutschlands haben nicht erst seit der Wahl von Trump die USA als Gegner und Kontrahent bezeichnet. Und alles andere wäre auch eine Lüge. Die EU ist einer von verschiedenen kapitalistischen Akteuren im weltweiten Konkurrenzkampf und hat den Nachteil, dass sie noch oder gerade jetzt mit internen Problemen zu kämpfen hat.

Zudem ist sie neben den USA, Russland und China einer der kleineren Player und hat daher auch besondere Orientierungsprobleme. Wie schlau ist es, sich neben den USA auch noch mit Russland anzulegen? Wie passt eine Anti-Russland-Rhetorik mit dem Interesse an billigen Gaslieferungen aus Russland zusammen?

Dabei geht es nicht um die vielstrapazierten europäischen Werte, sondern um wirtschaftliche Interessen. Darüber wird in den EU-Ländern heftig gestritten.

„Fight the Game, not the Players“

Wie die Fronten dabei in Deutschland verlaufen, konnte man am vergangenen Montag bei der Sendung Kontrovers im Deutschlandfunk beobachten, die den Titel Putin, Trump und der Westen – wie passt das zusammen?[10] trug.

Den Adepten der deutsch-europäischen Werte gab der Ex-Maoist Ralf Fücks[11], der die alte deutschnationale Strategie fortsetzt, Russland möglichst durch deutschfreundliche Satellitenstaaten einzukreisen.

Diese Osteuropastrategie des deutschen Imperialismus wurde schon früh von Teilen der deutschen Friedensbewegung und den frühen Grünen sowie völkischen Gruppen adaptiert, die seit Mitte der 1970er Jahre gegen das System von Jalta wetterten, um die auf der Niederlage des NS basierenden Nachkriegsordnung aufzulösen.

Der Wiederaufstieg Deutschlands war integraler Teil des Konzepts. Ralf Fücks ist nicht der einzige, der diese politischen Ziele in unterschiedlichen Gruppen, von der maoistischen Partei über die Grünen respektive ihrer Heinrich-Böll-Stiftung bis heute zum Zentrum Liberale Moderne[12] fortsetzte.

Als Gegenpool inszenierte sich in der Sendung der AFD-Politiker Petr Bystron[13], der für eine enge Kooperation zwischen Deutschland und Russland plädierte. Dann saß da noch mit dem Russland-Koordinator der Bundesregierung der SPD-Politiker Gernot Erler[14], der irgendwie den Gesprächsfaden mit Russland nicht abreißen, aber trotzdem dem „Putin-Regime“ die Grenzen zeigen will.

Die Gesprächsanordnung bildet ab, wie aktuell die innenpolitischen Debatten aussehen. Es geht um die Frage, ob die EU ihre innerkapitalistischen Konkurrenzkämpfe mit oder gegen Russland austragen soll. Erler ist dann die blasse Stimme des Sowohl-als-auch.

Wie in der gesellschaftlichen Realität, fehlte auch in der Deutschlandfunk-Debatte eine Stimme, die nicht die Player, sondern das gesamte Spiel kritisierte. Damit ist nicht gemeint, dass sich zu dem Trio noch eine Linksparteivertretung gesellen sollte, die anmerkt, ihre Partei habe schon historisch gute Kontakte zu Russland gefordert, als es die AfD noch gar nicht gab.

Putin, Trump, der Westen, das sind Erscheinungsebenen der weltweiten kapitalistischen Konkurrenzgesellschaft, so wie in den USA Trump, Clinton und der tiefe Staat bei allen gegenseitigen Animositäten Charaktermasken des zeitgemäßen Kapitalismus sind. Eine linke Position müsste hier mit der Kritik beginnen, nach dem Motto: „Fight the Game and not the Players.“

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Peter Nowak

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.theguardian.com/world/1953/jun/20/usa.fromthearchive
[2] https://www.welt.de/geschichte/article120399730/NSA-ueberwachte-Luther-King-und-Muhammad-Ali.html
[3] https://www.history.com/topics/black-panthers
[4] https://web.archive.org/web/20130113222024/http://www.icdc.com/~paulwolf/cointelpro/cointelsources.htm
[5] https://www.cicero.de/autoren/denison-andrew
[6] https://www.deutschlandfunk.de/politikwissenschaftler-zu-helsinki-gipfel-donald-trump-ist.694.de.html
[7] https://www.deutschlandfunk.de/politikwissenschaftler-zu-helsinki-gipfel-donald-trump-ist.694.de.html
[8] https://www.deutschlandfunk.de/politikwissenschaftler-zu-helsinki-gipfel-donald-trump-ist.694.de.html
[9] http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/warum-der-handel-mit-russland-europas-stabilitaet-gefaehrdet-15692271.html
[10] https://www.deutschlandfunk.de/kontrovers.1768.de.html
[11] https://www.boell.de/de/person/ralf-fuecks
[12] https://libmod.de/
[13] https://www.bundestag.de/abgeordnete/biografien/B/-/518846
[14] http://www.gernot-erler.de/cms/front_content.php

Härtefall durch Tod des Mieters weggefallen

Ein Urteil zeigt, welche mitunter tödliche Folgen Eigenbedarfskündigungen haben.

Eine erfolgreiche Buchautorin und Kreativdirektorin einer großen deutschen Werbeagentur kauft in Berlin-Mitte mehrere Wohnungen. Eine bewohnt sie, eine zweite in der Torstraße will sie zusätzlich zum Arbeiten nutzen. Nur wusste sie beim Kauf im Jahr 2013, dass dort der Begründer und langjährige Leiter des Dokumentationszentrums „Prora“ Jürgen Rostock bereits seit mehr als 2 Jahrzehnten inmitten seiner großen Bibliothek wohnt und dort seinen Lebensabend verbringen will. 2015 wird Jürgen Rostock mit dem Instrument der Eigenbedarfskündigung konfrontiert. Zwei Jahre später hatte er die  Klage verloren:

Die Eigentümerin lehnte daraufhin die Bitte des Seniors ab, die Frist für den Auszug um 12 Monate zu verlängern, damit er mehr Zeit hat, eine neue Wohnung zu finden. In ihrer Begründung wird viel über die Ideologie einer erfolgreichen Vertreterin der kreativen Klasse deutlich. Wer ihnen im Weg steht, muss weichen:
Es sei nicht ungewöhnlich, dass ältere Menschen ihre angestammte Umgebung verlassen müssten, um in eine altersgerechte Wohnung oder ein betreutes Wohnen umzuziehen. Dieses würde von diesen Menschen auch regelmäßig gemeistert, wobei der Beklagte auf hohem Niveau psychisch und intellektuell widerstandsfähig sei, begründet die Wohnungseigentümerin ihr Insistieren auf eine schnelle Räumung.

Katharina Rostock berichtete anschaulich, welche Folgen der drohende Verlust der Wohnung für ihren Vater hatte:
„Ich kann nicht behaupten zu wissen, dass sein plötzlicher Tod im März die Folge der Belastung durch den Rechtsstreit war. Ich kann aber mit Sicherheit sagen, dass der Rechtsstreit eine Belastung für ihn war und das ist für einen herzkranken Menschen sehr ungünstig“, beschreibt sie die letzten Wochen seines Lebens. J
ürgen Rostock starb Ende März 2018 im Alter von 81 Jahren. Seine Tochter führte am 17. Juli vor dem Berliner Landgericht den juristischen Kampf gegen die Kündigung als Erbin fort. Das Gericht  erklärte die Eigenbedarfskündigung  mit der Begründung für rechtmäßig, dass wegen des  Todes des Mieters kein Grund für einen Härtefall mehr gegeben sei. Wäre Jürgen Rostock nicht gestorben, hätte sich die Richterin den Fall noch mal genau angesehen und unter Umständen anders entschieden.

Keine ethischen Debatten im Gerichtssaal
Gleichzeitig  machte  die Richterin auch deutlich, dass sie ein hohes Alter durchaus nicht pauschal als Härtefall einstuft. Zudem sorgte sie beim Publikum für Erheiterung, als  sie die angeblich sozialen Mieter/innenrechte in Deutschland lobte. Der Fachanwalt für Mietrecht Christoph Müller wies als juristischer Vertreter von Katharina Rostock dagegen vor Gericht eindringlich auf die mitunter tödlichen Folgen der Eigenbedarfskündigungen hin. Nach kurzer Zeit beendete die Richterin den Disput mit der Bemerkung, ethische Diskussionen sollten vor dem Gerichtssaal fortgesetzt  werden. Dort sprach Christoph Müller auch die Verantwortung der Politik an. „In Frankreich verhindert seit 2016  ein Gesetz, dass Mieter/innen über 65 Jahre durch Eigenbedarfskündigungen ihre Wohnung verlieren. In Deutschland gibt es bisher keine solche Initiative, weil sich keine Partei mit der Immobilienwirtschaft anlegen will“. Die Wohnungseigentümerin lies über ihren juristischen Vertreter, den Medienanwalt Dominik Höch, erklären: „Ich teile Ihnen mit, dass unsere Mandantin überhaupt keine Stellungnahme abgeben wird. Sie wird auch keine Fragen beantworten.“ So kommt sie auch nicht in Verlegenheit, erklären zu müssen, wie ihr Verhalten mit einem Buch zusammenpasst, in dem sie das einfache Leben feiert und Verzichtstipps gibt.  Noch 2017 äußerte sie sich in einem Interview zu ihrem Buch fasziniert von den Tiny Houses und dem Leben auf 6,4 Quadratmeter. Das habe sie zu der Frage geführt, „wie viel Wohnraum man wirklich braucht“.  

http://www.bmgev.de/mieterecho/mieterecho-online/kein-haertefall-bei-tod.html
MieterEcho online 19.07.2018

Peter Nowak

Löwenzahn statt Wunderbaum

Eva Willig führt regelmäßig Interessierte durch die Grünanlangen von Berlin-Neukölln, um ihnen nützliche und leckere Pflanzen vorzustellen

In gebückter Haltung pflückt eine Teilnehmerin eine unscheinbare Pflanze und steckt sie in einen Stoffbeutel. Eine andere Frau blättert in einem Buch, um die Pflanze zu identifizieren. »Das ist der Schachtelhalm, eine der ältesten Heilpflanzen, die seit Langem zum Beispiel gegen Rheuma und Gicht angewendet wird«, erklärt Eva Willig. Die 70-Jährige kennt sich aus in der Berliner Kräuterwelt. Bei der Industrie- und Handelskammer absolvierte sie eine Prüfung und erhielt eine Erlaubnis für frei verkäufliche Heilmittel.

Seit mehr als zehn Jahren veranstaltet sie von März bis Oktober am jeweils letzten Samstag im Monat kostenlose Kräuterspaziergänge in Berlin. Sie finden überwiegend in Parks und Grünanlagen statt, die nicht direkt an viel befahrenen Hauptstraßen liegen, weil sich Staub und andere Verunreinigungen auch auf Pflanzen ablagern.

Ende Juni versammelten sich 15 Interessierte am S-Bahnhof Treptow. Größer sollte die Gruppe nicht werden, betont Willig. Schließlich muss die Kräuterexpertin in den zwei Stunden viele Fragen beantworten. Immer wieder zeigen die Teilnehmer*innen auf eine Pflanze und fragen nach Namen und Anwendungsgebieten. »Das Johanniskraut hilft gegen depressive Verstimmungen«, doziert Willig und weist auf eine Pflanze mit gelben Blüten. »Meistens ist es gut verträglich. Doch in Einzelfällen kann es Magen-Darm-Beschwerden oder Kopfschmerzen verursachen«, klärt sie über unerwünschte Nebenwirkungen auf. 

Dass Pflanzen nicht nur eine heilende, sondern auch eine giftige Wirkung haben können, thematisiert die Kräuterfrau ebenfalls in ihrem kürzlich im Selbstverlag veröffentlichten Buch »Heilsames Neukölln«. Dort hat sie den Giftpflanzen ein ganzes Kapitel gewidmet. Das lange Zeit als Heilpflanze betrachtete Immergrün und die Kleine Wolfsmilch gehören in diese Rubrik. Der in Willigs Kräuterbuch unter der Rubrik Giftpflanze aufgeführte Wunderbaum sorgte vor einigen Wochen für Schlagzeilen. Es wurde berichtet, dass ein Islamist die Samen dieses Strauches, auch Rizinus genannt, bei einem Anschlag nutzen wollte. Auf einer bekannten Neuköllner Grünfläche stehen laut Willig gleich acht dieser Pflanzen.

Doch die Mehrzahl der aufgeführten Gewächse hat eine heilende Wirkung und wird dem Buchtitel gerecht. Eigentlich hätte es auch »Heilsames Berlin« heißen können, Schließlich wachsen die aufgeführten Pflanzen nicht nur in Neukölln. Doch Willig hat sich mit dem Buch bewusst auf Neukölln konzentriert, weil sie dort seit vielen Jahren lebt und in den 1990er Jahren für die Grünen in der Kommunalpolitik aktiv war. Aus der aktiven Parteipolitik hat sie sich längst zurückgezogen. Doch in sozialen Initiativen ist sie weiterhin aktiv. Ihr Anliegen ist es, Giftpflanzen in Grünanlangen zu erkennen und sie möglichst von dort zu verbannen. Stattdessen sollen essbare und heilsame Gewächse stehen gelassen werden. Schließlich haben dann auch Menschen mit geringen Einkommen die Möglichkeit, ihre Nahrung vitaminreich zu ergänzen. Willig fällt sofort der Löwenzahn ein. Jeder Teil dieser anspruchslosen Pflanze kann genutzt werden: »Die Blüten können einen Salat zieren oder zu Sirup gekocht werden. Die Wurzel wurde in der Nachkriegszeit geröstet und zu Kaffee-Ersatz gemahlen.« Ähnlich verfuhr man mit der Wurzel der Wegwarte, auch als Zichorie bekannt. »Die jungen Blätter des Löwenzahns können zu Salat, die älteren Blätter wie Spinat verarbeitet werden. Getrocknete Blätter können Teil eines Blutreinigungstees sein oder ebenfalls als Tee zur Linderung rheumatischer Beschwerden beitragen«, so Willig. Auch bei vielen anderen Pflanzen kann sie vielfältige Möglichkeiten der Nutzung aufzählen.

Nach mehr als zwei Stunden verabschieden sich die Teilnehmer*innen des Kräuterspazierganges. Die meisten wollen die gesammelten Pflanzen schnell verarbeiten. Gänseblümchen waren diesmal besonders beliebt. Die anspruchslose Pflanze blüht zwischen März und November, wirkt entzündungshemmend, regt aber auch Verdauung und Stoffwechsel an. Ihre Blüten wurden mittlerweile von Feinschmecker*innen entdeckt und dienen in Nobelrestaurants als Zutat teurer Menüs. Eva Willig hingegen will mit ihren Kräuterspaziergängen und mit ihrem Buch ein Bewusstsein für eine alte Weisheit schaffen: Gegen fast jedes Leiden ist ein Kraut gewachsen ist. Selbst in einer Großstadt wie Berlin trifft das heute noch zu.

Eva Willig: Heilsames Neukölln. Eigenverlag Berlin. 175 Seiten, 18 Euro. Bestellungen über ewil@gmx.de

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1094669.loewenzahn-statt-wunderbaum.html

Peter Nowak

Polizeiknüppel in der Uni

In mehreren Bundesländern gehen Sicherheitsbehörden verstärkt gegen Studierende vor

Die Veranstaltungen zum 50. Jubiläum der 68er-Bewegung sind in vollem Gange. In vielen Städten berichten Zeitzeug*innen über die unterschiedlichen politischen Aktionen jener Zeit, auch und besonders an den Universitäten. Doch während politischer Ungehorsam von damals heute meist gefeiert wird, wächst an deutschen Hochschulen die staatliche Repression. Darauf hat der »freie zusammenschluss von student*innenschaften« (fzs) kürzlich hingewiesen.

Der unmittelbare Anlass für die Erklärung war die Räumung des von Studierenden besetzten Audimax an der Technischen Universität Berlin während des Streiks der studentischen Hilfskräfte Mitte Juni. Lange Zeit galt an Hochschulen das ungeschriebene Gesetz, dass politische Konflikte möglichst ohne das Einschalten der Polizei gelöst werden. Doch das gehört schon längst der Vergangenheit an. Bereits Ende Mai wurde während der Ringvorlesung »REM-Lektüre« in der Architektur-Fakultät der Technischen Universität eine Kritikerin des Immobilienentwicklers Christoph Gröner von Polizist*innen des Saals verwiesen.

Das Forum »Urban Research and Intervention«, in dem sich kritische Wissenschaftler*innen und Student*innen treffen, kritisierte den Polizeieinsatz in einem offenen Brief. »Wir bedauern, dass das Publikum die Eskalation der Veranstaltung mit dem Eingreifen der Polizei nicht verhindert hat.« Man sehe sich als Studierende besonders in der Verantwortung, »den universitären Raum vor unwissenschaftlichem und diskriminierendem Verhalten sowie dem Eingreifen der Polizei zu schützen«. Es brauche andere Wege, um offene Debatten zu gewährleisten, so der Brief.

Doch Staatsrepression gegen kritische Student*innen gibt es nach Einschätzung von Nathalia Schäfer vom fzs-Vorstand nicht nur in Berlin. Man könne sie in allen Bundesländern finden – unabhängig von der Zusammensetzung der Landesregierung. So versucht beispielsweise derzeit die Polizei im schwarz-grün regierten Baden-Württemberg, zwei Datenträger der Verfassten Studierendenschaft der Uni Freiburg zu entschlüsseln. Diese waren ihr im Zuge einer Razzia gegen die linke Internetplattform »Indymedia linksunten« in die Hände gefallen und enthalten die Daten aller 25 000 Studierenden der Universität – darunter sämtliche Personalabrechnungen mit Kontakten und Kontodaten seit 2013.
Die Datei hatte man wie üblich aus Sicherheitsgründen in einer Privatwohnung gelagert. Der Freiburger Asta kämpft seit der Beschlagnahme juristisch und politisch für die Rückgabe der Daten.
Im schwarz-grün regierten Hessen sorgt derweil ein massiver Polizeieinsatz vom April auf dem Gelände der Goethe-Universität in Frankfurt am Main bei Studierenden noch immer für Empörung. Damals waren rund 150 Polizist*innen ohne richterlichen Durchsuchungsbeschluss in das Studierendenhaus auf dem Universitätsgelände eingedrungen und hatten Computer beschlagnahmt. Alle Personen, die sich im Gebäude aufhielten, wurden befristet festgesetzt und durften erst nach einer Personalienkontrolle wieder gehen. Während der hessische CDU-Innenminister Peter Beuth den Polizeieinsatz gegen Kritik verteidigte, erklärte das hessische Amtsgericht diesen mittlerweile für rechtswidrig. Nathalia Schäfer vom fzs-Vorstand kritisierte auch die Verschärfung des hessischen Verfassungsschutzgesetzes, das eine umfassende Überprüfung von Mitarbeiter*innen von zivilgesellschaftlichen Organisationen vorsieht. Auch davon seien studentische Aktivist*innen betroffen.

Der fzs warnt ebenfalls vor dem Agieren der AfD in verschiedenen Landesparlamenten. So stellte die AfD in Baden-Württemberg und Thüringen gezielte Anfragen über autonome Referate und über die studentische Selbstverwaltung. In Thüringen wollte die AfD zudem wissen, welche politischen Veranstaltungen in den letzten Jahren von den studentischen Gremien ideell und finanziell unterstützt worden sind.

Auch in Frankreich, wo man das Jubiläum des 1968er Aufbruchs mit zahlreichen Veranstaltungen und Ausstellungen feiert, werden Kommiliton*innen, die sich aktuell gegen die Verschlechterung ihrer Studienbedingungen wehren, mit Repressionen überzogen. Mehrere Hochschulgebäude, die kurzzeitig besetzt waren, wurden von der Polizei geräumt. Verantwortlich dafür sind teilweise Politiker*innen, die 1968 aktiv in die Protestbewegung involviert waren.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1094582.polizeiknueppel-in-der-uni.html

Peter Nowak

Eigenbedarf bis nach dem Tod

Vor dem Landgericht Berlin wurde post mortem der Fall Jürgen Rostock verhandelt

»Der Härtefall ist durch den Tod des Mieters beseitigt worden«, ruft der Mieteraktivist Kurt Jotter spontan in den gut gefüllten Raum des Berliner Landgerichts. An diesem Dienstag hatte zuvor die Richterin eine Eigenbedarfskündigung einer Wohnungseigentümerin mit der Begründung für rechtmäßig erklärt, dass wegen des Todes des Mieters kein Grund für einen Härtefall mehr gegeben sei.

Betroffen von der Kündigung war der Begründer und langjährige Leiter des Dokumentationszentrums Prora, Jürgen Rostock. Bereits am 25. März dieses Jahres ist er im Alter von 81 Jahren verstorben. In den letzten Monaten seines Lebens musste er um seine Wohnung in der Torstraße in Mitte kämpfen, in der er mehr als 27 Jahren gelebt hatte. Er wollte dort inmitten seiner umfangreichen Bibliothek seinen Lebensabend verbringen.

Eine Autorin und Werberin hatte die Wohnung im Jahr 2013 erworben. Zwei Jahre später kündigte sie dem Senior wegen Eigenbedarf. »Seitdem plagte meinen Vater die Angst vor dem Verlust seiner Wohnung«, erklärt Katharina Rostock, die Tochter des Verstorbenen. Sie führte am Dienstag als Erbin vor dem Berliner Landgericht den letzen juristischen Kampf. Den Prozess um die Eigenbedarfskündigung hatte ihr Vater bereits 2017 in der ersten Instanz verloren. Daraufhin beantragte er eine Fristverlängerung für den Auszug, um mehr Zeit für die Wohnungssuche zu haben. Das lehnte die Klägerin ab.

Danach habe sich der Gesundheitszustand ihres Vaters rapide verschlechtert, berichtet Katharina Rostock. »Ich kann nicht behaupten zu wissen, dass sein plötzlicher Tod im März die Folge der Belastung durch den Rechtsstreit war. Ich kann aber mit Sicherheit sagen, dass der Rechtsstreit eine Belastung für ihn war, und das ist für einen herzkranken Menschen sehr ungünstig«, erklärte die in Sachsen lebende Heilpraktikerin nach dem Ende des Verfahrens. Trotz ihrer juristischen Niederlage bezeichnete sie es als positiv, dass die Richterin erklärt habe, hätte ihr Vater noch gelebt, hätte sie den Sachverhalt noch einmal geprüft und unter Umständen einen Härtefall anerkannt.
Die Mieter-Initiative Bizim Kiez hatte erfolgreich zu dem Verfahren mobilisiert, um auf die mitunter tödlichen Folgen einer Eigenbedarfskündigung aufmerksam zu machen. Die Zahl der Interessierten war so groß, dass eine zusätzliche Sitzbank in den Verhandlungssaal gebracht werden musste.

Der Anwalt für Mietrecht, Christoph Müller, weist als juristischer Vertreter von Katharina Rostock vor Gericht eindringlich auf die Belastungen hin, die Eigenbedarfskündigungen für die Mieter bedeuten. Nach etwa 15 Minuten beendet die Richterin den Disput mit der Bemerkung, ethische Diskussionen sollten vor dem Gerichtssaal weitergeführt werden. Dort spricht Christoph Müller auch die Verantwortung der Politik an. »In Frankreich verhindere seit 2016 ein Gesetz, dass Mieter über 65 Jahre durch Eigenbedarfskündigungen ihre Wohnung verlieren. In Deutschland gibt es bisher keine solche Initiative, weil sich keine Partei mit der Immobilienwirtschaft anlegen will.«

Das »neue deutschland« hat selbstverständlich auch die Wohnungsbesitzerin um eine Stellungnahme gebeten. In ihrem Auftrag antwortet stattdessen ein Medienrechtsanwalt. Er teilt mit, dass »unsere Mandantin überhaupt keine Stellungnahme abgeben wird. Sie wird auch keine Fragen beantworten«. Zudem weist der Anwalt darauf hin, dass sich seine Mandantin juristische Schritte vorbehalte, wenn ihre Anonymität nicht gewahrt werde.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1094624.wohnungsstreit-in-berlin-eigenbedarf-bis-nach-dem-tod.html

Peter Nowak