Oder: Das Elend des Rechtspositivismus. Bei den Auseinandersetzungen ging es am Wenigsten um die Rechte von Migranten. Ein Kommentar
Die Debatte um die Migration bleibt in Deutschland auch nach dem Paukenschlag von Seehofer uneindeutig. Ihm war es wichtig, im Verein mit rechten Regierungen in Österreich und Italien, auch Deutschland in der Migrationsfrage näher an die Visagrand-Staaten heranzuführen.
Dabei geht es nicht darum, dass in Deutschland bisher eine Willkommenskultur für Migranten herrscht, sondern um ein freundliches Gesicht bei der Flüchtlingsabwehr. Dazu gehört auch ein rechtliches Prozedere für Migranten, die es erst einmal nach Deutschland geschafft haben, wenn sie nur die entsprechenden Netzwerke zur Unterstützung hatten. Zu diesen gut Vernetzen gehörte auch Samir A. (häufig auch „Sami A[1].“ ), der in den Medien immer wieder als Leibwächter Bin Ladens firmiert, obwohl das nicht bewiesen und schon gar nicht juristisch bestätigt ist.
Sicher scheint, dass der tunesische Staatsbürger Samir A. als Student 1997 nach Deutschland gekommen ist und seit Ende der 1990er Jahre mehrmals in Pakistan gewesen war. Während er behauptet, eine religiöse Ausbildung gemacht zu haben, werfen ihm andere vor, zum Sicherheitsdienst von al-Qaida gehört zu haben. Die deutschen Behörden werfen ihm islamistische Aktivitäten vor und lehnen einen Asylantrag ab.
Mehrere Anklageversuche in Deutschland wurden mangels Beweisen eingestellt. Derweil konnte der Mann, der in Deutschland als salafistischer Prediger aktiv war, durch seine gute Vernetzung eine Abschiebung nach Tunesien immer wieder verhindern. Als die Boulevardmedien seinen Fall bekannt machten, erklärten sowohl Seehofer als auch Merkel, dass sie hier aktiv werden wollten.
Daher war seine Abschiebung nur noch eine Frage der Zeit. Es ist sehr wahrscheinlich, dass eine günstige Gelegenheit gesucht und gefunden wurde, als es gerade mal keine Gerichtsentscheidung gab, die eine Abschiebung verhinderte. Daran entzündet sich nun die Kritik von Gerichten, Medien und auch der Politik.
Dabei könnte man realpolitisch bei den tunesischen Verantwortlichen auf eine Vereinbarung drängen, dass Samir A. nicht gefoltert wird. Durch die Aufmerksamkeit, die der Fall gefunden hat, ist es sehr wahrscheinlich, dass er eine Vorzugsbehandlung bekommt, die Unbekannten versagt wird.
Wenn die Debatte um Samir A. etwas Positives hatte, dann ist es die verstärkte Aufmerksamkeit, die auch andere Abschiebungen der letzten Zeit bekommen haben. Dadurch konnte festgestellt werden, dass ein junger Afghane abgeschoben wurde, obwohl über seinen Asylantrag noch nicht beschieden wurde. Bei ihm ist die Forderung nach Rückführung völlig berechtigt.
Rechtsstaat versus Willkür?
Unter den Kritikern an der Abschiebung von Samir A. befinden sich auch Menschen, die eigentlich Anhänger eines strengen Grenzregimes sind, aber streng rechtstaatlich muss es sein. Dazu gehört Burkhardt Ewert von der Neuen Osnabrücker Zeitung, der im Deutschlandfunk kommentierte[2]:
Beide Seiten brechen das Recht: der Staat, wenn er vorschnell abschiebt. Die Flüchtlingshelfer, wenn sie Abschiebungen um jeden Preis verhindern wollen. Keiner ist dabei besser oder schlechter als der andere. Beide gefährden gleichermaßen die Substanz und Akzeptanz von Rechtsstaat und Demokratie.
Burkhardt Ewert, Deutschlandfunk
Der Kommentator vertritt im Anschluss sogar Positionen, die man sonst nur aus AfD-Kreisen hört, wenn er auch den Herbst 2015, als Merkel die Grenzen nicht vor den Migranten geschlossen hat, als Willkür bezeichnet.
Dafür gibt es einen Namen: Willkür. Sie ist zutiefst bedenklich, undemokratisch und gefährlich. Denn ein demokratischer Rechtsstaat, der seine Gesetze nicht anwendet, schadet seinen Grundfesten und damit sich selbst. Schon die Öffnung der Grenze für die massenhafte Einreise ohne Kontrolle und Registrierung von Flüchtlingen im Herbst 2015 war so ein Fall.
In der Europolitik, fast ist es derzeit vergessen, wurden Abkommen ebenfalls früh gebeugt, um nicht zu sagen gebrochen – Maastricht etwa, das Drei-Prozent-Kriterium. Dann also die Abschiebungen, die seit Jahren bestenfalls halbherzig und eigentlich gar nicht durchgesetzt wurden, obwohl die Rechtslage sie eindeutig vorsieht.
Burkhardt Ewert, Deutschlandfunk
Dabei ist im Fall von Samir A. die Aufregung wirklich unnötig. Es handelt sich bei ihm nicht um einen Geflüchteten, dem in Deutschland seine Rechte voranhalten werden. Er reiste privilegiert als Student in Deutschland ein und war dann im islamistischen Milieu aktiv.
Die tunesische Justiz ermittelt gegen ihn. Daraufhin stellte er in Deutschland einen Asylantrag, der abgelehnt wurde. Seit mehr als 10 Jahren versuchte das BAMF, ihn an Tunesien auszuweisen. Nun wurde er überstellt und muss sich dem Verfahren stellen. Es ist wirklich schwer einzusehen, was daran so skandalös sein soll?
Warum nicht auch Kritik an den Gerichten?
Wenn überhaupt, dann müsste man fragen, warum dieser Samir A. Privilegien hatte, von denen beispielsweise kurdische und türkische Linke nur träumen können. Samir A. konnte auch deshalb in Deutschland nicht der Prozess gemacht werden, weil die islamistischen Aktivitäten im Ausland verübt worden.
Nun gibt es in Deutschland den berüchtigten Paragraphen 129b, der genau dafür gemacht sein soll, um solche Aktivitäten auch in Deutschland zu sanktionieren. Linke aus der Türkei und Kurdistan werden nach diesem Paragraphen für an sich völlig legale Tätigkeiten wie das Sammeln von Spenden und das Organisieren von Konzerten zu teilweise langjährigen Haftstrafen verurteilt.
Es ist völlig richtig, die Abschaffung dieses Paragraphen zu fordern. Aber es ist auch zu fragen, warum es ausgerechnet gegen Islamisten wie Samir A. stumpf bleibt? Warum kann das Organisieren eines Grup Yorum-Konzerts nach dem Paragraph 129 b zu hohen Haftstrafen führen, nicht aber salafistische Aktivitäten?
Die Sache wird noch besonders brisant, wenn man weiß, dass Deutschland historisch immer wieder als „Schutzmacht des Islams“ aufgetreten ist, wie es der Historiker David Motadel[3] in seinen Buch „Für Prophet und Führer“[4] darlegt. Es ist schon eine Überlegung wert, sich zu fragen, ob die Unfähigkeit in Deutschland Islamisten wie Samir A. zur Verantwortung zu ziehen, an diesen historischen Gründen liegt.
„Schutzmacht für Islamisten“?
In den Prozessen gegen türkische und kurdische Linke jedenfalls gibt es eine gute Kooperation mit der türkischen Justiz, die auch nicht beeinträchtigt war, als die Türkei wegen Erdogans Deutschland-Schelte heftig in der Kritik stand.
Nachdem nun in der autoritären Republik der Ausnahmezustand überflüssig wurde, werden sich die Beziehungen normalisieren. Erste Schritte auf ökonomischem Gebiet sind schon gemacht worden. Tunesien ist heute allerdings nicht mit der autoritären Türkei zu vergleichen.
Es gab dort 2011 eine Revolution und daraus ist ein einigermaßen funktionierender bürgerlicher Staat geworden. Dafür wurden Vertreter des Landes – ein Dialogquartett – gar 2015 mit dem
Als Beispiel auf weltpolitischer Ebene kann der liberale Publizist Marko Martin gelten, der in der Jüdischen Allgemeinen[6] eine Eloge auf das jüngste Anti-Trump-Buch[7] der ehemaligen US-Außenministerin Madeleine Albright verfasst hat. Besonders hebt Martin hervor, dass die ehemalige US-Politikerin im Gegensatz zu Trump vehement für den Rechtsstaat eintrete: Er bringt ein Zitat von Albright:
Was eine Bewegung faschistisch macht, ist nicht die Ideologie, sondern die Bereitschaft, alles zu tun, was nötig ist – einschließlich Gewaltanwendung und der Missachtung der Rechte anderer -, um sich durchzusetzen und Gehorsam zu verschaffen.
Madeleine Albright
Dann kommentiert er:
Madeleine Albright weist darauf hin, dass – entgegen manch linker Interpretation – dies weniger mit fehlgeleitetem Patriotismus oder übersteigertem Nationalgefühl zu tun habe, als vielmehr mit einem genuinen Hass auf das Einhegende von Gesetzeswerken, welche die Bürger- und Menschenrechte schützen.
Marko Martin, Jüdische Allgemeine
Nun ist Albright keine Moralphilosophin, sondern eine langjährige aktive Politikerin, die den Krieg gegen Jugoslawien und das Embargo gegen den Irak unter Saddam-Hussein verteidigt und vorangetrieben hat. Dafür hat sie auch ausdrücklich[8] den Tod von Tausenden irakischen Kindern in Kauf genommen.
Das macht deutlich, dass die Verteidiger des Rechtsstaats nicht gegen Kriege, gegen Unterdrückung und Ausbeutung sind und durchaus den Tod von vielen Menschen in Kauf nehmen. Ihnen ist es nur wichtig, dass alles seinen formalen, also seinen rechtsstaatlichen Gang geht.
Das ist auch die Quintessenz des oben erwähnten Kommentars von Ewert, der die Herrschaft der Willkür überall da sieht, wo angeblich Entscheidungen ohne rechtsstaatliche Fundierung getroffen wurden. Gerichtsentscheidungen werden hier wie eine Monstranz herumgezeigt und gelten als quasi unangreifbar. Schon wer sie kritisiert, macht sich angreifbar. Ein solcher Rechtspositivismus verkennt, dass Recht von Menschen gemacht und veränderbar ist.
Das NSU-Urteil oder dieser Staat schützt uns nicht
Statt sich derart über Samir A. aufzuregen, hätte das NSU-Urteil (vgl. NSU: Nach dem Urteil ist vor der Aufklärung[9] eine viel stärkere Kritik verdient.
Dabei geht es nicht mal in erster Linie darum, dass mit Andre E. unter dem Beifall seiner Gesinnungsgenossen ein bekennender Neonazi mit einem besonders milden Urteil bedacht wurde. Vielmehr wurde im NSU-Urteil gegen alle Beweise die staatliche Version festgeschrieben, dass die NS-Terrorgruppe aus drei Personen bestand, von denen zwei nicht mehr leben. Verbindungen des NSU zu anderen Staatsapparaten wurden ignoriert.
Die Hoffnung der Angehörigen, dass das Verfahren mindestens einen Teil ihrer offenen Fragen beantwortet[10], wird ignoriert. Dieser Staat schützt uns nicht“, kommentierten[11] Bafta Sarbo[12] und Tahir Della von der Initiative Schwarzer Menschen in Deutschland[13] das Urteil.
Anders als für Islamisten war für sie Deutschland historisch nie Schutzmacht. Das gilt auch bis heute, wie die Debatte der letzten Tage gezeigt hat. Die Angehörigen der Opfer wurden mit ihrer Kritik am NSU-Urteil von einem Großteil der Öffentlichkeit ignoriert oder fallengelassen. Völlig falsch behandelt wurden sie schon vor der Selbstaufdeckung des NSU.
Sie forderten, im rechten Milieu zu ermitteln[14], während man sie und ihr Umfeld verdächtigte.
Und wenn das NSU-Urteil erst einmal rechtskräftig ist, werden sich die Kritiker noch den Vorwurf gefallen lassen müssen, sie würden eine rechtsstaatliche Entscheidung nicht anerkennen. Da wird eben die Funktion des Rechtspositivismus als das deutlich, was er im Kern ist. Er ist eine Schutzmacht des bürgerlichen Staates und seiner Gewalt.
Peter Nowak
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[2] https://www.deutschlandfunk.de/streit-um-abschiebungen-meinung-und-recht-zu-vermischen.720.de.html?dram:article_id=423483
[3] http://www.davidmotadel.com/
[4] https://www.klett-cotta.de/buch/Geschichte/Fuer_Prophet_und_Fuehrer/84719
[5] https://www.tagesspiegel.de/politik/friedensnobelpreis-2015-die-retter-tunesiens/12432738.html
[6] https://www.juedische-allgemeine.de/article/view/id/32237
[7] https://www.newyorker.com/news/news-desk/madeleine-albright-warns-of-a-new-fascism-and-trump
[8] https://www.youtube.com/watch?v=omnskeu-puE
[9] https://www.heise.de/tp/features/NSU-Nach-dem-Urteil-ist-vor-der-Aufklaerung-4108288.html
[10] http://www.nsu-tribunal.de/
[11] https://www.neues-deutschland.de/artikel/1094181.nsu-urteil-in-muenchen-dieser-staat-schuetzt-uns-nicht.html
[12] http://als-ich.iwspace.de/panellistinnen/bafta-sarbo/
[13] http://isdonline.de
[14] https://www.nsu-watch.info/2014/01/kein-10-opfer-kurzfilm-ueber-die-schweigemaersche-in-kassel-und-dortmund-im-maijuni-2006/