Energiearmut wird unterschätzt

Experte Oliver Wagner kritisiert fehlende Maßnahmen gegen Stromsperren

Oliver Wagner ist Projektleiter beim Wuppertal Institut für Klima , Umwelt, Energie und unter anderem Experte für kommunale Energiepolitik. Mit ihm sprach Peter Nowak über Energiearmut in Deutschland

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Mehr für den kleinen Geldbeutel

Ein Unternehmen wirbt mit regionaler Herstellung seiner Produkte und meint schlecht bezahlte Arbeit von Berliner GefängnisinsassInnen. Die Gefangenengewerkschaft fordert die Zahlung des Mindestlohns

Drucken, Falten, Nähen – das alles passiert in Berlin & Deutschland. Regionales Wirtschaften funktioniert einfach besser als miese Arbeitsbedingungen in Drittländern.“ So wirbt das Berliner Unternehmen Paprcuts für seine Produkte, etwa reißfeste Handyhüllen, Tabakbeutel und Portemonnaies. Hergestellt werden diese auch in Berliner Justizvollzuganstalten. Deshalb erhielt Paprcuts vergangene Woche Post von der Berliner Gruppe der Gefangenengewerkschaft/Bundesweite Organisation (GG/BO). Sie fordert den Mindestlohn für arbeitende Gefängnisinsassen und ihre Einbeziehung in die Rentenversicherung. „Wie euch durch eure Verträge mit der JVA Reinickendorf und Faktura bekannt ist, zahlt ihr den ArbeiterInnen aber nur 1–2 Euro die Stunde, also etwa 1/9 von dem, was arbeitende Menschen draußen er- halten“, heißt es in dem Schreiben. Zudem würden die Frauen in der JVA Reinickendorf über strenge Zeit- und Qualitätskontrollen bei der Arbeit klagen, berichtet Martina Franke von der Soligruppe der GG/BO der taz. Franke ärgert es besonders, dass Paprcuts die Arbeit in der JVA als soziales Projekt bewirbt. „Wir fordern das Unter- nehmen auf, zu erklären, warum es sich in der eigenen Werbung explizit gegen schlechte Arbeitsbedingungen in Drittländern wendet und dann einen Teil der Produkte in der JVA zu ebenso schlechten Bedingun- gen herstellen lässt.“ Schließlich seien Knäste ebenso wie Werkstätten für Menschen mit Behinderungen, in denen ebenfalls Produkte von Paprcuts hergestellt werden, „Billiglohnin- sein, in welchen auf Kosten der Beschäftigte Profite gemacht werden“, moniert Franke. Als positives Signal sieht sie, dass Paprcut sich zu Gesprächen bereit erklärt hat. Geschäftsführer Oliver Wagner äußerte sich über deren Erfolgsaussichten allerdings skeptisch. „Wir empfinden das Schreiben der GG/ BO als überaus konfrontativ und zweifeln an, dass hier ein konstruktiver Dialog möglich sein wird. Daher möchten wir uns ungern in das Zentrum dieses Dialogs stellen lassen und uns für die Forderungen von der Gefangenengewerkschaft öffentlich instrumentalisieren lassen“, so Wagner. Die Vergabe der Aufträge an die JVA bezeichnet er weiterhin als soziales Projekt. Franke sieht es als positiv an, dass Wagner von der JVA weitere Informationen über die Arbeitsbedingungen angefordert hat. Auf die Frage, ob nicht eher die JVA als die Gefangenen von einer Lohnerhöhung profitieren würde, gibt sich Franke kämpferisch. „Falls sich ein Unternehmen bereit erklärt, den Mindestlohn zu zahlen, und die JVA den Gefangenen trotzdem nur 1 bis 2 Euro Stundenlohn auszahlt, gehen wir an die Öffentlichkeit.“

aus: taz
24. juli 2018

Von Peter Nowak

Frieren für den Standort

Immer mehr Menschen können ihre Strom- oder Gasrechnung nicht bezahlen.Jährlich sperren die Versorgungsunternehmen Hunderttausenden die Strom- oder Gaszufuhr. Die Bundesregierung hat das Thema Energie­armut lange ignoriert, nun gibt es ein von der EU gefördertes Forschungs­projekt.

Sie waschen sich mit kaltem Wasser, haben kein Licht, keine Telefonverbindung und keinen Zugang zum Internet, können Nahrungsmittel nicht kühlen und den Herd nicht benutzen: Wenn die Versorgungsunternehmen armen Menschen wegen unbezahlter Rechnungen den Strom- oder Gaszugang abklemmen, hat das weitreichende Folgen. Der soziale Abstieg droht sich zu beschleunigen.

Nach Angaben der Bundesnetzagentur haben die Energieunternehmen 2014 insgesamt knapp 350 000 Unterbrechungen der Stromversorgung aufgrund von Zahlungsrückständen veranlasst. Doch bisher bekommt das Thema Energiearmut in Deutschland  nicht die Aufmerksamkeit, die es verdient. Das bestätigt die These des Sozialwissenschaftlers und langjährigen Erwerbslosenaktivisten Harald Rein: Arme Menschen haben in den politischen Parteien und oft auch in Großorganisationen wie Gewerkschaften kaum eine Lobby.

»Dass die Große Koalition das Thema Energiearmut angesichts Hunderttausender Stromsperren, Millionen von Sperrandrohungen und steigender Energiekosten für Menschen mit kleinem Geldbeutel seit Jahren als nicht bestehend und nicht dringlich abtut, ist unfassbar realitätsfern.« Lorenz Gösta Beutin, klima- und energiepolitischer Sprecher der Linkspartei im Bundestag

Viele machen eher die Armen für ihre Lage verantwortlich als die gesellschaftlichen Verhältnisse, die beispielsweise dafür sorgen, dass diese Menschen ohne Gas und Strom leben müssen. Oft scheuen sich die Betroffenen, öffentlich bekanntzumachen, dass sie ihre Rechnungen nicht bezahlen können.  

Nun hat sich die Europäische Kommission des Themas Energiearmut angenommen. Koordiniert von der Universität Manchester wurde für 40 Monate eine Europäische Beobachtungsstelle für Energiearmut (EPOV) eingerichtet. In Deutschland läuft das Projekt unter dem Dach des Wuppertaler Ins­tituts für Klima, Umwelt, Energie. Hauptziel der EPOV ist es, Informationen über das Ausmaß von Energiearmut in Europa zu sammeln. Ein Ziel sei auch die Bereitstellung einer nutzerfreundlichen und frei zugänglichen Plattform, die öffentliches Engagement gegen Energiearmut auf lo­kaler, nationaler und EU-Ebene fördern soll, betont Oliver Wagner, beim Wuppertal-Institut für EPOV verantwortlich, im Gespräch mit der Jungle World.

Allerdings ist die Homepage energypoverty.eu bisher nur in englischer Sprache online, was es vielen Betroffenen schwermacht, sie zu nutzten. Wagner bestätigt auch, dass die Bundesrepublik in Sachen Erforschung der Energiearmut im europäischen Vergleich Nachholbedarf hat: »Während man sich in anderen Ländern Europas intensiv mit dem Problem auseinandersetzt, scheint es in Deutschland bislang unterschätzt zu werden. Großbritannien macht seit 35 Jahren Forschung zu Energiearmut.« Auch in Italien, Österreich und Frankreich werde das Problem der Energiearmut intensiv diskutiert, es gebe Versuche, mit politischen Maßnahmen gegenzusteuern. In Deutschland hingegen fehlt bis heute eine amtliche Definition von Energiearmut.

Einem Spiegel-Artikel zufolge bremst die Bundesregierung weiterhin auf europäischer Ebene. Deutschland sei »gegen jedes Wording, das als Verpflichtung verstanden werden kann«, die Zahl der Haushalte in Energiearmut zu messen, heißt es in einer vertraulichen Korrespondenz, aus der der Spiegel zitiert. Einen entsprechenden Vorschlag, den das Präsidium des EU-Rats den Mitgliedstaaten vorgelegt hat, lehne die Bundesregierung strikt ab.

»In Deutschland traut man sich nicht einmal an Maßnahmen ran, die die Regierung nichts kosten würden«, kritisiert Wagner. So hatten CDU, CSU und SPD in der vorigen Legislatur­periode im Koalitionsvertrag noch vereinbart, eine gesetzliche Regelung zu schaffen, die Versorgungsunternehmen verpflichtet, vor einer Stromsperre den Kunden einen Vorkassezähler anzubieten. Eine Gesetzesinitiative ist daraus nicht geworden und im neuen Koalitionsvertrag steht dazu nichts mehr. Prepaid- oder Vorkassezähler funktionieren ähnlich wie beim Mo­biltelefon. Strom fließt nur dann, wenn ein Guthaben aufgeladen wurde. Oliver Wagner und sein Team haben im Rahmen von EPOC Menschen befragt, die einen solchen Zähler nutzten. Es gebe, berichtet Wagner, auch Kritik an den Vorkassezählern, so fehle bisher ein rechtlicher Rahmen, der die Verbraucher vor zu hohen Gebühren schützt.

Lorenz Gösta Beutin, der klima- und energiepolitische Sprecher der Linkspartei im Bundestag, kritisiert die Blockadehaltung der Bundesregierung scharf. »Dass die Große Koalition das Thema Energiearmut angesichts Hunderttausender Stromsperren, Millionen von Sperrandrohungen und steigender Energiekosten für Menschen mit kleinem Geldbeutel seit Jahren als nicht bestehend und nicht dringlich abtut, ist unfassbar realitätsfern. In Brüssel klammheimlich gegen die Sichtbarkeit und Abschaffung dieser real existierenden Misere zu schießen, zeigt, wie egal der Bundesregierung die monatlichen Sorgen der einfachen Leute sind, wenn es um die Begleichung der Stromrechnung geht«, moniert Beutin im Gespräch mit der Jungle World.

Relativ wenig Beachtung findet das Thema Energiearmut auch in den außerparlamentarischen sozialen Bewegungen. Hier gibt es im internationalen Vergleich ebenfalls Nachholbedarf. In Ländern wie Südafrika haben Nachbarschaftsinitiativen offensiv dafür geworben, dass vom Stromnetz abgeklemmte Menschen wieder angeschlossen werden. In Frankreich haben in der Basisgewerkschaft Sud organisierte Techniker erklärt, sie wären nicht bereit, Menschen Strom und Gas abzustellen, würden aber ihre Kenntnisse für den Wiederanschluss zur Verfügung stellen.

aus: Jungle World

https://jungle.world/index.php/artikel/2018/27/frieren-fuer-den-standort

Peter Nowak